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«Alle gehen auf unsere Kirche los»

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Freitag, 17. Mai 2024

Übersetzung von Auszügen aus der Rücktrittsrede von Synodenpräsident Zoltan Balog an der informellen Synode der Reformierten Kirche in Ungarn vom 16. Februar 2024. Der oberste Reformierte in Ungarn musste zurücktreten, nachdem seine Verwicklung in einen Pädophilie-Skandal publik geworden war. Balog hatte der ungarischen Staatspräsidentin geraten, einen Mann zu begnadigen, der wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch von Minderjährigen verurteilt worden war.

Ich habe Euch zusammengerufen, um Euch in die Augen zu schauen. Und in Eure Seelen. Und Ihr schaut in meine. Ihr habt mich erst vor drei Jahren gewählt. Seitdem haben wir gemeinsam Entscheidungen getroffen. Gute Entscheidungen, schlechte Entscheidungen. Wir haben Fehler gemacht. Wir haben gemeinsam Fehler gemacht. Jetzt habe ich allein einen Fehler gemacht, aber ich weigere mich, zu vergessen, was gut war. Was unsere Kirche gestärkt hat, was sie weiterentwickelt hat.

Liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ich habe euch gerufen.

Danke fürs Kommen.

Heute wollen wir ganz ehrlich miteinander sein.

Wir wollen keine Geheimnisse haben.

Ich bin ganz offen zu euch.

Und ihr dürft ganz offen reden.

Ihr habt mich als Chef gewählt.

Das war vor drei Jahren.

Seither haben wir viel zusammen erlebt.

Wir haben viele Dinge entschieden.

Manchmal haben wir auch falsch entschieden.

Jetzt habe ich selber einen Fehler gemacht.

Das ist schlimm für unsere Kirche.

Aber in den drei Jahren ist auch viel Gutes passiert.

Unsere Kirche ist stärker geworden.

Und sie ist weiter gekommen.

Das dürfen wir nicht vergessen.

Als ich vor fast auf den Tag genau drei Jahren gewählt wurde, habe ich Euch zunächst versichert, dass Ihr wisst, wen Ihr gewählt habt. Es gibt nur wenige oder vielleicht gar keine unter Euch, deren Leben in den letzten zehn bis zwanzig Jahren so offen waren wie das meine. ( … ) Ihr wusstet, wer ich bin, und ich vertraue darauf, dass Ihr mich nicht nur gewählt habt ( … ), weil ich aus dem öffentlichen Dienst komme und von Nutzen sein würde. Dies ist in der Tat zum Nutzen unserer Kirche gewesen. Nutzen, Risiko und Last. Ich messe den Nutzen nicht in Geld, sondern in der Tatsache, dass unsere Kirche vielleicht in der Lage war, sich mit mehr Charakter und in einem grösseren Raum zu präsentieren als zuvor.

Vor drei Jahren habt ihr mich gewählt.

In meinem Leben gab es keine Geheimnisse.

Ihr habt alles über mich gewusst.

Die meisten von euch mussten nicht so offen sein.

Ihr habt gewusst: Ich habe lange für den Staat gearbeitet.

Dadurch habe ich viele Politiker gekannt.

Das hat unserer Kirche geholfen.

Ich bin sicher: Ihr habt mich nicht deshalb gewählt.

Aber für unsere Kirche war es trotzdem gut.

Ich rede nicht vom Geld.

Ich rede von meiner Rolle in der Politik.

Die Regierung hat auf mich gehört.

Die Regierung, das sind die Chefs von Ungarn.

Dadurch konnte ich viel Gutes für unsere Kirche tun.

Und unsere Kirche hat Einfluss gewonnen.

Meine Rolle war aber auch gefährlich für die Kirche.

Jetzt ist dieser Nutzen zu einer Last geworden, und wir sehen auch, dass der Nutzen, die Zunahme des Gewichts unserer Kirche, bröckelt. Ihr Prestige bröckelt. Es ist eine Last. Ich bin Teil einer Hexenjagd geworden, und Ihr seid Teil einer Hexenjagd geworden, die ihre Opfer hatte: die Präsidentin von Ungarn, die wir sehr lieben, die ein treues Mitglied unserer Kirche ist und die so oft ihren Glauben sowohl hier als auch im Ausland bewiesen hat. Aber macht Euch keine Illusionen! Die Hexenjagd, die Hysterie, wird nicht aufhören, auch wenn ich nicht da bin. Aber ob ich nicht da sein werde, das müsst Ihr entscheiden. Das hat nicht die politische Opposition zu entscheiden, das haben nicht die Medien zu entscheiden, das hat nicht die Regierung zu entscheiden, das hat nicht Facebook zu entscheiden. Das habt Ihr zu entscheiden, die gesetzgebende Körperschaft der Reformierten Kirche in Ungarn. Vergesst das nicht!

Jetzt ist meine Rolle ein Problem für unsere Kirche geworden.

Viele Menschen in Ungarn sind wütend auf die Regierung.

Und sie sind wütend auf mich.

Die Menschen wissen: Ich bin der Chef von der Kirche.

Daher sind sie auch auf die Kirche wütend.

Und auf euch alle.

Alle gehen auf mich los.

Und alle gehen auf unsere Kirche los.

Das schadet unserer Kirche.

Die Chefin von Ungarn ist eine gläubige Frau.

Wir lieben sie sehr.

Sie ist unserer Kirche immer treu geblieben.

Aber jetzt musste sie zurücktreten.

Das heisst: Sie ist jetzt nicht mehr Chefin von Ungarn.

Auch ich biete als Chef von der Kirche meinen Rücktritt an.

Darüber müsst aber ihr entscheiden.

Nicht die Medien.

Nicht die Regierung.

Nicht die Gegner von der Regierung.

Und auch nicht die Menschen auf Facebook.

Das entscheidet nur ihr.

Denn ihr macht die Regeln von unserer Kirche.

Vergesst das nicht!

Wird nach meinem Rücktritt alles gut für die Kirche?

Macht euch keine Hoffnungen!

Die Leute werden weiter auf euch losgehen.

Ich bin zurückgetreten, ich bin vom Amt des Ministerpräsidenten der Synode zurückgetreten. Ich muss Euch allen danken. Bei denen, die gegen mich gesprochen haben, und bei denen, die für mich gesprochen haben. Was mich bewegt hat, und damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, war die Beratung vor ein paar Tagen, als 86 % der anwesenden Dekane und Laienvorsitzenden der Presbyterien sagten: «Bleiben Sie! Wir vertrauen Ihnen.» ( … ) Ich habe einen schweren politischen Fehler gemacht, aber einen Fehler in einem Begnadigungsfall. Ich habe um Begnadigung gebeten. Ich wollte eine Begnadigung für jemanden. Und wenn ich jetzt deswegen gehen muss, dann glaubt nicht, dass dies das Ende ist. Es wird weitergehen. Es ist ein Kampf. Es wird einen Kampf geben. So wie es schon immer ein Kampf war.

Jetzt bin ich nicht mehr Chef von der Kirche.

Manche von euch waren für mich.

Andere waren gegen mich.

Ich danke euch allen.

Vor ein paar Tagen haben die Chefs von unserer Kirche beraten.

86 Prozent waren für mich.

Sie haben gesagt: «Sie müssen bleiben. Wir vertrauen Ihnen.»

Das hat mich sehr berührt.

Das habe ich nicht erwartet.

Letztes Jahr habe ich einen Fehler gemacht.

Ich habe mich für die Begnadigung von einem Mann eingesetzt.

Ich habe zu der Chefin von Ungarn gesagt: «Der Mann soll frei kommen.»

Das hat die Menschen wütend gemacht.

Aber vergessen wir nicht: Ich wollte etwas Gutes tun.

Ich wollte Freiheit für einen Menschen.

Nun muss ich zurücktreten.

Mein Rücktritt ändert aber nichts.

Die Leute werden die Kirche weiter angreifen.

Und die Kirche muss sich wehren.

Das war immer so.

  • «Mayday, Mayday!»

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