Aus der Herzkammer

Das Kopftuch

Die Grosscousine kommt zu Besuch – und überrascht die Familie mit ihrer Kleidung.
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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 11. November 2022

Vor einigen Jahren habe ich für eine Grosscousine aus dem Iran eine Einladung bei der Polizei beantragt. Iranerinnen und Iraner brauchen für ein österreich­i­sches Touristenvisum eine offizielle und bei der Bundespolizei registrierte Einladung durch einen österreichischen Staatsbürger. Und da alle meine Onkel, Tanten und mein Vater bereits ihr Maximum an Einladungen für andere persische Familienmitglieder ausgesprochen hatten, trat sie an mich heran.

Diese Einladungssache dient der Absicherung der Republik Österreich vor allfälligen Schadensfällen. Falls sich meine Grosscousine hierorts in diebische, verbreche­rische oder terroristische Machenschaften verwickeln würde, könnte der Staat Österreich mich so zur Verantwortung und zum Schadensersatz heranziehen.

Der langen Rede kurzer Sinn: Sie kommt mit der Iran Air in Wien an und trägt ein Kopftuch. Mein Vater um­armt sie und lacht: «Du kannst das Kopftuch jetzt abnehmen! Du bist in Wien! Hier musst du kein Kopftuch tragen!»

Sie antwortet: «Das weiss ich. Ich trage es nicht, weil ich muss, sondern weil ich will!»

Meine Grosscousine hatte einige Jahre davor ihren Ehemann und Vater ihrer zwei Kinder durch einen Autounfall verloren. Sie war bis zu diesem Verlust keine gläubige Muslima gewe­sen, doch nach diesem Schicksalsschlag hatte sie in der Religion ihren Trost gefunden. Ihre Befreiung aus dem Schmerz.

Einige Wochen danach ruft mich mein Vater an, nachdem meine Mutter, meine Grosscousine und er von einem Urlaub in Kroatien zurückgekehrt waren:
«Salám Bábá! Residan bekheyr!» («Hallo Papa, schön, dass ihr wieder gut zurückgekommen seid.»)

«Wenn dich diese Frau noch einmal um eine Einladung bittet, dann lehn es ab! Verstehst du mich? Lad sie nie wieder ein!»

Ich: «Was ist denn passiert?»

Vater: «Was heisst, was ist passiert? Das hast du doch selbst gesehen. Diese Verrückte rennt hier mit Kopftuch herum!»

Ich: «Ja. Na und?»

Vater: «Was na und? Ábe ruh rizi shod! (‹Ich verliere mein Gesicht!›) Die St. Pöltner starren deine Mutter und mich an, als ob wir Dschihadisten wären, wenn wir mit dieser Ver­rückten unterwegs sind. Mein Ruf in dieser Stadt ist ruiniert!»

Ich: «Also bitte! Sie ist doch nicht die erste Frau, die in St. Pölten ein Kopftuch trägt.»

Mutter (aus dem Hintergrund): «Was hast du denn für einen Ruf in St. Pölten?»

Ich: «Kein Mensch hält dich für einen Dschihadisten, Papa.»

Vater: «In Dubrovnik ist sie in einem Neoprenanzug ins Wasser gegangen! Ich hab’ sie gefragt: ‹Mage hasásiat ze’de áb dari?› (‹Hast du denn eine Wasserallergie?›). Anstatt froh zu sein, dass sie endlich in einem freien Land ist, anstatt dankbar zu sein, dass ich sie an diesen wunderschönen Strand bringe, zieht sie sich ein Frosch­kostüm an und blamiert mich. Nie wieder kommt die in mein Haus. Nie wieder!»

Mutter: «Du bist wirklich un­möglich! Es stört doch niemanden, dass sie ein Kopftuch trägt. Warum regt dich das so auf?»

Vater: «Dieser depperte Islam hat alles kaputtgemacht. Vatanemunro az dast dádim vásse in Eslám! (‹Wir haben unsere Heimat an diesen Islam verloren!›) Und jetzt kommt sie hierher und blamiert mich in der Öffentlichkeit!»

Mutter: «Schau, Khashi, sie ist deine Cousine. Und sie hat halt ihren Glauben, aber sie tut doch niemandem was. Und nur weil sie ein gläubiger Mensch ist, heisst das nicht, dass sie dieses Regime gut findet. Sie hat sich bei mir sehr lange und wirklich sehr herzzerreissend über die Missstände in Persien ausgesprochen, und wie sehr sie sich Sorgen macht um die Zukunft ihrer Kinder. Sei nicht so ungerecht und so aufbrausend, Khashi, bitte …»

Vater (etwas ruhiger): «Na gut, Ramin, also, von mir aus kannst du sie wieder einladen, aber sag ihr, dass sie kein Kopftuch mehr tragen soll!»

Ich: «Das kann ich nicht von ihr verlangen, Papa!»

Vater: «Ey dáde bidád! (‹Ach Gott, ich versteh die Welt nicht mehr!›). Dann macht, was ihr wollt! Ist eh alles wurscht …»

Ich verstand meinen Vater und ich verstand meine Grosscousine. Für meinen Vater war der Hijab der Inbegriff der Unterdrückung. Für meine Grosscousine war der Hijab der Inbegriff der Befreiung. Und ich hoffe, dass es bald die Freiheit für jede einzelne Perserin und jeden einzelnen Perser geben wird, sich frei und selbstbestimmt zu kleiden. Oder sich nicht zu kleiden. Je nachdem. Inshallah.

  • Nº 10/2022

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