Als im Oktober 2018 ein Rechtsextremist in Pittsburgh in einer Synagoge elf Menschen erschoss, fielen die USA in eine Schockstarre. Nie zuvor in der Geschichte des Landes hatte der Antisemitismus einen vergleichbaren Blutzoll gefordert. Wenige Wochen danach gab die international bekannte Antisemitismusforscherin Deborah Lipstadt ein Interview. Die Ereignisse in Pittsburgh hätten sie geschockt, aber nicht überrascht, sagt sie gegenüber einer israelischen Medienplattform. Wer ihr Buch Der neue Antisemitismus liest, das zu jener Zeit bereits im Druck war, dürfte ihr glauben.
Lipstadts neues Buch ist vor allem dies: ein Einblick in gesellschaftliche Strukturen der USA im 21. Jahrhundert, in denen ein Hass zutage tritt, der global und Jahrtausende alt ist und nun in neuem Kleid auftritt. Natürlich kann man gegenwärtig nicht über Antisemitismus reden, ohne Europa zu erwähnen. Die Übergriffe und Morde an Juden in Frankreich, die tödlichen Attentate auf jüdische Institutionen in Brüssel und Kopenhagen – aber auch eine Atmosphäre in Deutschland, in der es dem Präsidenten des Zentralrats der Juden ratsam scheint, vor dem Tragen jüdischer Symbole oder der Kippa in gewissen Quartieren zu warnen, zeugen von Judenhass. Nicht zuletzt behandelt das Buch auch die Rhetorik des britischen LabourChefs Jeremy Corbyn und seiner Getreuen, die mit dem Antisemitismus zumindest flirten.
Der überwiegende Teil des Buches beschäftigt sich aber mit Amerika. Wie Lipstadt aufzeigt, findet derselbe Hass dort andere Ausdrucksformen als in Europa. Das gilt zunächst für den rechten Antisemitismus, der in den USA eng mit der «White Supremacy» verbunden ist. Diese rassistische Bewegung verunglimpft anders als viele Rechte in Europa nebst den Juden nicht primär Muslime oder Migranten, sondern Afroamerikaner. Die Autorin wirft Präsident Trump vor, sich von dieser ihm gewogenen Klientel nicht zu distanzieren und somit ihrer Hetze, die sich auch in Gewalttaten entladen kann, zur Salonfähigkeit zu verhelfen.
Doch auch im Protest gegen Trump nimmt Lipstadt problematische Tendenzen wahr. So weist sie darauf hin, dass führende Vertreterinnen des «Women’s March», der weiblichen Protestbewegung, eine offene Nähe zu Louis Farrakhan, dem notorisch antisemitischen Anführer der Bewegung «Nation of Islam», pflegen. Auch die LGBTI-Bewegung, die für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transmenschen kämpft, stellt sich zunehmend gegen alles mit dem «Zionismus» Verbundene. So wird Israels beträchtliche – und im Nahen Osten beispiellose – Toleranz in Genderfragen als «pinkwashing» verschrien, das von der Besetzung Palästinas ablenken solle.
Eine andere, im Buch breit diskutierte Erscheinungsform des Antizionismus ist jene, die an amerikanischen Universitäten immer mehr den Diskurs bestimmt. Hier weist Lipstadt nach, dass eine teils militante und einschüchternde Bewegung unter Studierenden und Dozierenden in den vermeintlichen Zentren des freien Denkens zunehmend totalitäre und ausgrenzende Strukturen schafft. Diese Kreise nähmen für sich in Anspruch, die Alleinvertretung für die Unterdrückten auf dem Campus und in der Welt zu besitzen. Wer sich zu Sympathie mit Israel bekennt, nimmt mancherorts soziale Ächtung in Kauf. Lipstadt rügt aber ebenso jene jüdischen Gruppen und Funktionäre, die hier simplen Gegendruck aufbauen wollen. Vielmehr wünscht sie sich eine offene Debatte, um jene Teile der Gesellschaft zu gewinnen, die grundsätzlich offen und gegen jegliche Form von Antisemitismus seien.
Obwohl Lipstadt vor Resignation warnt und auch positive Beispiele nennt, in denen Menschen gegen Antisemitismus aufgestanden sind, macht ihr Buch nachdenklich. Am Ende der Lektüre überrascht das Attentat in Pittsburgh tatsächlich nicht mehr.
Deborah Lipstadt: Der neue Antisemitismus. Berlin-Verlag, München 2018; 304 Seiten; 35.90 Franken.
Alfred Bodenheimer ist Literaturwissenschaftler, Autor und Professor für jüdische Literatur- und Religionsgeschichte in Basel.