Der ehrliche Klappentext

«Boys don’t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit» von Jack Urwin

Der britische Journalist Jack Urwin spricht in «Boys don’t cry» schonungslos offen über die Sprachlosigkeit, die Gewaltkultur und die Unfähigkeit vieler Männer, die eigene Bedürftig­keit einzugestehen. Er nennt das «toxische Männlichkeit». Urwins Buch ist dabei ebenso persönlich wie politisch. Sein Fazit ist klar: Das Patriarchat schadet auch den Männern.
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Autorin: Geneva Moser
Freitag, 06. Oktober 2017

Am Frühstückstisch in der Wohngemeinschaft. Ich unterhalte mich seit einer Weile angeregt mit Sandra. Ihr kleiner Sohn Tim sitzt daneben, isst stumm sein Müesli, schrumpft auf seinem Stuhl. Irgendwann holt er aus – und verpasst mir eine Ohrfeige. Ich erschrecke. Erst später verstehe ich: Ich habe ihm die Zeit mit seiner Mutter geklaut. In Worte fassen liessen sich sein Ärger und seine Traurigkeit aber nur schwer. Die Mutter zu brauchen, traurig zu sein über die Abwesenheit ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit und Zuneigung – das ist kaum zuzugeben.

Der britische Bestsellerautor Jack Urwin würde diese Ohrfeige am Frühstückstisch vielleicht als Ausdruck «toxischer Männlichkeit» bezeichnen. Toxisch, weil sie – hier zwar in harmloser Erscheinung – eine Form von Gewalt ist. Und Männlichkeit, weil es auch gegenwärtig unverändert zur Vorstellung von Männlichkeit gehört, keine Gefühle wie Trauer oder Bedürfnisse nach Zuneigung zu haben, geschweige denn, diese zu artikulieren. Es ist eine Form der Männlichkeit, die selbst kleine Jungen schon erlernen.

Jack Urwin weiss, wovon er spricht. Anfang 2017 erschien sein Buch Boys don’t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit in deutscher Sprache. Es basiert auf einem Essay, den Urwin als junger Journalist für Vice schrieb und in dem er den frühen Tod seines Vaters verarbeitet. Dieser litt an Herzproblemen, verschwieg die Krankheit aber seiner Familie. Die Frage, wie es ihm gehe, beantwortete Urwins Vater stets positiv und einsilbig. Auch am jenem Morgen, als er an den Folgen eines Herzinfarktes im Bad zusammenbrach und starb. Erst die Obduktion förderte zutage, was der Vater schon seit Jahren gewusst hat und in aller Heimlichkeit (rezeptfreie Herzmedikamente, keine ärztliche Kontrolle und schon gar keine Schonhaltung dem eigenen Körper gegenüber) mit sich selber austrug. Sprechen über die Krankheit und Schwäche kam nicht in Frage, denn: «Männer weinen nicht. Sie sterben lieber.» Lieber war sein Vater tot, als offen seinen Schmerz, sein Sterblichsein und seine Bedürftigkeit einzugestehen.

Urwin machte sich also auf die Suche nach Fakten zu seiner These der bisweilen tödlichen toxischen Männlichkeit. Und er wurde fündig: statistisch dreimal höhere Selbstmordraten bei Männern, höhere Tendenzen zu Alkoholismus und eine grössere Risikobereitschaft als bei Frauen sind nur drei Beispiele, die die Folgen gegenwärtiger Männlichkeitsbilder aufzeigen. «Selbstmord ist das zerstörerischste Symptom toxischer Männlichkeit», so Urwin.

Nach Jahrzehnten feministischer Geschlechteranalyse ist Urwins auf 200 Seiten ausgebreitete Perspektive auf gegenwärtige Männlichkeitskonstruktionen sicher kein bahnbrechendes Novum – aber zugänglich, schonungslos offen und treffsicher ist seine Streitschrift dennoch. Die Zusammenhänge zwischen Militär und Männlichkeit, die Verharmlosung von Vergewaltigung als quasi «Sex nach hartnäckigen Überredungskünsten» als Bestandteil von männlichen Potenzkämpfen und eben männliche Sprachlosigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen – bei keinem dieser Themen lässt Urwin es aus, sie sowohl persönlich als auch wissenschaftlich auseinanderzudröseln. Sein wiederkehrendes Fazit: «Das Patriarchat schadet auch den Männern.» Wenn der Plauderton, den Urwin manchmal anschlägt, auch bemüht prahlerisch-cool und jugendlich ist (und damit reichlich stereotyp), so sind seine Ausführungen doch immer wieder präzise und erhellend. Was also tun, um die toxischen Dynamiken männlicher Identitätskonstruktionen zu brechen? Urwins Vorschlag: Darüber reden. Reden. Und nochmal reden.

Geneva Moser ist freie Journalistin in Bern.

Jack Urwin: Boys don’t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit. Nautilus Flugschrift; Berlin 2017; 232 Seiten; 24.90 Franken.

  • N° 17/2017

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