Als ich vor einem Jahr von einer längeren Reise zurückgekehrt war, sagte ich mir: Nicht so bald wieder. Ich wollte ein wenig verweilen, Zeit auf der Insel verbringen, auf die ich 2020 ausgewandert war. Ich wollte mit meiner Frau und den drei Katzen zusammen sein, die ich sechs Monate lang vermisst hatte.
Aber nicht lange nach meiner Rückkehr befiel mich eine Unruhe, die ich zu gut kannte, um sie einfach zu ignorieren. Ich begann, mehr Zeit im Hafen zu verbringen und am Boot zu arbeiten, das mir sowohl als Transportmittel wie auch als Behausung gedient hatte. Ich blickte wieder länger aufs Meer hinaus und fühlte mich hingezogen zu der Weite. Es war ganz einfach Zeit, die Segel zu setzen und aufzubrechen.
Fernweh nennen es die einen, Reiselust die anderen. Das Phänomen ist weit verbreitet und bei weitem nicht neu: Im Prinzip ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte des Reisens, wenn auch die Gründe dafür im Laufe der Zeit variierten. Die frühen Menschen waren zweifellos getrieben von der Suche nach Nahrung oder folgten den Tieren auf ihren Wanderungen. Zu allen Zeiten brachen Menschen zu Feldzügen auf, was wiederum Fluchtbewegungen auslöste. Selbst die heutige Migration kann man als eine Form des Reisens verstehen, allerdings meist eine unfreiwillige.
Ronald Schenkel hat in Zürich Germanistik, Komparatistik sowie spanische Literatur studiert und ist gleich nach dem Abschluss in den Journalismus eingestiegen. Über dreissig Jahre arbeitete er als Redaktor, unter anderem als Leiter von «NZZ Campus», der Plattform für Studierende der «Neuen Zürcher Zeitung». Zudem beschäftigte er sich mit Kunstkritik und dem Thema Weiterbildung.
2020 und damit mitten in der Pandemie stellte Schenkel sein Leben neu auf: Er wanderte auf die Azoren aus und verbrachte von da an einen Grossteil der Zeit auf seinem Boot. Auf freier Basis ist Ronald Schenkel weiterhin als Journalist, Autor und Schreib-Coach tätig. vbu
Die Bedeutung des Reisens zeigt sich in der Kulturgeschichte. Schon das älteste erhaltene Stück Literatur, das Gilgamesch-Epos, handelt davon: König Gilgamesch erfährt von einem Gott, dass er sterblich sei. Deshalb bricht er zu einer Reise auf, die ihn wenigstens im Gedächtnis der Menschen unsterblich machen soll. Dabei reist er nicht allein. Sein Begleiter Enkidu, der einst als Wilder in den Bergen gelebt hat und von Jägern an den Hof des Königs gezerrt wurde, langweilt sich ganz einfach. Er sehnt sich nach der Freiheit zurück, die ihm genommen wurde, und nach seiner alten Kraft.
Das Gilgamesch-Epos wurde vor etwa 4000 Jahren verfasst und beschreibt eine Heldenreise, das literarische Erzählmuster schlechthin. Es wurde zu allen Zeiten und in allen Kulturen verwendet und liegt heute selbst den Plots von digitalen Games zugrunde. Das Schema ist immer dasselbe: Der Protagonist muss seine vertraute Welt verlassen und bricht in die Fremde auf. Dort warten Abenteuer auf ihn, an denen er wächst. Als gereifte Person kehrt der Held oder die Heldin zurück in die vertraute Welt. Begleitet wird er oder sie in der Regel von einem Gefährten, der etwas einfacher gestrickt ist – wie eben Enkidu.
Jetset-Auswüchse
Die Moderne hat dem Reisen neue Spielarten hinzugefügt. Wer es sich leisten kann, benutzt das Flugzeug so selbstverständlich wie andere die Bahn – etwa um einen kleinen Abstecher auf die Skipiste zu unternehmen und abends in Paris oder Mailand zu dinieren.
Der Flughafen von Samedan ist ein geeigneter Ort, um den internationalen Jetset in Augenschein zu nehmen. Eine auf Privatkunden spezialisierte Engadiner Fluggesellschaft wirbt ganz selbstverständlich damit, Golfen in Saint-Tropez mit Skifahren in Courchevel zu verbinden. Die Corona-Pandemie hat diesem Unsinn nur eine kurze Pause auferlegt.
Freilich sind das Ausnahmen. Doch wann ist eine Reise gerechtfertigt? Wann kippt sie in verschwenderischen Luxus?
Es gibt nichts Ermüdenderes, als jemandem zuzuhören, der die Namen besuchter Länder abspult. Es wirkt ganz einfach sinnentleert.
Einen Konsens scheint es in dieser Frage nicht zu geben. In unserer liberalen Gesellschaft wird das Reisen zuweilen sogar wie ein Menschenrecht verteidigt. Nicht zuletzt die Restriktionen während der Pandemie haben das veranschaulicht: So gaben in Umfragen zahlreiche Impfskeptiker an, sich impfen zu lassen, wenn sie damit nur die Reisefreiheit zurückgewinnen würden. Sich verbieten zu lassen, wenigstens einmal pro Jahr zu verreisen? Auf keinen Fall. Und so packt man stur die Koffer und verschwindet für eine mehr oder minder begrenzte Zeit an einen Ort weit, weit weg.
Ich erinnere mich an die Werbekampagne einer Schweizer Fluggesellschaft, die ihre Destinationen zu Punkten einer Bucketlist gemacht hat, die es abzuhaken gilt. Der Logik dieser Kampagne folgend ist das Reisen zu einer Variante des Konsums oder gar des Wettbewerbs geworden. Wie im Fitnesscenter die Muskeln vergleicht man die Destinationen, die man abgeklappert hat – man prahlt mit deren Anzahl und vielleicht mit den Kosten, die die Reise verursacht hat.
Nun gibt es nichts Ermüdenderes, als jemandem zuzuhören, der die Namen besuchter Länder abspult. Es wirkt ganz einfach sinnentleert. Und wahrscheinlich ist dieser Wettbewerb in höchstem Masse schädlich: Wer beispielsweise eine Reise zur Antarktis unternimmt, zu einer der letzten Grenzregionen, wie es die Werbung verheisst, belastet die Umwelt mit über vier Tonnen CO2. Immerhin knapp halb so viel wie der durchschnittliche Schweizer in einem Jahr produziert.
Nicht allein erschliesst der moderne Tourismus die letzten abgelegenen Regionen der Welt. Er ist tatsächlich zu einem Massenphänomen geworden. 2019, vor Corona, wurden weltweit 1,4 Milliarden Reiseankünfte gezählt. Die Pandemie liess die Zahl zwar einbrechen. Aber bereits 2022 kletterte sie wieder auf 920 Millionen. Der Begriff «Overtourism» ist relativ neu, aber viele Orte leiden schon lange darunter. Aus Städten wie Venedig zum Beispiel hat der Tourismus die Einheimischen weitgehend verdrängt. Die Stadt ist zu einer Kulisse ihrer selbst geworden, ein Disneyland mit historischer Bausubstanz.
Dazu tragen auch die Kreuzfahrtschiffe bei, die regelmässig in der Lagunenstadt anlegen. Im Durchschnitt fassen sie 3000 bis 4000 Gäste. Das grösste seiner Art, die «Icon of the Seas», kann bei Vollbelegung über 7000 Passagiere transportieren. Kreuzfahrtschiffe gehören zu den schmutzigsten Reisevehikeln überhaupt; ihre Abgase verpesten die Luft der Hafenstädte in einem geradezu obszönen Ausmass. In Barcelona beispielsweise stiessen sie 2020 dreimal so viele Schwefeloxide aus wie alle Autos der Stadt zusammen.
Als Segler teile ich das Meer mit den Kreuzfahrttouristen, und in den Häfen begegnen wir einander. Zuletzt in Mindelo auf den Kapverden. Ich war auf der Suche nach einem Kescher für die Fische, die ich allenfalls unterwegs fangen würde. In Mindelo gibt es so etwas nicht zu kaufen. Aber es gibt Arturo, der einen kleinen Stand beim Fischmarkt führt. Er könne einen herstellen lassen, meinte er. Und so fand ich mich in einer staubigen Metallwerkstatt wieder, wo Männer unter Arturos Anleitung Ring und Stange für den Kescher zusammenschweissten.
Arturo stammt ursprünglich aus Guinea-Bissau; ich war gerade von dort zu den Kapverden zurückgekehrt. Schon hatten wir ein Gesprächsthema. Ich weiss nicht, welche Begegnungen den Kreuzfahrttouristen auf ihren Ausflügen zu den Sehenswürdigkeiten widerfahren. Wir sind uns immer wieder über den Weg gelaufen. Aber wir waren wohl in zwei verschiedenen Städten unterwegs.
Ob es für sie letztlich eine Rolle spielt, ob sie in Athen oder Nizza anlanden, und ob man nach einer solchen Reise die einzelnen Destinationen noch auseinanderhalten kann? Vielleicht verschwimmen die Bilder eher zu einer Collage in Braun- oder Grüntönen, je nachdem, in welcher Weltgegend das Schiff unterwegs war.
Und doch dürften auch die Menschen auf den Kreuzfahrtschiffen sich nach Ähnlichem sehnen wie ich auf meinen Reisen: nach etwas, dem wir die Attribute «echt» und vielleicht sogar «unberührt» zuordnen können. Zu den höchsten Gefühlen des modernen Touristen gehört das Erlebnis, einen Ort ganz für sich, das heisst ganz ohne andere Touristen geniessen zu können. Davon schwärmt man abends an der Bar.
Der Kern des Reisens
Aber Intensität bekommt man nicht umsonst. Der Wert einer Reise bemisst sich darin, was man bereit ist zu riskieren. Man muss die Komfortzone hinter sich lassen, um dem Fremden auf die Spur zu kommen. Reiseschriftsteller wie der Engländer Bruce Chatwin oder der Genfer Nicolas Bouvier haben es vorgemacht. Bouvier ist in den Jahren 1953/54 über den Balkan, die Türkei und den Iran bis nach Afghanistan gefahren. Er reiste zusammen mit dem Maler Thierry Vernet in einem rachitischen Fiat Topolino, der kaum schneller als 30 Stundenkilometer fuhr.
An der Grenze zwischen dem damaligen Jugoslawien und Ungarn besuchte Bouvier ein Dorf von Fahrenden. Er beschreibt, wie er und sein Gefährte durch ein Fenster in einen Schankraum blickten. Dort sassen Männer beim Wein, eine junge Frau tanzte barfuss mit einem Soldaten zur Musik, die fünf andere auf ihren Fiedeln kratzten. Bald wurden die Fremden entdeckt, die Musik erstarb. Dann aber setzte man sich zusammen an die Tische und begann eine Konversation in mindestens vier Sprachen.
Wie man heisst, woher man kommt, was man hier tut, wohin man will. Das sind die ersten Sätze, die gesprochen werden, wenn Fremde sich begegnen. Bald sind die Fremden Bekannte, und man entdeckt beim Sprechen ein wenig von seinem eigenen Wesen. In so einfachen Begegnungen erschliesst sich mir der Kern des Reisens: eine Art Selbsterkenntnis.
Vielleicht ist es falsch, von Reisefreiheit zu sprechen. Viel eher macht einen das Reisen zu einem freieren Menschen.
«Man glaubt, dass man eine Reise machen wird, doch bald stellt sich heraus, dass die Reise einen macht – oder kaputt macht», schrieb Bouvier in seinem Bericht «Erfahrung der Welt». Das Reisen macht einen – zu einem anderen? Zu dem, der man eigentlich sein sollte? Die Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Aber man spürt die Verwandlung, als wäre man ein Schmetterling, der sich aus seiner Verpuppung löst. Vielleicht ist es falsch, von Reisefreiheit zu sprechen. Viel eher macht einen das Reisen zu einem freieren Menschen.
Bouviers Fahrt war eine Heldenreise an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Der Zweite Weltkrieg war keine zehn Jahre vorbei; noch kurz zuvor waren vor allem Soldaten unterwegs gewesen. Nun besuchten zwei Schweizer andere Länder mit nichts mehr als Neugierde und offenen Sinnen.
Inzwischen dürfte die Zeit über die Hütte der Fahrenden, durch deren Fenster Bouvier geblickt hatte, hinweggegangen sein. Schon lange tanzt dort kein Bauernmädchen mehr mit einem Soldaten. So liegt eine gewisse Melancholie in den Schilderungen von Bouvier und anderen Reiseschriftstellern. «Sie geben uns die Illusion von etwas, das nicht mehr existiert und doch existieren müsste», schrieb der Ethnologe Claude Lévi-Strauss 1975.
Das Ursprüngliche, das Fremdartige, wonach wir uns sehnen, liegt unter einer dicken Schicht kultureller Uniformität. Man muss tiefer und tiefer graben und wird trotzdem immer seltener fündig. Wer heute noch aufbrechen, am Reisen reifen und als veränderter Mensch zurückkehren will, kämpft einen schier aussichtslosen Kampf. Er dürfte einem Don Quijote näher sein als einem Gilgamesch.
Ein Plädoyer fürs Unterwegssein
Die Bilanz des modernen Reisens ist also ernüchternd: Die Industrie ködert Touristen mit auserlesener Exotik und hinterlässt sie doch immer ein wenig unzufrieden. Nicht nur die Reisenden sind die Düpierten: Die Umwelt und viele Reisedestinationen leiden unter den Auswüchsen des Tourismus. Ein absurder Kreislauf. Und kein Entrinnen?
Vielleicht, wenn wir das Unterwegssein wieder mehr ins Zentrum rücken. Wenn ich tagelang segle, werden die Bedürfnisse kleiner und die Zeit verliert ihre Bedeutung. Des Nachts unterm Sternenhimmel fühle ich mich zuweilen wie ein Raumfahrer, der tatsächlich ins Unbekannte, Unerschlossene, Unverbrauchte vorstösst, obgleich ich da nie ankommen werde. Und je weiter ich mich von dem entferne, was mir vertraut und lieb ist, desto klarer kann ich Wichtiges und Unwichtiges unterscheiden.
Das Unterwegssein auf See erlaubt mir, mehr über mich zu begreifen, als wenn ich in Häfen herumhänge, die nur die Wiederholungen des immer Gleichen sind. Menschen, die mit dieser Form der inneren Sicht vertraut sind, erkennen darin etwas Meditatives.
Ich glaube, wer längere Strecken im Zug unterwegs ist, wandert, Berge besteigt oder lange Radtouren unternimmt, erfährt dasselbe. Ein Privileg der Segler ist es bestimmt nicht. Vielleicht sind ähnliche Erfahrungen sogar auf einer Kreuzfahrt möglich, wenn man sich vom Trubel der Bordunterhaltung abwendet und einfach aufs Meer hinausblickt. Ich kann es nur vermuten.
Natürlich hat auch das Reisen auf einem Segelboot seine Unschuld eingebüsst. Wenn ich irgendwo anlege, trage ich zunächst meinen Müll an Land, und der leere Dieseltank erinnert mich daran, dass auch ich nicht CO2-neutral unterwegs war.
Mit dieser Zwiespältigkeit des modernen Reisens müssen wir umgehen: indem wir uns ihrer zunächst einmal bewusst werden. CO2-Rechner sind eine grossartige Sache, und wer seine Reisen kompensiert, ist schon einmal auf dem richtigen Weg. Aber es wird nicht reichen. Soll das Reisen die Welt nicht kaputter machen, als sie ohnehin schon ist, wird Verzicht unabdingbar werden – nicht der Verzicht aufs Reisen an sich, aber der Verzicht aufs Reisen, das einseitig den Regeln des Konsums folgt.
Vielleicht ist es dann auch wieder möglich, etwas von den alten Heldenreisen zurückzugewinnen oder wenigstens zu spüren, wie die Reise einen macht, wie Nicolas Bouvier schrieb.
In den Häfen entlang der Atlantikroute gibt es zahlreiche junge Menschen, die genau darauf hoffen. Sie wollen auf Yachten per Anhalter reisen, die wenigsten haben Segelerfahrung, und man kann ihnen eine gewisse Naivität durchaus vorwerfen. Aber sie haben oft aus Überzeugung aufs Fliegen verzichtet, nicht aufgrund mangelnder Ressourcen. Das nenne ich Haltung. Die Reise, zu der sie aufbrechen, könnte daraus den Charakter formen. Ich glaube, das wäre ganz im Sinne Bouviers.