Touristen sind in Lauterbrunnen leicht auszumachen. Sie schauen unentwegt nach oben: zu den schneebedeckten Gipfeln des Gross- und Mittaghorns weit hinten im Tal, vor allem aber zur Felswand, die direkt neben dem Dorf emporragt. Der Blick wandert hinauf über Gestein in Grau und Beige und bleibt hängen über der Fluh, wo zwischen Tannen ein Wasserstrahl herausschiesst. Auf dem langen Weg nach unten verwandelt er sich in einen weichen Schleier, bis er schliesslich zerstäubt.
Schon Johann Wolfgang von Goethe war überwältigt von diesem Anblick. Als er auf seiner Schweizreise 1779 Lauterbrunnen besuchte, sah er den Staubbachfall und schrieb:
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.
Zu Goethes Zeiten begnügten sich die Menschen damit, die Berge zu betrachten. Man fürchtete sich vor ihnen. Bis der Alpinismus aufkam, sollten noch ein paar Jahrzehnte vergehen. Mittlerweile ist die Region ein grosser Spielplatz für Wanderer, Bergsteiger, Biker und Gleitschirmflieger. Für Schlagzeilen sorgen aber vor allem die Basejumper. Mit den bis 720 Meter hohen Felswänden und den fünfzehn leicht zugänglichen Absprungstellen ist Lauterbrunnen für die Extremsportler ein Paradies – und manchmal auch Endstation.
Freudenschreie über dem Friedhof
Direkt unterhalb des Staubbachfalls liegt der Friedhof von Lauterbrunnen. Touristen schlendern in Outdoorklamotten und mit Selfiesticks in der Hand zwischen den Grabfeldern hindurch und fotografieren die Postkartenansicht. Mittendrin steht ein Mann in Hemd und schwarzer Hose. Der reformierte Pfarrer Markus Tschanz erklärt einem Besucher, wo das Jungfraumassiv zu sehen ist. Auf dem Friedhof ist er mehr Fremdenführer denn Seelsorger. Bald muss er los und seinen kleinen Sohn abholen. Das Baby ist bei der Mutter, die im Dorfzentrum eine Arztpraxis führt.
Wie die meisten im 800 Einwohner zählenden Dorf ist auch Pfarrer Markus Tschanz schon Zeuge geworden, wie ein Basejumper gerettet oder geborgen werden musste. Mit Opfern hatte er allerdings nie zu tun. «Die meisten Basejumper kommen von ausserhalb», sagt Tschanz. Stirbt einer, wird er in der Regel in seiner Heimat begraben. Für Angehörige und Freunde wurde jedoch am Rande des Friedhofs eine Gedenkstätte mit zwei grossen Steinen errichtet. Der eine ist verunglückten Basejumpern gewidmet, der andere den übrigen Bergsportlern, die hier ihr Leben liessen.
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