Manchmal sind die Strahlen eines gelben Lidl-Schilds tröstlicher als die der Sonne. Zumindest auf Lesbos. Dort fasziniert der Supermarkt, ein Betonklotz in einer staubigen, kahlen Landschaft, Flüchtlinge mit seinen Coca-Cola-Flaschen, Filz-Hausschuhen und Glitzerrosen. Er ist für die Menschen, die auf die Weiterreise warten, ein Zeichen aus Europa – aus dem sicheren Konsum-Europa, nach dem sie sich sehnen. Das erzählt Helge-Ulrike Hyams in ihrem Buch « Denk ich an Moria ».
Zehn Monate verbrachte die ausgebildete Psychoanalytikerin auf der Insel im ägäischen Meer, um im Flüchtlingslager Moria zu helfen. Es ist eine Zeit, in der gleichzeitig zu viel und zu wenig passiert, in der ein heisser Sommer auf einen eisigen Winter folgt, Journalisten, Schriftstellerinnen und Politiker durchs Lager spazieren, Hoffnungen geschürt und zunichte gemacht werden, in der eine Pandemie und schliesslich ein Feuer ausbricht.
Die Autorin greift aus diesen ereignisreichen Monaten Details wie die verheissungsvolle Discounter-Filiale heraus und reiht sie an Kapitel über einsame junge Männer, über Suizid oder über das Meer. Diese Fragmente erzählen lückenhaft vom Leben und von dem Wahnsinn, der sich im Mittelmeer abspielt, und machen das Buch durch Hyams genauen Blick und empathische Reflexionen zu einer starken, persönlichen Collage.
Denn so viel wurde in den letzten Jahren über diesen zum Elend verdammten Ort geschrieben, über diese « Schande Europas», wie der Soziologe Jean Ziegler Moria in seinem Buch nannte. In dem für etwa 2000 Flüchtlinge angelegten Lager lebten zeitweilig 20 000 Menschen, im September 2020 brannte es ab. Auf die Insel kamen ausser den Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Experten auch freiwillige Helfer, die Volunteers, wie die Autorin Helge-Ulrike Hyams. Mit der Schweizer NGO « One Happy Family » reiste die 77jährige auf die griechische Insel, um zu helfen, wenngleich sie zu Beginn das Dilemma aller Freiwilligen erwähnt: « Wir teilten Hunderte Mahlzeiten aus, und Tausende Menschen hatten weiter Hunger. »
Trotz allem Leid, das sie sieht, trotz leeren Blicken, trotz Fluten aus Fäkalien, durch die Kinder barfuss waten, trotz dem Feuer, das verzweifelte Jugendliche legten und das am Ende das Lager niederbrannte, entgeht Hyams weitgehend dem vereinfachendem Pathos ; ihr Bericht ist keine Betroffenheitsprosa. Wenn auch an einigen Stellen sprachlich ungenau (wenn sie etwa ihren überwältigten Zustand nach den ersten Tagen im Lager als « wie unter Drogen » beschreibt), erstarrt sie nicht vor dem Elend, sondern schafft eine Gesamtschau der Inselrealität samt ihren Konflikten, die sich sowohl zwischen den Menschen wie auch im Inneren jedes Einzelnen abspielen.
Ihr Blick reicht von den teuren Trinkflaschen der Volunteers über griechische Busfahrer mit und ohne Humor bis zu zunächst friedlichen, dann wütenden Olivenbauern, zwischen deren Hainen Flüchtlinge erst campieren, dann aber die geliebten Bäume ansägen. Sie sieht afghanische Frauen, die Häkelnadeln aus dem Camp der Helfer klauen, und sie sieht die Scham, mit der ihre Ehemänner sie zurückbringen. Sie sieht die Sehnsucht syrischer junger Männer, die zwischen verhüllten Mädchen aus ihrer Heimat und den emanzipierten, kurzhaarigen Volunteers stehen und nicht mehr wissen, welches Frauenbild das richtige ist.
Und sie behält auch den klaren Blick für ihr eigenes Umfeld, die Individualisten von den NGO, deren Arbeit sie weder romantisiert noch verurteilt. Das einzige scharfe Urteil der Autorin gilt der Politik, die in den vergangenen Jahren schwere Fehler beging : « Moria brannte, weil das Leben der Lagerbewohner in eine Sackgasse geraten war, die symbolisch für die gesamte Flüchtlingspolitik steht. »
An diesem heftig diskutierten Ort mit all seinen Fronten sammelt Hyams in « Denk ich an Moria » Gedanken, die wundernd zwischen Menschen, Meer und Müll wandern. Meist stösst sie dabei auf traurige, ernste, verzweifelte Geschichten. Und doch zeigt sie, wie sich selbst an diesem Ort die zähesten Tage plötzlich im Schein einer Lidl-Filiale erhellen können.
Helge-Ulrike Hyams: «Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos». Berenberg, Berlin 2021; 160 Seiten; 22.50 Franken.
Marlene Knobloch ist Journalistin bei der «Süddeutschen Zeitung»