Der ehrliche Klappentext

«Annette, ein Heldinnenepos» von Anne Weber

Der Roman «Annette, ein Heldinnenepos» ist eine Hommage an die französische Widerstandskämpferin Annette Beaumanoir. Darin verdichtet die Autorin Anne Weber deren ungewöhnliches Leben zu Versen – und schafft damit eine moderne Erzählung über eine mutige Frau.
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Freitag, 14. August 2020

Annette Beaumanoir widmete ihr Leben dem französischen Widerstand gegen die national-sozialistischen Besatzer und später dem Kampf für ein unabhängiges Algerien. Für ihr Engagement wird sie in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als «Gerechte unter den Völkern» aufgeführt. Trotzdem ist die heute 96jährige im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. Der Roman «Annette, ein Heldinnenepos» könnte das ändern. Die Autorin und Übersetzerin Anne Weber nähert sich darin der Biografie Beaumanoirs in epischer Versform. Dabei fügt sie Erinnerungsstücke aus deren langen Leben zu einem beeindruckenden historischen Panorama zusammen.

Die Erzählung setzt in den Kindheitstagen von Annette ein. 1923 wird sie in einem Küstendorf in der Bretagne geboren. Als Frankreich 1940 von den deutschen Nationalsozialisten im Blitzkrieg überfallen wird, schliesst sie sich der Résistance an. Im Rückblick scheint dies ein bewusster Schritt gewesen zu sein, so aber war es nicht: «Denn wie das meiste / ist auch das Widerstehen anders, als man es sich / denkt, nämlich kein einmaliger Entschluss, / kein klarer, sondern ein unmerklich langsames / Hineingeraten in etwas, wovon man / keine Ahnung hat.» Ihr Medizinstudium in Rennes gibt Annette fürs Plakatekleben und Flugblätterwerfen in Paris auf. Sie verliebt sich in den Kommunisten Roland, der mit wirklichem Namen Rainer Jurestal heisst, rettet drei jüdische Kinder vor einer Razzia und entscheidet sich für den Abbruch einer ersten Schwangerschaft. Bis dahin könnte dieses Heldinnenepos noch als Revolutionsromanze durchgehen. Doch nach und nach wird der Preis fassbar, den Annette im Laufe ihres Lebens als Frau und später auch Mutter für ihre Überzeugungen bezahlte.

Mit dem Mediziner Joseph Roger erlebt Annette Beaumanoir zwischenzeitlich so etwas wie ein bürgerliches Familienglück. Als Mitte der 1950er Jahre die «algerischen Ereignisse» beginnen, ist diese Episode der Sesshaftigkeit aber auch schon wieder zu Ende. Sie verlässt ihre Familie und unterstützt die Widerstandsbewegung in Frankreich. 1959 wird Annette Beaumanoir verhaftet und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Weil sie ihr drittes Kind ausserhalb der Gefängnismauern austragen darf, gelingt ihr die Flucht nach Tunesien. Nach der Unabhängigkeit Algeriens hilft sie als Ärztin, das dortige Gesundheitswesen wiederaufzubauen. Mehr und mehr gerät sie allerdings in Konflikt mit den tatsächlichen politischen Verhältnissen. Schliesslich wird die Bedrohung zu gross, und Annette Beaumanoir siedelt nach Genf um, wo sie am Universitätsspital arbeitet, bevor sie endlich nach Frankreich zurückkehrt.

Anne Weber hat einen Roman mit starken Bildern geschaffen. Zum Beispiel dieses aus den Kindheitstagen: Annette ist sieben Jahre alt, als sie auf dem Schoss ihrer Grossmutter sitzt und mit ihr weint. Ihre Grossmutter hat soeben realisiert, dass sie selbst von ihrer Mutter im Leben nie einen Kuss erhalten hat. Sie bricht in Tränen aus, und so sitzen sie, «Grossmutter und Enkelin, / und küssen sich und küssen sich und küssen sich / und weinen». Schon in dieser Szene wird Annette Beaumanoirs Gerechtigkeitssinn spürbar. Einen bleibenden Eindruck hinterlässt auch das Bild, das Anne Weber von der alten Annette Beaumanoir zeichnet: «Gott oder wer auch immer hats gemacht, dass / sie hier lebt, alleine, klein und krumm. / Krumm nur ein bisschen und auch nur / von aussen; im Innern ist sie gerade.»

Die Entscheidung der Autorin, das Leben von Annette Beaumanoir in Versform festzuhalten, mag veraltet anmuten. Doch schon nach den ersten Zeilen verfliegt die Skepsis, denn die Verse erzeugen eine ganz eigene Erzählbewegung. Sich damit durch das Leben ihrer Protagonistin tragen zu lassen ist ein beglückendes Leseerlebnis – und eine überfällige Würdigung dieser Heldin des 20. Jahrhunderts.

Anne Weber: «Annette, ein Heldinnenepos». Matthes & Seitz, Berlin 2020; 208 Seiten; 34 Franken.

Dolores Zoé Bertschinger ist Religionswissenschaftlerin und freie Journalistin.

  • N° 10/2020

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