Aglaja Veteranyi gehört zu den aussergewöhnlichen Figuren der Schweizer Literatur. Die Tochter aus einer rumänischen Zirkusfamilie kam mit fünfzehn Jahren als Analphabetin in die Schweiz, brachte sich die deutsche Sprache bei und begann schon bald, in Literaturzeitschriften und fürs Theater zu publizieren. Mit dem Roman Warum das Kind in der Polenta kocht gelang Veteranyi 1999 ein literarischer Erfolg, der sie über die Landesgrenzen hinaus bekannt machte.
Das Buch begeisterte und schockierte zugleich. In drastischen Bildern schildert Veteranyi die autobiografisch gefärbte Geschichte eines Mädchens, das in einer Artistenfamilie aufwächst und die ganze Härte des Zirkusalltags erfährt: das unstete Herumreisen, die chronischen Streitereien und Trennungen der Eltern, die Angst um die Mutter, die allabendlich an den Haaren in der Zirkuskuppel hängt, schliesslich des Missbrauchs durch den Vater, der seine Töchter wie Zweitfrauen hält.
Warum das Kind in der Polenta kocht schlug einen neuen Ton in der Schweizer Literatur an. In äusserster Verknappung und eindringlichen Sprachbildern beschwört Veteranyi das albtraumhafte Gefühlsleben des Mädchens herauf. Es sind die scheinbar naiven und kindlichen Bilder, die so nahe gehen und den Schrecken plastisch machen. Zum Beispiel dann, wenn das Mädchen den allmählichen Zerfall der Familie nach der Flucht aus dem Rumänien Ceauseșcus in einen einzigen Satz fasst: «Meine Familie ist im Ausland wie Glas zerbrochen.» Auch Aglaja Veteranyi ist letztlich zerbrochen – sie nahm sich 2002 in Zürich das Leben, noch nicht einmal vierzig Jahre alt.
Von Veteranyi erschienen nach ihrem Tod noch zwei weitere Bücher, der unvollendet gebliebene Roman Das Regal der letzten Atemzüge und der Erzählband Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter. Ein Grossteil ihrer Texte aber schlummerte bis anhin im Schweizer Literaturarchiv. Zumindest eine Auswahl aus diesen Nachlasstexten liegt nun in den beiden Sammelbändchen Wörter statt Möbel und Café Papa vor.
Neben der Urfassung von Warum das Kind in der Polenta kocht und einigen längeren Prosastücken enthalten die beiden Bände viele Kurz- und Kürzesttexte. Veteranyi beweist darin einmal mehr ihr Talent für das abgründig Groteske und Skurrile. In ihren Geschichten erfrieren Engel in der Badewanne, fallen Angestellte in einen plötzlichen «Schweigkrampf» oder weigern sich Schweine, Schweine zu sein, weil sie lieber Rindsbraten wären. Veteranyi wäre aber nicht Veteranyi, wenn in ihrer phantastischen Welt nicht immer wieder das Grauen durchscheinen würde. In der Kurzgeschichte Das frohe Ereignis berichtet sie von einer Mutter, die bei der Geburt ihres Kindes von einer Bombe getroffen wird: «Neben Sachschäden in Millionenhöhe entstand ein Verlust von 69,8 kg Mensch.»
Wo Veteranyi ihren Hang zur Groteske auf die Spitze treibt, wirkt das bisweilen artifiziell, beispielsweise in dem Romanfragment Vorsicht bissige Hühnersuppe, in dem sie den russischen Dichter Daniil Charms auferstehen und mit Goethe und Rilke zusammentreffen lässt. Berührender sind ihre Geschichten immer dann, wenn ihre grossen Lebensthemen anklingen. In Mamaia erzählt eine ehemalige Zirkusartistin in einem atemlosen Monolog von ihrem Leben. Wie Veteranyi ihre Figur in gebrochenem Deutsch Bilanz ziehen lässt, ist zugleich urkomisch und tieftraurig: «Die Leben ist nicht eine Fantasia / Die Leben ist: Du kommen Essen Scheissen Tot /Das ist die Leben. Pardon diese Beispiel.»
Aglaja Veteranyis Texte faszinieren, weil das Kindlich-Naive und das Schreckliche so nahe beieinanderliegen. Ganz unspektakulär eröffnen sich so Abgründe, wie in der Geschichte Café Papa, in der die Erzählerin den Missbrauch durch den Vater schildert: «Mein Vater und ich sahen uns einen Kinderfilm an. Hoffentlich steckt er mir nicht die Hand unter den Rock, dachte ich. Aber gewünscht habe ich es schon.»
Aglaja Veteranyi: Café Papa und Wörter statt Möbel. Der gesunde Menschenversand, Luzern 2018; 152 resp. 180 Seiten; je 23 Franken.
Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.