Linder liest

Die Biker der Apokalypse

Unser Kolumnist blieb im Sommer in der Schweiz und dachte über die Bedeutung des Anthropozän nach.
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Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 08. September 2023

Jetzt sind wir endgültig am Ruder. In diesem Sommer haben Wissenschaftler ein neues Erdzeitalter ausgerufen. Das Anthropozän, benannt nach dem Menschen, der nun auch offiziell zur dominierenden Kraft auf dem Planeten wird. Ausgedient hat damit das Holozän, das seit der Eiszeit geherrscht hat. In der «Zeit» erinnert der Journalist Stefan Schmitt daran, dass der Begriff Holozän eigentlich schon das «ganz Neue» bedeutet. «Aber neuer geht ja immer», findet Schmitt. So stellt sich am Morgen des neuen Erdzeitalters die Frage: Wie lautet die Steigerungsform von «ganz neu»?

Es mutet auf eine traurige Weise ironisch an, dass just im Sommer seiner Amtseinsetzung dem Menschen die Konsequenzen seiner Herrschaft schmerzhaft unter die Nase gerieben werden: Hitzewellen in ganz Europa mit Temperaturen bis zu 48 Grad und verheerenden Waldbränden an touristischen Hot-Spots in Griechenland, Portugal oder Italien. Die Erde brennt, und der Mensch steht in Badehose fassungslos daneben oder läuft um sein Leben. Ist das die reale Bedeutung von Anthropozän? Der Mensch auf der Flucht vor den Auswirkungen seines Tuns? Ist also «apokalyptisch» die Steigerungsform von «ganz neu»?

«Daheim bleiben lohnt sich», versprach der «SonntagsBlick» in diesem Sommer. Und empfahl dem Leser gemütliche Ferien in der Heimat: «Nie ist es gechillter als in diesen ereignislosen Wochen. Man verpasst nichts und sieht niemanden.» Ausserdem spart man sich die völlig überteuerten Hotels und den entwürdigenden Kampf um freie Liegestühle am Strand. Alles hat seine guten Seiten, so auch der Weltuntergang. Die Apokalypse als Wohlfühloase. Home-Office wird zu Home-Living. Und Social Distancing wird von einer pandemischen Ausnahmesituation zum Dauerzustand. Nur dass wir jetzt keine Maske, sondern einen Helm tragen.

Wieso Helm? Natürlich bin auch ich dem Aufruf des «SonntagsBlicks» gefolgt und habe meinen Sommer in der Schweiz verbracht. Beim Wandern in Flumserberg stellte ich sofort fest, dass der «SonntagsBlick» richtiggelegen hatte. Keine Hitze, keine Waldbrände, keine Menschen. So geht Chillen 2.1. Beim Weitergehen bemerkte ich jedoch bald die vielen Mountainbiker, die entlang der Wanderstrecke auf einem eigens errichteten Parcours den Berg herunterschossen.

Ich sah Menschen jeden Alters. Und alle trugen Vollmontur: dreckverkrustete Trikots, Shorts und Handschuhe; schwere Helme und riesige Brillen, die ihre Gesichter unkenntlich machten. Sind das nicht die Biker der Apokalypse?, fragte ich mich. Da fahren sie und holen noch einmal das Letzte aus ihrem Tages-GA heraus. Wie selbst kleine Kinder den halsbrecherischen Kurs unerschrocken meisterten, hatte etwas Fatalistisches: Als blickten sie dem Ende tollkühn ins Auge. Fun und Vernichtung waren eins.

Man sollte nicht zu viel in ein Bild hineinlesen. Vor allem nicht in den Ferien. Doch stimmte mich der Anblick der vielen Mountainbiker melancholisch. Vielleicht weil er ein so passendes Sinnbild für den Menschen im Anthropozän war: Da sitzt er heroisch im Sattel, durchmisst die Natur und macht sie sich untertan. Gleichzeitig droht jederzeit ein Sturz, der Helikopter kreist am blauen Himmel und mit ihm die absurde Frage: Warum tust du das eigentlich?

Früher sind die Menschen dieselbe Strecke auf Skiern runtergefahren. Jetzt, wo es immer weniger Schnee gibt, satteln sie eben aufs Rad um. Ist das nicht unglaublich pfiffig und ein gutes Beispiel für schweizerischen Innovationsgeist? Andererseits: Bedeutet Innovation heutzutage einfach nur noch Anpassung an die Gegebenheiten? Man isst, was man eben noch essen kann. Man reist, wohin man eben noch reisen kann. Man lebt, wie man eben noch leben kann. Alles hat zwei Seiten, und was auf den ersten Blick als schonender Umgang mit den eigenen Ressourcen erscheint, kann auf den zweiten auch als Restepicken verstanden werden.

Vielleicht muss die Frage auch anders gestellt werden: Ist der Mensch im Anthropozän nur noch mit der Gestaltung seiner eigenen zwischenzeitlichen Rettung beschäftigt, oder hat er noch die Kraft für einen wirklich grossen Wurf? Und wäre dieses Zeitalter das ganz ganz Neue?

  • Die Evolution der Freundlichkeit

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