Als diesen September die Emmy-Awards verliehen wurden, überstrahlte eine Produktion alle anderen: The Handmaid’s Tale. Die Miniserie basiert auf einem Buch von Margaret Atwood aus dem Jahr 1985 und spielt in einem totalitären Nordamerika der nahen Zukunft. Umweltschäden haben die meisten Menschen unfruchtbar gemacht. Die wenigen Frauen, die noch Kinder bekommen können, werden als Sexsklavinnen, als «Gebärmütter auf zwei Beinen» an die Herrschenden verkauft. Ein Grund für den Erfolg des Stoffes dürfte sein, dass er vielen wie eine sich erfüllende Prophezeiung erscheint – in Zeiten, in denen der mächtigste Mann der Welt gerne Frauen zwischen die Beine fasst, während er gleichzeitig mit Hilfe religiöser Kreise Antiabtreibungspolitik betreibt.
Fast zeitgleich mit der Serie erschien im deutschsprachigen Raum Margaret Atwoods neustes Werk. Es basiert auf ganz ähnlichen Prämissen wie The Handmaid’s Tale: In der Anlage dystopisch, beleuchtet es Abgründe menschlicher Sexualität und hinterfragt aktuelle Geschlechterrollen. Doch leider entfaltet es nicht die gleiche Wirkung wie der preisgekrönte Roman von 1985.
In dieser Geschichte hat eine ungeheure Finanzkrise den Grossteil der Menschen mittellos gemacht und zu einem Leben auf der Strasse verdammt. Auch Stan und Charmaine leben in ihrem Auto, müssen Abend für Abend irgendwo anders parken, um den herumstromernden Dieben und gewalttätigen Gangs zu entkommen. Bis Charmaine einen Werbespot für das Positron-Projekt sieht und ihren Mann davon überzeugt, sich dafür zu bewerben. Wer aufgenommen wird, darf in die hermetisch abgeriegelte Stadt Consilience ziehen, in ein hübsches Haus mit Blümchenbettwäsche und getrimmtem Rasen. Geniessen können die Bewohner diese Vorstadt-Idylle allerdings nur jeden zweiten Monat. Den Rest der Zeit verbringen sie in Positron, einem Gefängnis innerhalb der Stadt, wo sie für das Gemeinwohl arbeiten. In diesen Monaten bewohnen ihre Tauschpartner die jeweiligen Häuser.
Stan und Charmaine nehmen die Überwachung und den Verlust ihrer Freiheit in Kauf, ja sie scheinen gar nicht richtig über deren Konsequenzen nachzudenken. Zu gross ist offenbar die Verlockung eines Lebens inmitten schöner Dinge. Schon hier würde sich für die Autorin die Gelegenheit bieten, Parallelen zu tatsächlich existierenden Lauschangriffen vonseiten des Staates zu ziehen. Sie tut es nicht. Stattdessen lässt sie den notständigen Stan einer sexuellen Phantasie verfallen und die reichlich dümmlich gezeichnete Charmaine eine Affäre mit dem Mann ihrer Tauschpartnerin beginnen, die innert kürzester Zeit zur totalen Hörigkeit führt.
Da Atwood nun die Autorin ist, die sie ist, möchte man hinter all dem eine Message vermuten, eine Systemkritik. Doch irgendwie mag der Funke nicht springen, so dass man sich am Ende fühlt, als lese man gerade eine futuristische Version von Desperate Housewives. Selbst über die Thematik von Sexrobotern streicht Atwood mit dem Weichzeichner, als hätte sie ein Drehbuch für das Vorabendprogramm von Sat1 geschrieben. Dabei sind sexualisierte Maschinen schon heute nicht mehr blosse Science-Fiction: Nachdem ein Hersteller von Sexpuppen kürzlich erste Versuche mit künstlicher Intelligenz publik gemacht hatte, diskutierten Zeitungen wie der Guardian oder die New York Times, wie sich solche Produkte auf die Gesellschaft auswirken könnten und ob sie gar verboten werden müssten. Eine gute Dystopie hätte diese Frage aufgenommen, weitergedreht, ins Absurde überführt – und so das vermeintlich Undenkbare erschreckend real werden lassen.
Die kanadische Schriftstellerin hat in ihrer Karriere bereits zahlreiche Romane, Essays, Sachbücher und Gedichte geschrieben. Sie erhielt unter anderem den Booker Prize, die wichtigste britische Literaturauszeichnung, sowie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Auch ist sie immer wieder als Kandidatin für den Nobelpreis im Gespräch. Nimmt man allerdings nur Das Herz kommt zuletzt als Referenz, so ist es vermutlich fair, dass jene höchste aller Auszeichnungen in diesem Jahr an jemand anderen gegangen ist.
Margaret Atwood: Das Herz kommt zuletzt. Berlin-Verlag, München/Berlin 2017; 390 Seiten; 30.90 Franken.
Vanessa Buff ist stellvertretende Redaktionsleiterin bei bref.