Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autorin: Johanna Wedl
Autorin: Antonia Moser
Freitag, 18. März 2022

Herr Zimmermann, die Schweiz hat eine der niedrigsten Organspende-Raten Europas. Wovor fürchten sich die Menschen?

Da fallen mir mehrere Dinge ein. Die Bevölkerung weiss generell wenig über das Thema. Ausserdem beschäftigen sich viele lieber nicht damit. Eine Studie hat gezeigt, dass eine grosse Mehrheit zwar sagt, sie wäre zu einer Spende bereit, einen Spenderausweis aber haben nur sehr wenige. Das hat vielfältige Gründe. Einer davon ist das Hirntod-Konzept: Es ist während der letzten Jahre in Zweifel gezogen worden.

Weshalb?

Der Philosoph Ralf Stoecker hat sich intensiv mit der Frage nach dem Hirntod beschäftigt. Er kommt zum Ergebnis: Beim Hirntod sind wir noch nicht tot, aber wir leben auch nicht mehr, es gibt sozusagen einen Zwischenbereich. Sterben sei ein Prozess, sagt er. Mir hingegen scheint es plausibel zu sagen, ein Mensch sei tatsächlich tot, wenn Gross-, Klein- und Stammhirn, also das gesamte Gehirn, irreversibel ausgefallen sind, wie es beim Hirntod der Fall ist.

Organspenden werden dann erst möglich.

Das ist richtig. Anders als in Deutschland ist es in der Schweiz erlaubt, Menschen nicht nur nach dem Hirntod Organe zu entnehmen, sondern auch infolge eines Herz-Kreislauf-Todes. In solchen Fällen muss es schnell gehen, damit die Organe noch brauchbar sind. Daher wird mit der Entnahme nur so lange wie nötig gewartet, momentan sind es fünf Minuten. Hier wird ­Skepsis laut, dass das zu kurz sein könnte, weil nach fünf Minuten vielleicht eine Auto-Reanimation möglich ist, der Mensch also spontan wieder ins Leben zurückkommen könnte. Meines Erachtens ist die Organtransplantation grundsätzlich ein Segen und zu begrüssen. Natürlich ist sie Teil der modernen Hightech-Medizin. Und sie bringt eine krasse Intervention in den Körper und den Leichnam mit sich – und zwar in der Zeit, in der sich Angehörige von ihren Liebsten verabschieden müssen. Das ist und bleibt ein Problem.

«Als katholischer Theologe bin ich geprägt von meiner Tradition, die körperliche Integrität sehr hoch bewertet.»

Wie meinen Sie das?

Es gibt spirituelle, religiöse Traditionen und Vorstellungen, die Organspenden ausschliessen. Diese sind grundsätzlich zu achten; das folgt erstens aus der Religionsfreiheit und zweitens daraus, dass die Bereitschaft zur Organspende ein altruistischer Akt ist, alles andere als selbstverständlich also. So sind in Japan die Menschen weniger bereit, ihre Organe zu spenden, als wir, weil es dort Tradition ist, sich in Ruhe und mit religiösen Ritualen von den Liebsten zu verabschieden. Im Judentum etwa ist es wichtig, dass der Körper unversehrt beerdigt wird, damit am jüngsten Tag alles wieder mit Leben gefüllt werden kann.

Das Schweizer Stimmvolk entscheidet im Mai über die sogenannte erweiterte Widerspruchslösung. Sie sieht vor, dass jeder Mensch automatisch Organspender wird, wenn er oder seine Angehörigen das nicht explizit ablehnen. Die Nationale Ethikkommission ist gegen diese geplante Gesetzesrevision. Weshalb?

Wesentlich erscheint uns einerseits, dass wir mit dem Modellwechsel nicht unbedingt mehr Organe generieren. Dies zeigen Zahlen aus Österreich, wo die Widerspruchslösung bereits praktiziert wird. Andererseits stellt die Widerspruchslösung einen Eingriff in die körperliche Integrität dar. In diesem Modell geht man davon aus, dass bei den meisten Menschen eine Bereitschaft zur Spende besteht. Ich wäre da mit Blick auf die heutige Anzahl der Spenderausweise skeptischer.

Ist es moralisch vertretbar, eine Güter­abwägung zu machen zwischen der Notwendigkeit der Organspende und der körperlichen Unversehrtheit?

Bei einer Obduktion stellen sich dieselben Fragen. Es kann übergeordnete gesellschaftliche Interessen geben, beispielsweise in einem Einzelfall zu wissen, was die Todesursache war. Ein Eingriff in einen Leichnam kann also gerechtfertigt sein.

Markus Zimmermann ist seit 2014 Mitglied der Nationalen Ethikkommission, seit 2016 amtiert er als Vizepräsident. Der Ethiker und katholische Theologe hat in Frankfurt und Fribourg studiert, er lehrt und forscht an der Universität Fribourg. Zimmermann leitete ein nationales Forschungsprogramm (NFP 67) zum Thema Lebensende; er hat unter anderem zu Fragen rund um den assistierten Suizid publiziert. Der 59jährige ist verheiratet, er hat vier Kinder und lebt in Fribourg und Kiel.

Für den körperlichen Eingriff bei der Organspende spricht, dass damit ein anderes Leben gerettet werden kann.

Das ist tatsächlich ein guter Grund. Die einen gewichten das übergeordnete Interesse einer Gesellschaft, möglichst viele ­Organe zur Verfügung zu haben, höher als das individuelle Grundrecht auf die Intaktheit des eigenen Körpers. Als katholischer Theologe bin ich geprägt von meiner Tradition, die körperliche Integrität sehr hoch bewertet. Eine Spende ist zudem ein altruistischer Akt; die Bereitschaft dazu sollte darum meines Erachtens aktiv erklärt werden.

Es darf also keine moralische Verpflichtung dafür geben?

Nein. Das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Eine Spende ist eine freiwillige Gabe, zu der ein Mensch bereit sein muss. Man kann sich zudem fragen, wer ich bin, wenn in mir das Herz eines anderen Menschen schlägt. Bin ich dann noch derselbe Mensch? Diese Fragen betreffen die eigene Identität, und das in einem noch viel stärkeren Mass, wenn einem Menschen das Herz eines Schweins transplantiert wird. Das wurde kürzlich erstmals in den USA versucht, doch der Patient ist nach zwei Monaten verstorben. Ein Freund von mir hat eine Niere gespendet bekommen, ohne die er vermutlich nicht mehr leben würde. Seither muss er täglich Tabletten einnehmen, um die Abstossung des fremden Organs zu verhindern.

Zum Selbstbestimmungsrecht gehört auch das Recht, über etwas nicht nachdenken zu wollen: Ich muss mich nicht damit befassen, ob ich Organe spenden will oder nicht.

Das sehe ich genauso. Ich kenne diese Haltung aus den Lebensende-Debatten. Es gibt Menschen, die sich nicht mit ihrem Sterben befassen möchten. Das heisst nicht, dass das unüberlegt wäre. Sie sehen es vielleicht wie Epikur vor 2300 Jahren: Solange ich lebe, muss ich den Tod nicht fürchten, und bin ich einmal tot, wird mich das auch nicht mehr kümmern, denn dann ist für mich ja alles vorbei.

Wie lässt sich das im Hier und Jetzt verstehen?

Eine Person, die so lebt und denkt, wird vermutlich keine Pa­tientenverfügung ausfüllen, und genauso wenig wird sie sich zur Organtransplantation äussern wollen. Das ist meines Erachtens zu respektieren. In der Nationalen Ethikkommission haben wir uns dafür ausgesprochen, eine Erklärungsregelung einzuführen, einen gut schweizerischen Kompromiss. Sie sieht vor, dass Menschen regelmässig aufgefordert werden, zu sagen, ob sie bereit sind, Organe zu spenden. Sie hätten auch die Möglichkeit, anzukreuzen, dass sie sich zu dieser Frage nicht äussern wollen. Die Entscheide würde der Bund in einem Spende-Register fest­halten. Der Nachteil dieses Modells ist, dass sich Menschen bedrängt fühlen könnten. Deshalb könnte es so gemacht werden, dass beispielsweise nur alle zehn Jahre gefragt würde, in der Zwischenzeit aber immer die Möglichkeit bestünde, die Meinung zu ändern und den Eintrag anpassen zu lassen.

Wird ein Mensch für tot erklärt, müssen oft die Angehörigen entscheiden, ob ein Organ entnommen werden darf oder nicht. Wie gross ist die Verantwortung, die ihnen damit übertragen wird?

Das kann eine grosse Bürde sein. Es sind schwierige Entscheidungen zu fällen, und diese betreffen oft mehrere Angehörige, die sich erst einmal verständigen und dann einigen müssen. Es ist deshalb gut, wenn eine Person zu Lebzeiten bestimmt, ob sie ihre Organe spenden will oder nicht. Meines Erachtens sollten aber die Angehörigen das letzte Wort haben. Ich selbst habe ­einen Spenderausweis. Wenn jedoch meine Frau oder meine Kinder aus welchem Grund auch immer die Vorstellung nicht ertragen, dass mir Organe entnommen werden, sollten sie ein Vetorecht haben.

«Eine Spende ist eine freiwillige Gabe, zu der ein Mensch bereit sein muss.»

Weshalb?

Organe sollten nicht über die Köpfe der Angehörigen hinweg entnommen werden. Geschähe dies, könnten sich für die Betroffenen unter Umständen lebenslange Probleme ergeben. Darum halte ich nur eine erweiterte Zustimmungs- oder Widerspruchslösung für vertretbar. Eine enge Lösung, bei welcher der fehlende Widerspruch als Einwilligung zur Organspende betrachtet wird und bei der die Angehörigen nicht befragt werden, liesse sich kaum umsetzen. Das zeigt auch die Praxis in Spanien oder in Österreich: Offiziell gilt in beiden Ländern die strikte Widerspruchsregelung, praktiziert wird hingegen eine erweiterte. Alles andere wäre unrealistisch.

Wie soll man herausfinden, ob die Menschen, die einem nahestehen, ihre Organe nach dem Tod spenden würden, wenn sie zu Lebzeiten dazu nichts sagen?

Das ist sehr schwierig und wohl kaum möglich. Besser wäre, sich zu Lebzeiten zuerst bei der Hausärztin zu informieren, worum es bei der Organspende geht. Sie kann verständlich erklären, was bei einer Entnahme passiert. Anschliessend wäre dann ein Gespräch mit dem Partner oder Freunden gut, um zu erkunden, wie sie das sehen. Das setzt aber die Bereitschaft voraus, sich mit Sterben und Tod beschäftigen zu wollen. Je näher man einander ist, umso schwieriger kann das sein. Die Vorstellung, sich von geliebten Menschen verabschieden zu müssen, macht Angst und ist schmerzhaft. Hinzu kommt: Bis in die 1950er Jahre waren Menschen vertraut mit dem Sterben. Viele sind zuhause gestorben oder auf der Strasse, es gab zahlreiche tödliche Verkehrsunfälle. Heute hingegen sterben achtzig Prozent der Schweizerinnen und Schweizer in Pflegeheimen oder Spitälern. Wir sind nicht mehr mit dem Sterben vertraut.

Weil eine Organentnahme innert kurzer Zeit gemacht werden muss, bleibt den trauernden Angehörigen kaum Zeit, sich vom Verstorbenen zu verabschieden. Kann es sein, dass jemand eine Spende deshalb ablehnt?

Das ist tatsächlich entscheidend: Gelingt es den Beteiligten in den Spitälern, den Angehörigen so zu begegnen, dass es für sie erträglich ist und der individuelle Trauerprozess geachtet wird? Ärzte oder Ärztinnen, die Angehörige um die Zustimmung zu einer Organentnahme bitten, müssen sich Zeit nehmen. So dass sie mit den Hinterbliebenen anständig und einfühlsam sprechen können.

Was müsste man tun, um die Spendebereitschaft generell zu erhöhen?

Wesentlich ist das Vertrauen in das gesamte System und natürlich in seine Vertreterinnen und Vertreter, allen voran die Ärzte. Einen Transplantationsmediziner kennen wohl nur die wenigsten persönlich, aber wenn ich von jemandem höre, dass ­eine bestimmte Person gute Arbeit in diesem Bereich leistet, kann ich dieses Vertrauen auch aufbauen, ohne Ärzte direkt zu kennen. Darüber hinaus braucht es einen breiten gesellschaftlichen ­Diskurs. Wir müssen offen und ehrlich über das Thema reden.

In der Schweiz gilt bei der Organspende die Zustimmungs­lösung: Nur wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten einer Spende zugestimmt hat, dürfen ihr Organe entnommen werden. Ohne Willensäusserung müssen die Angehörigen entscheiden. Nun wollen Bundesrat und Parlament die erweiterte Widerspruchslösung einführen: Wer nach seinem Tod keine Organe spenden will, soll dies festhalten müssen. Hat die verstorbene Person ihren Willen nicht dokumentiert, gilt dies als Einwilligung für eine Organentnahme. Allerdings sollen bei fehlendem Widerspruch wie bisher die Angehö­rigen miteinbezogen werden. Sie können einer Entnahme von Organen, Gewebe und Zellen widersprechen — wenn dies dem mutmasslichen Willen der sterbenden Person entspricht.

Weil gegen die erweiterte Widerspruchslösung ein Referendum eingereicht wurde, stimmt das Volk am 15. Mai über die Änderung des Transplantationsgesetzes ab.

Was könnten Spitäler dazu beitragen?

Die Kliniken, in denen Organentnahmen durchgeführt werden sollen, brauchen eine klare Zusage, dass dieses Vorgehen für sie finanziell gedeckt ist. Es braucht in jedem Spital eine beauftragte Person, die mögliche Spender ausfindig macht und die auch jederzeit ansprechbar ist. In Spanien ist das weitgehend etabliert. Wenn man lernen will, wie es gelingt, dass mehr ­Menschen bereit sind, ihre Organe zu spenden, sollten wir dorthin schauen. Spanien erreicht seit Jahren im internationalen Vergleich Höchstwerte.

Was ist in Spanien anders?

Es gibt eine Sensibilität, eine Wachheit für das Thema, vermutlich weil öffentlich viel mehr darüber gesprochen wird. In den Kliniken arbeitet speziell geschultes Personal, alles wird angemessen honoriert. In der Gesellschaft gibt es ein Bewusstsein für die Organspende und eine breite Debatte darüber. Ähnlich ist es bei uns im Tessin. Die Spendebereitschaft ist dort höher als in den anderen Landesteilen. Das dürfte massgeblich auf das jahrelange Engagement einzelner Persönlichkeiten in der Tessiner Öffentlichkeit zurückgehen.

Die ehemalige Politikerin und Zürcher Gesundheits­vorsteherin Verena Diener hat einmal gesagt, sie möchte weder ein Organ spenden noch eines empfangen.

In der Ethik wird das als «Clubmodell» diskutiert: diejenigen, die ein Organ spenden wollen, gehören zum Club dazu, die anderen bleiben aussen vor. In der Praxis würde ein solches ­Modell nur auf freiwilliger Basis funktionieren. Einem Schwerkranken in der Not zu sagen: Du bekommst kein Herz, weil du keinen Spenderausweis unterschrieben hast, liesse sich mit dem ärztlichen Ethos kaum vereinbaren.

Mussten Sie selbst schon einmal über eine Organspende entscheiden?

Nein. Von meiner Frau weiss ich, dass sie eine Organspende eher skeptisch beurteilt. Und bei den eigenen Kindern darüber entscheiden zu müssen wäre furchtbar und unerträglich, besonders dann, wenn sie plötzlich verstorben wären.