Sanfte Hügel, Kiefern, Weinberge und Olivenbäume: So sieht es im israelischen Ort Tzora aus. Nur wer sich genau umschaut, entdeckt auf einem Hügel neben der Siedlung einige Mauern, die wie übriggeblieben herumstehen. Der Filmemacher Michael Kaminer, der selbst in Tzora aufgewachsen ist, wollte wissen, woher sie stammen. So stiess er auf die Geschichte eines anderen Dorfs, des palästinensischen Sar’a. Die etwa 400 Bewohner wurden 1948 von den israelischen Kräften vertrieben. Auf den Ruinen des Dorfes wurde ein Kibbuz – eine Kollektivsiedlung mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen – aufgebaut.
Weil ihm diese Geschichte unbekannt war, beschloss Kaminer, einen Film über das Dorf zu drehen. Für die Dokumentation mit dem Titel «Sar’a» sprach er mit den palästinensischen Bewohnern, die heute mehrheitlich im Flüchtlingslager Qalandia leben. Und er fragte die Kibbuzgründer, warum ihm diese Version der Geschichte nie erzählt worden sei.
Michael Kaminer, Sie selbst haben vom palästinensischen Dorf Sar’a lange nichts gewusst. Seine Existenz wurde verschwiegen oder ignoriert. Wie erklären Sie sich das?
Ich habe immer noch keine vollständige Antwort darauf. Alle haben ihre eigenen Gründe und gehen anders mit der Geschichte um. In meinem Film sagte etwa eine Frau, die vorherigen Häuser seien vom Regen aufgelöst worden. Dies ist ihr Narrativ. Das ist nicht logisch, Regen kann Häuser nicht komplett zerstören. Aber es ist wohl einfacher, mit dieser Erklärung zu leben. Allerdings geht die Frage auch mich etwas an. Es sind nicht nur die Kibbuzgründer, die uns nie etwas von der Geschichte erzählt haben. Wir, die zweite Generation, haben auch nie danach gefragt.
«Wenn wir das Narrativ der Palästinenser anerkennen, müssen wir zugeben, dass wir anderen Leuten Schaden zugefügt haben und doch kein so wunderbares Land sind.»
Warum haben Sie nie gefragt?
Ich wollte wohl nicht unbequem sein den Älteren gegenüber. Und dann bin ich auch ein Kibbuznik. Ein Kibbuz ist eine enge Gemeinschaft, die unter keinen Umständen zerbrechen soll. Wenn uns etwas erschüttert, dann halten wir zusammen. Das hat eine gute Seite, wir unterstützen einander in harten Zeiten. Aber es kann auch ein Bumerang sein. Es ist schwierig, aus dieser Gemeinschaft auszubrechen. Man erwartet, dass alle der gleichen Linie folgen. Man arbeitet auf dem Feld, geht zur Schule, in die Armee und dann zurück in den Kibbuz. In dieser verschworenen Gemeinschaft sind kritische Fragen nach der Vergangenheit nicht erwünscht …
… und das Narrativ der vertriebenen Palästinenser wird zur Bedrohung.
Ja. Wenn wir ihr Narrativ anerkennen, müssen wir zugeben, dass wir anderen Leuten Schaden zugefügt haben und doch kein so wunderbares Land sind. Es ist schwer, damit zu leben. Nur schon ein Schild, das an das arabische Dorf erinnern sollte, war ein Problem. Ein Kibbuzbewohner sagte etwa, das Schild würde bedeuten, dass er etwas falsch gemacht habe und ein Krimineller sei. Das sei er nicht. Verantwortung zu übernehmen ist schwierig.
Haben Sie eine Verantwortung für die Geschichte der Palästinenser?
Ja. Auf unserem Land wird eine Fabrik gebaut, wir verpachten das Land dafür. Ein Teil dieses Landes gehörte zum palästinensischen Dorf. Wir bekommen heute Geld für ihr Land und sie haben nichts davon. Ich bin also auch Teil dieser Geschichte.
Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Arabische Nachbarstaaten wollten das Land nicht anerkennen und griffen Israel an. Der Krieg dauerte fast ein Jahr. Israel eroberte dabei Territorium, das über das Gebiet hinausging, das ihnen die Uno in einem Teilungsbeschluss 1947 zugedacht hatte. Bis 1949 wurden durch diese Eroberungen 750 000 Araber vertrieben oder sie flohen aus ihren Dörfern. Einige blieben und erhielten die israelische Staatsbürgerschaft. Die Flüchtlinge zogen grösstenteils in die Westbank, in den Gaza-Streifen oder nach Libanon. Israel erlaubte es den Flüchtlingen nicht, zurückzukehren.
In den nicht zerstörten Dörfern wurden jüdische Einwanderer untergebracht, in zerstörten Dörfern wurden teilweise neue Dörfer aufgebaut, wie etwa im Kibbuz Tzora. Für Israeli ist der Unabhängigkeitstag, der nach jüdischem Kalender gefeiert wird, ein Feiertag. Die Palästinenser begehen hingegen am 14. Mai den Nakba-Tag (Tag der Katastrophe). Die Palästinenser und die Vereinten Nationen fordern bis heute ein Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge.
Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?
Ich kann nicht allein über unseren Kibbuz bestimmen. Und auch wenn die ganze Gemeinschaft sich entscheiden würde, Land an die Palästinenser zurückzugeben, würde der Staat das nicht zulassen. Aber ich glaube, es ist wichtig, darüber zu sprechen. Wir können zeigen, dass wir bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen und eine Lösung zu finden. Vielleicht erleichtert das etwas in Zukunft. Bis jetzt hat erst ein Kibbuz in Israel entschieden, einen Teil des Landes den ursprünglichen Bewohnern zurückzugeben, wenn der Staat es erlaubt. Weil da noch keine Entscheidung gefallen ist, bewirtschaften sie das Land wie bisher. Sie haben die palästinensischen Bauern nicht eingeladen, zu ernten oder die Ernte zu teilen. Meiner Meinung nach bräuchte es ein echtes Zeichen und nicht nur Worte.
Im israelischen Narrativ wird die Geschichte der Palästinenser ignoriert oder verharmlost. Die Palästinenser hingegen halten an ihrem Traum fest, in ihre Dörfer zurückzukehren, auch wenn es ihnen unmöglich ist. Das ist auch bei den Bewohnern von Sar’a so. Warum ist ihnen diese Rückkehr so wichtig?
Was haben sie sonst im Leben ? Sie leben in Armut im Flüchtlingslager. Wir haben ihnen das Land genommen, ihre Kultur, ihre Arbeit. Sie haben nur noch die Träume ihrer Grossmütter. Ein palästinensischer Freund von mir sagte, dass er fast Angst hatte, dass das Dorf in der Realität nicht so schön sein würde wie in den Träumen seiner Grossmutter. Als er dann den Ort, wo sich das Dorf früher befunden hatte, einmal besuchen konnte, sah er, dass er noch schöner war als im Traum.
Viele Israeli halten wenig von einer Rückkehr der Palästinenser. Sie finden, diese sollten sich von ihrem Traum lösen und «nach vorne schauen». Sie sind anderer Meinung. Warum?
Wir können diesen Traum nicht einfach negieren. Der wird nicht verschwinden, nur weil wir ihn nicht wollen. Sondern wir müssen ihn anerkennen, auch wenn wir vielleicht nicht damit einverstanden sind. In einem nächsten Schritt müssen wir dann schauen, was wir mit diesem Traum anfangen.
«In meinem Kibbuz wurde ich hart angegriffen. Aber für mich war es schon ein Erfolg, dass wir überhaupt über die Vergangenheit sprechen.»
Was stellen Sie sich vor?
Niemand kann alles haben. Und es soll kein neues Unrecht geschaffen werden, um ein altes zu beseitigen. Wenn man einfach die Bedürfnisse der Bewohner des Kibbuz Tzora ignorieren würde, wäre den Flüchtlingen aus Sar’a überhaupt nicht geholfen. Wir müssen eine Lösung finden, die beiden entgegenkommt. So besitzt unser Kibbuz über 80 Hektaren Land. Ein Grossteil davon gehörte zu verschiedenen palästinensischen Dörfern. Da müssen wir uns fragen, ob wir wirklich all das Land brauchen, um gut zu leben, und ob das gerecht ist. Wir könnten doch teilen.
Das scheint im Moment aber nicht sehr realistisch.
Vieles, das nicht realistisch schien, wurde Realität. Das war im Apartheidsstaat Südafrika so, aber auch als Theodor Herzl, der Begründer des politischen Zionismus, von einem Staat für die Juden sprach, wurde er ausgelacht.
Politisch ist aber keine Lösung in Sicht. Was bringt da die Anerkennung des palästinensischen Traums?
Das ist nicht genug, aber es ist ein erster Schritt. Vielleicht bringt er uns dazu, die andere Seite besser zu verstehen und etwas von unserer Macht aufzugeben. Das bräuchte es, damit eine Versöhnung wirklich möglich ist. Solange in politischen Verhandlungen eine Seite stärker ist, viel mehr Land und Macht besitzt, wird es keine faire Lösung geben. Die Gespräche verlaufen nicht auf Augenhöhe.
Macht aufgeben bedeutet vielleicht auch Opfer bringen.
Ich mag dieses Wort nicht. Denn es geht hier nicht um Opfer, sondern um Gerechtigkeit. Mir ist das wichtig, denn ich bin im Kibbuz mit sozialistischen Werten aufgewachsen. Wir wollten solidarisch sein mit den Schwachen und den anderen. Aber mit der Zeit merkte ich, dass das nur schöne Worte waren. Diese Solidarität reichte nie weiter als bis zum Zaun des Kibbuz. Schon mit den Bewohnern der Nachbarstadt, jüdische Immigranten aus arabischen Ländern, wollten wir nicht mehr teilen. Und schon gar nicht mit den palästinensischen Flüchtlingen im Flüchtlingslager Qalandia.
Gelingt es Ihnen heute immer, Verständnis und Solidarität für die anderen zu zeigen?
Es ist eine Herausforderung. Immer wieder werde ich mit schwierigen und traurigen palästinensischen Schicksalen konfrontiert. Da frage ich mich immer wieder nach meiner Verantwortung.
Das ändert aber nichts an der Situation der Flüchtlinge. Ist es einfach eine persönliche Erleichterung für Sie, wenn Sie Ihre Verantwortung eingestehen und bei den Vertriebenen aus Sar’a um Vergebung bitten?
Für mich ist es keine wirkliche Erleichterung. Manchmal fühle ich mich vielleicht ein bisschen besser dadurch. Aber ich bin nicht zufrieden damit, es ist noch nicht genug.
Was tun Sie, um die Situation zu verändern?
Ich möchte dazu beitragen, dass die Menschen miteinander sprechen. Das geschieht jeweils nach meinen Filmvorführungen. Und vielleicht zieht jemand diese Geschichte weiter und macht einen eigenen Film.
Wie reagieren die Menschen bei den Vorführungen auf Ihren Film?
In meinem Kibbuz wurde ich im Gespräch hart angegriffen. Aber für mich war es schon ein Erfolg, dass wir überhaupt über die Vergangenheit sprechen. Ausserdem zeigt die Wut, dass ich einen sensiblen Punkt berührt habe. Und vielleicht profitieren diejenigen, die wütend werden, am meisten vom Film. Sie haben sich davon berühren lassen und nicht einfach blockiert. Sie treten also in einen Veränderungsprozess ein, auch wenn sie das selbst gar nicht merken. Ich glaube, dass uns das weiterbringen wird.
Die Schweizer Filmemacherin Barbara Miller hat Michael Kaminer und seine Arbeit in einem Film für das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz porträtiert. Dass Filmemacher Michael Kaminer im Film « Sar’a » die Geschichte seines Kibbuz aufgerollt hat, geschah auf Anregung der israelischen Organisation Zochrot. Diese ist eine Partnerorganisation des Heks. Zochrot will die israelische Bevölkerung für die Geschichte der palästinensischen Vertreibung sensibilisieren. Ausserdem setzt sie sich für das Recht auf Rückkehr für die Palästinenser ein.

Sie haben also noch Hoffnung, dass sich etwas verändert.
Natürlich wird sich nichts verändern aufgrund eines einzigen Films. Aber vielleicht aufgrund vieler anderer Filme zusammen. Wenn viele Leute in einen Veränderungsprozess eintreten, dann kann das etwas bewirken. Vielleicht trägt auch der Film, den Heks über mich gemacht hat, dazu bei, obwohl er mir zuerst unangenehm war.
Warum?
Einerseits entspricht es nicht meinem Charakter, mich selbst ins Zentrum zu stellen. Ich bin normalerweise hinter und nicht vor der Kamera. Ausserdem verstand ich nicht, warum Heks mich ausgewählt hatte. Denn es gibt so viele Leute in Israel, die dazu beitragen wollen, den Konflikt zu lösen. Aber jetzt bin ich zufrieden damit, denn so kann ich meine Idee noch weiter tragen.
Sie sind auch in die Schweiz gereist, um das Gespräch anzustossen. Warum ist das nötig?
Ich will, dass das Gespräch sich ausbreitet. Ausserdem sind Israeli und Palästinenser so beschäftigt mit Kämpfen und Streiten, sie können keine Aussenperspektive mehr wahrnehmen. Da ist es gut, dass jemand von aussen hinzukommt.
Sie sprechen oft über die Träume von allen Beteiligten, die man anerkennen muss. Wovon träumen Sie?
Ich möchte einen Prozess anstossen: Kibbuzbewohner wie auch palästinensische Flüchtlinge sollen – zunächst getrennt – untereinander herausfinden, was sie eigentlich möchten und was mögliche Lösungen wären. Irgendwann könnten sich die Gruppen treffen und sich austauschen. Wie die Details aussehen könnten, weiss ich auch nicht. Denn das soll von den Betroffenen selbst ausgearbeitet werden. Das wäre eine Aushandlung auf Augenhöhe, ohne die Einmischung der Politik.