Überschätzt – Unterschätzt

Das Gewissen

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Freitag, 08. September 2023

Wenn es um Riten und Heiligtümer anderer Religionen geht, gelten wir Protestanten als aufgeschlossen und wissbegierig. Als Student begegnete ich in Berlin dem Londoner Rabbiner Albert H. Friedländer. Ich fragte ihn, was denn im Judentum das Allerheiligste sei. Er antwortete: «Aus ihrem Konfirmandenunterricht wissen Sie vielleicht noch: es ist die Bundeslade.» «Ach ja», sagte ich bildungsbeflissen, «die Truhe aus Akazienholz und Gold, in der die Steintafeln mit den zehn Geboten aufbewahrt wurden. Das symbolisiert doch den Bund Gottes mit dem Volk Israel.» Womöglich witterte er hinter meiner nüchternen Antwort Restspuren des alten protestantischen Ressentiments gegen jede Form mystischer Aufladung. Er spöttelte: «Eure Bundeslade ist doch der Kult um das Gewissen. Ihr bewahrt es in euren Herzen, wie in einem Thoraschrein. Und ihr baut einen Tempel drumherum.»

Da mag etwas dran sein. Das Gewissen bildet für uns Protestanten die Ebene, auf der wir uns mit Gott verständigen. Am jüngsten Tag müssen wir, so steht es geschrieben, für unsere Taten geradestehen vor ihm. Albert Camus hat es so beschrieben: «Der Mensch ist nichts an sich. Er ist nur eine grenzenlose Chance. Aber er ist der grenzenlos Verantwortliche für diese Chance.»

Camus deutet damit an, dass Gewissenlosigkeit immer eine Form von Entgrenzung ist: Gier bis ins Uferlose bei riskanten Finanzspekulationen auf den Rücken der Kleinanleger oder der kaltblütige entfesselte Krieg gegenüber der Zivilbevölkerung. Wenn alle Dämme brechen, ist das Gewissen der letzte Deich, der uns vor der Barbarei schützen kann.

Unser Gewissen kann uns also in die Enge treiben. Und gleichzeitig eröffnet es uns ungeheure Weiten. Die allerschlimmste Unterdrückung und die allergrösste Freiheit hält es für uns bereit. Wir müssen nur begreifen: Freiheit muss ausgehalten werden, damit wir zu einer menschengerechten Haltung gelangen können. Konfliktscheue Zeitgenossen etwa verstehen dagegen das gute Gewissen als sanftes Ruhekissen und wollen im Schlaf der Gerechten nicht gestört werden.

Die Reformatoren wiederum haben uns vorgemacht, dass das Gewissen auch ein Stachel zum Aufruhr sein kann, der uns weiterbringt. In seiner Schrift «Die freie Wahl der Speisen» fragt Zwingli: «Wie ist es mit eurem Gewissen? Ist das wirklich frei, bei aller Freiheit, die ihr habt?» Fragte mich Rabbi Friedländer heute, wie ich es mit dem Gewissen hielte, würde ich ihm antworten: «Sinnbildlich gesprochen ist mein Gewissen die Leitplanke, ohne die ich bei manchem Schlingerkurs vom Weg abgekommen wäre. Sie hat eine Menge Beulen davongetragen.»

  • Die Evolution der Freundlichkeit

    N° 8/2023

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