Dem Historiker Tom Segev ist mit David Ben Gurion ein vielschichtiges und differenziertes Portrait des Staatsgründers Israels gelungen. Die 800 Seiten starke Biografie tritt dabei in Distanz zum oftmals verklärten Ben Gurion, was Segev einen neuen und aufschlussreichen Blick auf die Gründerzeit und die weitere Geschichte Israels ermöglicht.
Israels Premierminister Benjamin Netanyahu und seine Frau sorgen mit ihrem aufwändigen, zuweilen fragwürdig finanzierten Lebensstil für Schlagzeilen. Viele Israeli sehen in Staatsgründer David Ben Gurion (1886–1973), der lange Jahre in einer bescheidenen Hütte in der Negev-Wüste lebte, ein historisches Gegenmodell. Seine Wohnstätte ist heute ein vielbesuchtes Museum. Doch Ben Gurion steht nicht nur für Bescheidenheit, er steht auch für ein Israel, das nach seiner Gründung 1948 aus einer prekären Situation herausfand und sich als aufstrebende Demokratie etablierte. Sein Amt als Staatsführer gab er vor dem Sechstagekrieg ab. Mit der später einsetzenden Besatzungspolitik hatte er ebenso wenig zu tun wie mit der erst nach seinem Tod intensivierten Besiedlung der besetzten Gebiete.
Nun legt der Historiker Tom Segev eine Biografie Ben Gurions vor, die die Verklärung hinterfragt. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn Segev ist bekannt für seine selbstkritische Sicht auf Israel. Um die übermächtige Figur Ben Gurion als Persönlichkeit mit Widersprüchen hervortreten zu lassen, bedient er sich der klassischen biografischen Herangehensweise. Aus den frühen Lebensjahren von Ben Gurion, der als David Grün im polnischen, damals zum russischen Reich gehörenden Plonsk geboren wurde, arbeitet er jene Erfahrungen heraus, die sein politisches Wirken und sein persönliches Leben zeitlebens bestimmen sollten. Da ist etwa der frühe Verlust der Mutter, der, wie Segev meint, eine gewisse Beziehungsstörung verursachte. Dieses Erlebnis begründete seine spätere Unzulänglichkeit als Ehemann und Vater ebenso wie seine zahlreichen Affären. Ebenso zu beachten, so Segev, sei auch die Tatsache, dass Ben Gurion nie einen akademischen Abschluss erlangte – sein grosses Wissen eignete er sich selbständig an. So entwickelte er sich zu einem unsystematischen und oft eigensinnigen Denker. Gleichzeitig empfand er gegenüber besser Ausgebildeten einen Komplex, was ihn umso starrer an seinen eigenen Theorien festhalten liess.
Dies, so Segev, hatte Folgen für sein politisches Handeln: Von früher Jugend an Zionist, kam Ben Gurion mit zwanzig Jahren nach Palästina. Hier gelangte er zur Überzeugung, dass eine jüdische Autonomie nur auf Kosten der dort lebenden Araber errungen werden konnte. Die Vorstellung, einen Staat nur mit dem Schwert in der Hand aufbauen und erhalten zu können, bezeichnet Segev als verhängnisvoll. Denn sie versperrte Ben Gurion gewisse Handlungsspielräume und schuf historische Fakten, die den Staat Israel bis heute prägen. Ebenso hält Segev Ben Gurion vor, mögliche Rettungsaktionen für verfolgte Juden im Holocaust unterlassen zu haben.
Segev geht es aber keineswegs um eine Generalabrechnung mit dieser Ikone des Zionismus. So hebt er Ben Gurions Abscheu vor jeder Form von Rassismus hervor. Dennoch ging der Orientalismus seiner Zeit an Ben Gurion nicht spurlos vorüber – die «Rückständigkeit» der Araber hielt er für ebenso gegeben wie jene der Juden aus arabischen Ländern. Insgesamt präsentiert die Biografie, nicht zuletzt aufgrund der immensen Menge an Dokumenten, die Segev darin verarbeitet hat, ein faszinierendes Bild dieser komplexen Persönlichkeit und ihrer Zeit – auch wenn die oft negative Färbung der Charakterzüge des Protagonisten zuweilen diskutabel erscheint. Jenseits eines Portraits der Person David Ben Gurion formuliert Segev aber auch eine wichtige These: Der Staat Israel sei keine Folge des Holocausts, er wäre aufgrund der Überdehnung des britischen Kolonialreiches früher oder später ohnehin entstanden. Im Gegenteil bedeutete die Auslöschung gerade jener Gemeinden, die als Zielgemeinschaft des Zionismus galten, eine entscheidende Schwächung des zionistischen Projekts. Die meist schwer traumatisierten Überlebenden, die ins Land kamen, konnten die Idee Israel nicht in ihrer ganzen Kraft umsetzen. Ben Gurion selbst zumindest war der Meinung, dass diejenigen, für die er diesen Staat einst erkämpfen wollte, bei seiner Gründung gar nicht mehr existierten.
Tom Segev: David Ben Gurion: Ein Staat um jeden Preis. Siedler, München 2018; 800 Seiten; 49 Franken.