Im Pariser Mai warfen nicht wenige Studenten ihre Steuererklärung in den Mistkübel. Der Bankrott der Bourgeoisie stand ja sowieso bevor. Im Herbst dann das böse Erwachen: Der Gerichtsvollzieher stand vor der Tür. Richard Vinen erzählt die Anekdote nicht ohne Ironie. Der Geschichtsprofessor am Londoner King’s College geht in seiner Studie spürbar auf Distanz zu den 68ern. Sie, damals «teilnehmende Beobachter» auf der Strasse, erhöben heute quasi einen Monopolanspruch auf die Interpretation ihrer Geschichte. Der nachgeborene Vinen will ihnen die Geschichtsschreibung aber nicht unwidersprochen überlassen und setzt in seinem Buch 1968 – Der lange Protest «das kalte Skalpell der historischen Autopsie» an.
Drei Schichten der Rebellion legt er frei: den Generationenaufstand der Jungen gegen die Alten, den politischen Aufstand gegen Militarismus, Kapitalismus und die Übermacht der USA, und den kulturellen Aufstand im Zeichen der Rockmusik. Vinen konzentriert sich auf den politischen Aufstand und sieht als seinen Auslöser den Vietnamkrieg. «Vietnam war die Essenz aller andeen Konflikte: Rassendiskriminierung, Imperialismus, Militarismus, Kapitalismus.» Jegliche Rebellion hätten die 68er mit Vietnam verbunden. Für Vinen zuweilen reine Rhetorik – etwa wenn der Kampfruf der italienischen linksradikalen Bewegung Lotta Continua nicht ohne Vietnam auskam: «Agnelli (der Fiat-Konzernchef ), Indochina ist in deiner Fabrik!»
Die 68er sahen sich als internationale Bewegung: Europäische Linke schlossen sich Guerrilleros in Lateinamerika an. In Algerien, einer Hochburg des Anti-Imperialismus, fanden französische Trotzkisten, Black Panthers und der LSD-Papst Timothy Leary Unterschlupf. Doch auch hinter die Internationale setzt Vinen Fragezeichen. Wie sollten etwa der Pariser Mai und der Prager Frühling zusammenfinden, wenn für die Prager Aufständischen alles, was die Kommunisten sagten, Lüge war – und die amerikanische Intervention in Vietnam darum eine gute Sache? Zudem: Für Militante in Nordirland, in der Bretagne oder in Québec war Regionalismus wichtiger als Internationalismus.
Vinen konzentriert seine Darstellung auf die westlichen Kernnationen USA, Frankreich, Grossbritannien und die Bundesrepublik Deutschland. Universitäten waren überall die zentralen Schauplätze. Berkeley, Nanterre, die University of Essex und die Freie Universität Berlin wurden zum Synonym politischer Radikalität. Die Nachkriegsexpansion der Hochschulen und der Aufstieg der Sozialwissenschaften waren guter Nährboden für die Proteste, die nicht selten als simple Beschwerde gegen die Qualität des Essens in der Mensa begannen.
Doch Vinen beschreibt auch das 68 der Arbeiter und ihr zeitweiliges Bündnis mit den Studenten in Frankreich und Italien. Wie diese entdeckten radikalisierte Arbeiter die direkte Aktion, stürmten die Büros von Firmenleitungen und besetzten Fabriken. Vinen sieht die Arbeiter in materieller Hinsicht gar als die grossen Nutzniesser der 68er Bewegung – ihr sozialer Aufstieg sollte bis zum Rollback der New Economy anhalten.
68 rüttelte an fixen Ordnungen. Nachhaltig tat es dies in Bezug auf Geschlechterverhältnisse, Beziehungsformen und die Popkultur. Und es gab sogar Augenblicke, besonders im Pariser Mai, in denen es aussah, als gelinge gar die Abschaffung des Kapitalismus, so Vinen. Doch auf den Aufstand folgten bald rechte Wahlsiege, etwa von Richard Nixon, Edward Heath oder den Gaullisten. Nur Deutschland rückte mit Willy Brandt nach links. Aber die Infragestellung von «Rassendiskriminierung, Imperialismus, Militarismus, Kapitalismus», das politische 1968, ist in der Sicht Vinens gescheitert. Angesichts der Weltkriegsgefahren heute, in Korea, an Russlands Grenzen, im südchinesischen Meer, und des Schweigens der Linken muss man ihm fast recht geben. Leider.
Richard Vinen: 1968 — Der lange Protest. Biografie eines Jahrzehnts. Piper; München 2018; 458 Seiten; 34.90 Franken.
Samuel Geiser ist Journalist und lebt in Bern.