Linder liest

Die Alters­rekordlerin

Was die einst älteste Frau der Welt mit Vincent van Gogh und der Grossmutter unseres Kolumnisten zu tun hat.
Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 21. April 2023
Ich habe neulich etwas gelesen, das schon ein wenig älter war, doch das spielt keine Rolle, denn die Frau, um die es ging, war auch ein wenig älter, 122 Jahre, um genau zu sein, abgesehen davon, dass sie bereits tot war. Die Französin Jeanne Calment ist bis heute der älteste Mensch, der je gelebt hat. In den Medien wird sie auch als Altersrekordlerin bezeichnet, so als wäre das ihr Beruf gewesen.

Geboren wurde sie am 21. Februar 1875 in Arles. Ihr Vater war Schiffbauer. Sie war finanziell gut gestellt, musste nie arbeiten und konnte sich auf die wirklich wichtigen Dinge wie Klavierspielen und Fuchsjagd konzentrieren. Apropos Fuchsjagd: In Arles begegnete sie auch Vincent van Gogh, den sie als «sehr hässlich, schroff, unhöflich» beschrieb, was uns lehrt, dass ein schlechter Eindruck auch noch hundert Jahre später nachwirken kann. Mit 88 Jahren begrub Jeanne Calment ihren letzten Verwandten. Ich stelle mir vor, dass dies der Zeitpunkt war, als sie endgültig zur Altersrekordlerin mutierte. Sie trank jeden Tag ein Glas Portwein und rauchte eine ­Zigarette. Mit 110 kletterte sie noch auf einen Tisch, um das Wasser im Boiler mit einer Kerze aufzutauen. Am 4. August 1994 endete ihre Rekordjagd.

Die schöne Reportage, die Anja Jardine für die «NZZ» über Jeanne Calment geschrieben hatte, las ich kurz nach dem Tod meiner Grossmutter. Sie war mit 89 gestorben, ein Alter, in dem Jeanne Calment erst so richtig durchgestartet war. Lange jedoch war sie unter Kennern als künftige Rekordhalterin gehandelt worden. So war sie nach dem Tod ihres Mannes regelrecht aufgeblüht und hatte eine entfesselte Lebenslust entwickelt. Kein Kirchenkaffee, das sie ausgelassen hätte. Kein Pilates in der Turnhalle vom Oberstufenschulhaus am Mittwochabend. Und schon gar nicht die orgiastischen Gelage mit ihren Freundinnen vom Montagsclub im Café Dachs.

Routine ist wie ein Panzer, an dem sich der Tod die Zähne ausbeisst. Wenn man sich das Leben von Jeanne Calment anschaut, so scheint sie eben gerade deshalb so alt geworden zu sein, weil sie jeden Tag genau dasselbe tat. Konserviert in der eigenen Gewohnheit ist der Mensch schier unendlich haltbar. Man kennt das Prinzip von sauren Gurken.

Bei meiner Grossmutter hat die Pandemie dem fröhlichen Leben ein jähes Ende bereitet. Und ein Schlag­anfall band sie an den Rollstuhl, so dass sie nicht mehr länger zu Fuss zum Bahnhof laufen und dort den Zug in die Stadt nehmen konnte, um auf ihrer Bank ein Nötchen abzuheben, das sie einem ihrer finanzschwachen Enkel (und sie hatte nur solche) zustecken wollte. Dass es wirklich schlecht um sie stand, erkannten wir, als sie sich nicht mehr länger «Bares für Rares» ansehen wollte. Die Sendung war ihr täglicher Portwein gewesen, der die ­Sache am Laufen hielt. Plötzlich sassen wir in der Kirche und hörten die Pfarrerin Grossmutters Lebenslauf herunterrattern. Und ich sagte mir: Egal, wie lange ein Leben gedauert hat, am Ende lässt es sich immer in fünf Minuten und ein paar Allgemeinplätzen zusammenfassen.

«Erlöst», haben die Leute in ihren Trauerkarten ­geschrieben. Nun. Das hielt ich für stark übertrieben. Und ich dachte an etwas, das meine Mutter mir ein paar Tage zuvor am Telefon erzählt hatte und das nicht nur mit meiner Grossmutter, sondern auch mit Jeanne ­Calment und irgendwie auch mit Vincent van Gogh und allen Menschen dieser Erde zu tun hatte. Als Grossmutter bereits im Sterben lag, erinnerte sich meine Mutter an ein Gespräch, das sie im Alter von fünf Jahren mit ihr geführt hatte. Es ging um den Tod, den sie damals gerade entdeckt hatte. Sie habe unter Tränen gefragt, ob sie, ihre Mutter, denn auch einmal sterben müsse. «Ja», sagte Grossmutter, «aber bis es soweit ist, dauert es noch sehr, sehr lange.» Am Sterbebett erinnerte sich meine Mutter wieder an das Gespräch. Es sei ihr vorgekommen, als ob es gestern gewesen wäre.

  • In der Schwebe

    N° 3/2023

    CHF14.00 inkl. 2.6% MwSt.
    In den Warenkorb