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Freitag, 17. August 2018

Ich war ein stationierter Prediger einer wakeren Gemeinde zu Bern in der Schweiz, wo ich sowohl als meine Gattinn, aus gutem Geschlecht herstammten, wir lebten mit unseren Kindern ein frohes und zufriedenes Erdenleben und ich dachte wohl nichts weniger, als dass dasselbige noch vor meinem Ende, einen so beträchtlichen Umsturz erleiden könnte. Allein anders dachte es die Vorsehung des Herrn, welche ohne Zweifel uns gleichsam aber nur im Vorbeygang seine Zohrnruthen schmeken lassen wollte wegen dem unbegreiflichen Leichtsinn in welchem der Grösste Theil der Natiohninsonderheit unseres bernischen Vaterlandes versunken waren.

Aus dem Originaltext des Schweizerischen Robinsons

Fast jeder kennt die Geschichte von Robinson Crusoe. Vom Seemann, der Schiffbruch erleidet und danach ein halbes Leben auf einer Insel verbringen muss. Jedoch kaum einem ist das Werk Der Schweizerische Robinson bekannt – zumindest nicht in der Schweiz. In der Geschichte bringt ein Sturm eine Berner Pfarrfamilie im Pazifik in Not. Tagelang treibt ihr Segelschiff im Meer und läuft schliesslich auf einen Felsen auf. Unaufhaltsam dringt Wasser ein. Mit letzter Kraft rettet sich die Auswandererfamilie auf eine unbewohnte Insel. Dort müssen sich Vater und Mutter und die Kinder Franz, Jack, Fritz und Ernst – sowie die Doggen Türk und Bill – durchschlagen, bis Rettung kommt. Sie bauen ein Baumhaus und mehrere Hütten, richten sich ein Quartier in einer Höhle ein, legen Pflanzungen an, jagen und zähmen Tiere.

Das Buch wurde in rund zwanzig Sprachen übersetzt und avancierte vielerorts – insbesondere in den USA – zum Bestseller. Sogar Walt Disney interessierte sich für die Abenteuergeschichte und brachte 1960 den Film Swiss Family Robinson heraus. Es folgten weitere TV-Filme und -Serien und in den achtziger Jahren ein Game für den Spielecomputer Commodore 64. Der Germanist Peter von Matt schrieb einst in einem Essayband gar: «Weltweit gesehen steht Der Schweizerische Robinson gleichrangig neben Spyris Heidi.»

Die Wurzeln der Geschichte reichen allerdings viel weiter zurück als bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts: Bereits in der Zeit von 1794 bis 1798 verfasste Johann David Wyss, damals Pfarrer am Berner Münster, seinen Robinson. «Wyss hat die Geschichte für seine vier Söhne erfunden, um sie unterhaltend zu belehren und ihnen einen Spiegel vorzuhalten», sagt Autor Peter Stamm, der 2013 eine Neuversion des Buchklassikers geschrieben hat. Stamm kannte die Geschichte von früher und wollte sie seinen Kindern ebenfalls vorlesen. Das Buch war indes vergriffen. «Als ich dann doch noch eine Version auftreiben konnte, fand ich die langen und komplexen Sätze schwer vorzulesen. Auch der Inhalt wirkte etwas gar altmodisch, mit seinen vielen Ermahnungen und Belehrungen», sagt Stamm. Also entschloss er sich, eine eigene Version zu schreiben.

Johann David Wyss schrieb den Robinson ursprünglich für seine Kinder – und nicht für eine breite Öffentlichkeit.

Der Titel des ursprünglich vierbändigen Manuskripts lautete Charakteristik meiner Kinder in einer Robinsonade und hätte eigentlich gar nie veröffentlicht werden sollen. Auf die Idee kam erst Wyss’ Sohn, der Philosophieprofessor Johann Rudolf Wyss, der die Geschichte zwischen 1812 und 1827 in vier Bänden herausgab. Etwas sperrig lautete der Titel damals Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer-Prediger und seine Familie. Ein lehrreiches Buch für Kinder und Kinder-Freunde zu Stadt und Land. Laut Stamm nannte Johann Rudolf Wyss in den ersten Bänden den wahren Urheber des Werkes noch nicht, sondern behauptete, das Manuskript von einem Seemann bekommen zu haben. Erst im vierten Band, der 1827 erschien, neun Jahre nach dem Tod von Johann David Wyss, wurde dieser als Autor gewürdigt, und der Sohn lieferte eine kurze und liebevolle Biografie seines Vaters mit.

Dennoch: vieles im Leben von Johann David Wyss bleibt im dunkeln. Klar ist, dass er 1743 in Bern geboren wurde und einer der ältesten Familien der Stadt entstammte. Sein Vater besass ein Backstubenhaus und war Oberst im Militär. Auch Johann David Wyss machte in der Armee Karriere, wie Oliver Meier, Journalist bei der Berner Zeitung in einem Artikel schrieb. Nach dem Theologie- und Philosophiestudium ging Wyss im Alter von 23 Jahren als Feldprediger ins Regiment von Samuel Tscharner, das in königlich-sardischen Diensten stand. Dort nahm er sich der Bibliothek des Regimentsarztes an und bildete sich als Autodidakt umfassend weiter. Zurück in der Schweiz, erhielt er im bernischen Seedorf als 32jähriger seine erste Pfarrstelle. Zwei Jahre später wurde er 1777 ans Berner Münster befördert, wo er fast vierzig Jahre blieb. In dieser Zeit stieg er in der Hierarchie immer weiter auf. Als man ihm jedoch die oberste Pfarrstelle am Münster anbot, lehnte er ab. Ein Jahr nach dem Zusammenbruch des Ancien Régime und der Installierung der Helvetischen ­Republik durch Napoleon soll Wyss die exponierte Stelle als zu schwierig und belastend empfunden haben.

Wohl dann würde mich’s auch hoch erfreuen, wenn in der Ferne, zumal im theuern Vaterlande, hin und wieder ein Vaterherz oder ein Mutterherz sympathetisch in meine oder in meiner trefflichen Gattin einsame Lage sich versetzte, und irgend ein Wort des Trostes oder der nützlichen Belehrung aus meiner anspruchlosen Erzählung zu holen vermöchte. Nicht mit dem Dünkel eines gelehrten Erziehers schrieb ich; unverholen gab ich, was just bey uns und von uns geschah.

Aus dem Originaltext des Schweizerischen Robinsons

Wo Johann David Wyss politisch genau stand, bleibt laut Oliver Meier diffus. Als Aufklärungstheologe, der die Religion als «Mittel zur Volkserziehung» betrachtete, sei er der Moderne durchaus zugewandt gewesen. Und im Schweizerischen Robinson finden sich spitze Bemerkungen gegen das Berner Patriziat. Andererseits zeichnete Johann Rudolf Wyss seinen Vater später als Mann von «antirevolutionärer Gesinnung», der die «Lust zu seinem Vaterlande» verloren habe. «Der Niedergang des bernischen Staatswesens, die hereinbrechende Revolution (…) haben den politisch doch konservativ gesinnten Pfarrherrn irritiert.»

Nach Einschätzungen von Peter Stamm muss Johann David Wyss ein empathischer Vater gewesen sein. «Dass er sich eine solche Geschichte für seine Kinder ausdachte, zeigt, dass er gerne und viel mit ihnen unternommen hat. Für jene Zeit sicher keine Selbstverständlichkeit.» Interessanterweise gehe es im Buch auch nicht frömmlerisch zu. Gebete in der Familie fänden im Buch selten statt. «Mit moralischen Fragen – etwa, wie wir uns gegenüber der Natur verhalten sollten – geht Wyss subtiler um.»

Gesellschaftspolitisch ist dem Buch in der Vergangenheit oft ein Hang zum Patriarchalen vorgeworfen worden. Ein Literaturwissenschaftler, der in den siebziger Jahren über das Werk dissertierte, aber seine Arbeit nie einreichte oder publizierte, meinte im persönlichen Gespräch mit Stamm, man habe damals das vermittelte Geschlechterbild verurteilt und die Art, wie die Natur ausgebeutet werde. Inzwischen finde er diese Lesart aber unangemessen, weil sie die Zeit nicht berücksichtige, in der der Text entstanden sei. Auch Stamm sagt, dass die Rollenverteilung zwischen den Eheleuten zwar tatsächlich klassisch, die Mutter der Robinsone aber durchaus kein Hausmütterchen sei. «Sie ist eine selbstbewusste und selbständige Frau mit viel Eigeninitiative.»

Auch der Umgang mit der Natur ist laut Stamm vorbildlich. So werden ausdrücklich nur Tiere gejagt, die entweder als Nahrungsquelle dienen oder eine Bedrohung für die Familie darstellen. 164 Tier- und 102 Pflanzenarten hat Hannelore KortenbruckHoeijmans gezählt, eine der wenigen Forscherinnen, die sich mit dem Schweizerischen Robinson befasst hat. Von Krokodilen bis hin zu Orang-Utans, Walrössern, Giraffen und Nilpferden: Stellenweise liest sich das Buch wie ein Index der damals bekannten Tierarten. «Die botanischen und zoologischen Kenntnisse von Johann David Wyss waren erstaunlich genau. Ich musste nur ganz wenige offensichtliche Fehler korrigieren, etwa die Anzahl Eier, die ein Strauss legt», sagt Stamm.

Robinson im 21. Jahrhundert

Fasziniert von Wyss’ Wissen und seinen Überlegungen ist auch der Literaturvermittler Hans Ruprecht. Gleich zu Beginn beispielsweise müsse sich die Familie entscheiden, welche Dinge sie mit auf die Insel nehmen und welche sie zurücklassen will. «Es wird schnell klar, dass materieller Besitz in einer solchen Situation zum grossen Teil nicht weiterhilft.» Ruprecht mag auch den Stil des Buches. «Johann David Wyss hatte ein gutes Sprachgefühl. Das ist schon erstaunlich, schliesslich war er ja kein Literat.»

Wir waren in einer Lage, auf die man sich nicht schulgerecht vorbereiten kann. Es scheint mir jedoch, dreyerley hat uns vorzüglich geholfen, und sollte für alle ähnlichen Lagen nach bester Möglichkeit vorbereitet werden: erstlich, ergebene Zuversicht zu dem Vater alles Guten; zweytens, rege Thätigkeit; drittens, vielfältige, obgleich zum Theil nur zufällig aufgeraffte Kenntnisse, die nicht unter dem kleinlauten Gewinsel eingesammelt worden, was kann mir das jemals nützen?

Aus dem Originaltext des Schweizerischen Robinson

Dass die Geschichte etwa in den USA bekannt geworden ist, in der Schweiz jedoch nicht, erklärt sich Ruprecht mit den unterschiedlichen Traditionen der beiden Länder: «Die Amerikaner können sich vermutlich viel eher mit Auswanderergeschichten identifizieren als Familien hierzulande.» Trotzdem sei das Buch gerade für die Schweiz aktueller denn je: «Wir leben ja immer mehr auch auf einer Insel, versuchen uns gegen aussen abzuschotten.»

Ruprecht organisiert unter anderem das Berner Literaturfest, das sich dieses Jahr dem Werk von Johann David Wyss widmet. «Wir wollen dem Buch einen Push geben», sagt er. Dabei sollen Wyss’ Texte in die Gegenwart geholt werden. Die Literaturschaffenden Guy Krneta, Pedro Lenz und Beat Sterchi werden einzelne Seiten neu interpretieren. «Ich bin gespannt, was für heutige Perspektiven es bei diesem Text gibt. Die Autoren haben Freiraum, ich mische mich nicht ein», sagt Ruprecht.

Bisher wurden Johann David Wyss und sein Welthit in der Heimat eher stiefmütterlich behandelt. Vielleicht können ja Neuinterpretationen und Literaturfestivals etwas daran ändern. So gesehen begeben sich die Texte des Pfarrers selbst noch einmal auf eine Art Abenteuerreise – 200 Jahre nach ihrer Entstehung.

Andreas Bättig ist Redaktor bei bref.