Aus der Herzkammer

Demut

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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 04. Oktober 2019

Im Dienst mit einer 23jährigen Medizinstudentin, die sehr schnell und tough und fachlich kompetent ist und auch sehr frech, was ich gut finde, denn sie wird künftig frech sein müssen, um in unserem Métier überleben zu können.

43jähriger chronischer Rückenschmerzpatient mit einer akuten Zuspitzung. Ich ordne eine Schmerzinfusion an.

Die Studentin hängt ihm diese Infusion an, und er kann ein wenig schlafen.

Nach einer Stunde frag’ ich ihn, wie’s ihm geht und wie wir weitertun sollen. Er schaut mich mit glasigen, verklebten Augen an, verkrümmt und abgemagert, wie er da vor mir auf der Liege liegt, und flüstert: «Es ist ein bisschen besser, danke! Aber ich will nicht nach Hause, ich schaff’ das nicht mehr …»

Ich rufe also den Krankentransport, um ihn einzuliefern, und verfasse einen Arztbrief, der so professionell wie nötig und dennoch so appellativ-flehend-bettelnd wie möglich ist, um eine stationäre Schmerztherapie zu erwirken, aber gleichzeitig weiss ich, dass er abgewiesen werden wird, zurückgeschickt in seinen Favoritner Gemeindebau, in sein dunkles Kammerl, um sich dort weiter zu krümmen, um sich dort weiter zu fretten, bis er den nächsten verzweifelten Versuch starten wird, sich helfen zu lassen.

Die Studentin kommt einige Minuten später zu mir und sagt: «Die Rettung für Herrn S. ist da!»

Ich: «Okay, danke … Es wird eh nix bringen, die werden ihn heimschicken, ich weiss es. Aber ich weiss nicht, was ich sonst tun soll …»

«… Naja, aber er ist schon auch sehr wehleidig. Der hat ja schon aufgeschrien, als ich ihm die Infusion gelegt habe. Der macht schon auch ordentlich Drama!»

Ich schau’ sie an und ich erinnere mich an meine Studentenzeit und daran, wie vermeintlich «klar» und «eindeutig» damals alles für mich schien.

«Hattest du schon mal unerträgliche Schmerzen?»

«Ähm … naja, der akute Blinddarm war ein Horror, ja. Da dachte ich, ich sterbe.»

«Aber du bist gottseidank nicht gestorben, und du hast den Schmerz irgendwie ausgehalten.»

«Ja, irgendwie hält man eh alles aus.»

«Ich hatte einmal eine Lebensmittelvergiftung auf einen verdorbenen Oktopus, und diese Bauchschmerzen waren für mich das Schlimmste, was ich je erlebt habe.

Ich dachte ich sterbe. Ich dachte, ich halte das nicht aus. Ich habe auch stundenlang vor mich hingejammert: ‹Ich halt’ das nicht aus, ich halt’ das nicht aus, ich halt das nicht aus!› Nach zwei Stunden waren die Schmerzen weg. So ähnlich müssen deine Schmerzen beim Blinddarm gewesen sein, bevor du operiert wurdest. Entsetzliche Schmerzen, aber du hast sie irgendwie ausgehalten, und ich habe meine Schmerzen auch irgendwie ausgehalten. Herr S. hat seit fünf Jahren solche Schmerzen. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Er denkt sich seit fünf Jahren, dass er das alles nicht mehr aushält, und will nur noch, dass dieser Schmerz aufhört. Doch niemand, absolut niemand auf dieser Welt konnte ihm bislang helfen, konnte ihm seine Schmerzen bislang nehmen.

Vielleicht macht ihn das beizeiten zur Dramaqueen, vielleicht macht ihn das beizeiten mühsam und nervtötend, aber ich glaube, dass wir beide, du und ich, keine Ahnung haben, was es bedeutet, fünf Jahre lang schier unerträgliche Schmerzen zu haben. Du bist eine tolle Medizinerin und ich weiss, dass du diesen Beruf sehr gut machen wirst, aber wenn ich dir etwas sagen darf, das mir in deinem Alter leider niemand gesagt hat: Ein bisschen Demut vor dem Leid unserer Patienten und Patientinnen können die Leute schon von uns erwarten. Ein bisschen Demut! Das steht ihnen zu, und das macht es auch uns leichter, mit dieser erbarmungslosen Natur umzugehen, die uns täglich herausfordert …»

  • N° 17/2019

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