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Autorin: Barbara Schmutz
Bilder: Annick Ramp
Freitag, 11. Februar 2022

Herr Mathwig, theologische und philosophische Texte befassen sich mit dem Vergessen stärker als mit dem Erinnern. Was macht das Vergessen so interessant ?

Das Erinnern ist der Normalfall, das Vergessen die Herausforderung. Dort, wo wir das Erinnern selbst nicht schaffen, gelingt es durch die Digitalisierung, die uns ein Stück weit das Gedächtnis ersetzt. Nichts, was gesagt und was publiziert worden ist, verschwindet je wieder. Wir haben vergessen zu vergessen, wir erinnern alles, alles ist irgendwo gespeichert. Das Vergessen fordert uns heraus, weil wir nicht kontrollieren können, was wir vergessen. Das ist eine Zumutung für unser neuzeitliches Menschenbild, das besagt, dass wir autonome, rationale Wesen sind. Wäre Vergessen ein aktives Handeln, könnten wir es steuern. Aber in dem Moment, in dem wir sagen : Das würden wir gern vergessen, haben wir es wieder erinnert.

Sogar stärker als zuvor.

Ganz genau ! Mit der Aufforderung, etwas zu vergessen, ist es wie mit der Aufforderung : Sei doch mal spontan ! Das funktioniert nie. Das Vergessen macht das Leben ein wenig zu einem Tanz auf der Rasierklinge, zu einem hochriskanten Unternehmen, weil wir etwas vergessen könnten, das wir auf jeden Fall erinnern wollen.

Die meisten von uns begreifen aber das Erinnern als Herausforderung. Wir versuchen, das Gedächtnis möglichst lang fit zu halten, erinnern uns an Jahres­tagen und Jubiläen daran, was in der Vergangenheit geschehen ist. Kann es auch zu viel Erinnern geben ? 

Ich denke schon. Weshalb aber ist uns Erinnern so wichtig ? Wir sprechen häufig von Erinnerungskulturen. Ich stamme aus Deutschland, dort gibt es aus historischen Gründen ein starkes Interesse für das Erinnern. Kommt der Verdacht auf, dass zu wenig erinnert wird, entsteht schnell eine Verunsicherung. Erinnern hat für die Gesellschaft eine disziplinierende und sozialhygienische Funktion. Erinnerungen sind der Rohstoff für Normalität : Heute ist es wie gestern und morgen wird es genauso sein. Das hat auch einen wichtigen moralischen Effekt. 

«Mit der Aufforderung, etwas zu vergessen, ist es wie mit der Aufforderung : Sei doch mal spontan ! Das funktioniert nie.»

Inwiefern diszipliniert uns das Erinnern ?

Es hilft uns, aus Fehlern zu lernen. Wir müssen sie erinnern können, damit wir sie nicht erneut machen.  

Und so aus der Geschichte lernen können.

Es gibt immer noch Kriege. Es gibt nach wie vor viele diskriminierende Strukturen, die wir immer wieder reproduzieren, statt dass wir sie längst abgeschafft hätten. Und wir müssen uns mit dem Klimawandel herumschlagen. All das spricht gegen die Annahme, wir würden aus der Geschichte lernen. 

Woher stammt die Idee denn ?

Sie hat damit zu tun, dass wir so gern moralisch gute Wesen wären und uns mit dieser Sehnsucht strapazieren. Das zeigt sich daran, wie wir mit der Bibel umgehen. Wir glauben, die starke Erinnerungskultur, die darin beschrieben ist, diene dazu, Handlungsanweisungen abzuleiten. Doch tatsächlich ist es so, dass uns die Erinnerungen helfen können, uns als Teil einer Geschichte und einer Gemeinschaft zu begreifen. Wenn wir nun beginnen, die Moral hinter den einzelnen Geschichten zu suchen, objektivieren wir sie und sie verlieren ihre Lebendigkeit. Dann wird aus identitätsfördernder Erinnerung ein statischer Text, so trocken wie die Gebrauchsanweisung für einen Toaster. Und wir erleben uns nicht mehr als Teil der Geschichte, sondern fragen uns, was das Ganze mit uns zu tun hat.

Weshalb lernen wir, wie wir uns an etwas erinnern, aber nicht, wie wir etwas vergessen können ?

Es gibt die antike Kunst des Vergessens, die Lethe. Allerdings ist auch sie längst in Vergessenheit geraten. Heute gilt : Ich denke, also bin ich. Unsere Identität ist an unsere kognitiven Fähigkeiten gekoppelt – Wissen ist Macht. Den archaischen Vorteil, die physisch stärkere Person zu sein, haben wir insofern kultiviert, als wir auf die kognitiven Vorteile setzen. Um die zu erreichen, erlauben wir uns kaum mehr Entspannung, sondern sind dauerpräsent.

« Ich glaube nicht, dass wir Gott vergessen können, weil ich bezweifle, dass wir Gott erinnern können. Entscheidend ist, dass Gott uns nicht vergisst. »

Damit wir noch gescheiter, noch smarter, noch erfolgreicher sind. Welchen Zustand wollen wir denn mit der Selbstvergessenheit erreichen ? 

Eine Person in einem Zustand der Selbstvergessenheit ruht in sich. Sie hat vergessen, über sich nachzudenken. Das kann ein sonniges Glück oder ein grosses Unglück sein.

Wenn ich verliebt bin, sinniere ich nicht über mein Verliebtsein, ich bin es einfach. Wenn wir denken, geht es häufig darum, uns zu vergewissern, dass etwas so ist, wie es ist, dass es gar nicht anders sein kann und dass es dafür Gründe gibt. Im selbstvergessenen Zustand müssen wir diese ganze Batterie für einmal nicht abarbeiten und sind deshalb wahrscheinlich glücklich. Friedrich Nietzsche hat das Vieh auf der Weide so bezeichnet : Es ist glücklich. Er illustriert dies mit einer Erfahrung, die für uns selbstverständlich ist, von der wir aber überzeugt sind, dass das Vieh sie nicht hat, nämlich in Zeitdimensionen zu denken. Das Vieh stellt die Zukunftsfrage nicht, es lebt im Moment. So betrachtet könnte man sagen, Selbstvergessenheit ist leben im Hier und Jetzt.

Obwohl wir Vergessen meist als negativ empfinden, bezeichnen Sie ausgerechnet die Selbstvergessenheit als glücklichen Zustand. 

Vielleicht ist er nicht erstrebenswert, aber er macht mich glücklich. Weil ich keine Angst mehr habe, von der Vergangenheit eingeholt zu werden, und keine Sorge, ob die Zukunft so sein wird, wie ich sie jetzt plane. Im selbstvergessenen Zustand ist die Stimmung des Augenblicks total und gleichzeitig vollkommen zeitlos. Die Zeit ist vielleicht das grosse Drama des Denkens und Erinnerns. 

Das klingt spannend, bitte erklären Sie. 

Das Erinnern ist ja nicht nur verknüpft mit all den positiven Dingen, die unsere Gegenwart und möglicherweise auch unsere Zukunft verlässlich machen. Es ruft uns auch ins Gedächtnis, dass nichts auf Ewigkeit gestellt ist. Diese Zeitdimension verübelt uns den Gedanken der Ewigkeit, ja sie verbietet ihn sogar. Das ist das Drama – wir denken immer in der Zeit, wir können nicht anders. 

Wenn wir uns erinnern, hat das nicht nur mit Zeit zu tun, sondern auch mit Menschen und Orten. Die Erinnerung hat viele Orte. Hat auch das Vergessen einen Ort ?

Ich überlege gerade, ob die Antwort auf Ihre Frage die Umkehrung der Frage sein könnte : Wie, wenn nur das Vergessen einen Ort hätte ? Und die Erinnerung wie auch alle anderen kognitiven Leistungen durch eine gewisse Ortlosigkeit gekennzeichnet ist. 

Woran machen Sie das fest ?

Zumindest jetzt, im digitalen Zeitalter, können wir an jedem Ort der Welt dieselbe Person sein, was etwa den Zugang zu Informationen oder die Kommunikation mit anderen betrifft. Die Sängerin Björk sagte einmal, « Home is where my laptop is ». Diese Ortlosigkeit macht den Ort zu einem fluiden, mentalen Zustand.  

« Das Erinnern ist nicht nur verknüpft mit positiven Dingen. Es ruft uns auch ins Gedächtnis, dass nichts auf Ewigkeit gestellt ist. »

Als ich eine Weile auf einem anderen Kontinent lebte, hätte ich mich im Gespräch mit anderen neu erfinden können, tat es aber nicht. Weil ich vielleicht selbst der Ort bin, verknüpft mit Erfahrungen, Erinnerungen und Beziehungen zu anderen, die mich ausmachen ? 

Das hat viel für sich, ich würde es aber nicht Ort nennen, sondern Raum. Ein Raum, der bestimmt ist und den auch wir durch unsere sozialen Beziehungen bestimmen. In unserer globalisierten Welt denken wir weniger in Orten als vielmehr in Räumen. Der Ort, im Koordinatensystem fest verankert, bleibt immer an Ort und Stelle, der Raum aber, im Sinne eines Horizonts, ist genauso beweglich wie wir. 

Erinnern ist eine Fähigkeit, etwas, das wir leisten. Und das Vergessen ? Ist es nur ein Unterlassen unseres Gehirns ?

Im Gegenteil. Das Vergessen ist eine enorme Leistung. Ich schreibe gerade einen Text zu den bioethischen und fortpflanzungsmedizinischen Konsequenzen der Ausweitung der Ehe auf nicht heterosexuelle Paare. Die Verabschiedung einer heteronormativ dominierten Welt fällt uns vielleicht so schwer, weil wir uns nicht von verinnerlichten Vorstellungen und Gesellschaftskonstruktionen lösen können. Es gelingt uns offensichtlich nicht, sie zu vergessen. Sobald sich die Situationen oder die Verhältnisse um uns herum verändern, irritiert die Erinnerung unsere vertrauten Selbst- und Weltbilder. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass dagegen zweierlei hilft : Wenn man zum einen vergesslich ist und zum anderen notorisch neugierig. Wenn uns das Bekannte und Erinnerte zu langweilen beginnt, wird die Zukunft attraktiv, weil sie unbekannt ist. Vielleicht könnten wir lernen zu vergessen, wenn wir uns darin üben würden, regelmässig neugierig zu sein. Also, uns immer wieder die Frage stellen, wie es wäre, wenn es ganz anders wäre. Die Zeit, in der wir leben, eignet sich bestens für ein solches Experiment. Wir sagen, nach Corona wird nichts mehr so sein wie vorher. Wir sagen, der Klimawandel und die politischen Verwerfungen machen, dass nichts mehr so sein wird wie vorher. Das hat etwas Bedrohliches, weil unsere Bestätigungen und Erinnerungen dadurch gefährdet sind. Wir können aber auch sagen : Wir sind gespannt, welche Möglichkeiten sich aus den heutigen Situationen ergeben. Sätze wie : Es muss so sein, weil es immer so war, sind doch furchtbar langweilig. 

Frank Mathwig (61) studierte an der Philips-Universität Marburg und an der Universität Hamburg Evangelische Theo­logie und Philosopie. Neben seinem Studium liess er sich zum Krankenpfleger ausbilden und arbeitete neben­beruflich in einem Rehabilitationszentrum für Schwerbehinderte und in der Intensivrehabilitiation. Unter anderem betreute und pflegte er Wachkoma-Patientinnen und -Patienten.

Von 1999 bis 2005 arbeitete Mathwig an der Universität Bern, wo er erst im Forschungsprojekt « Medizinische Ethik zwischen technischen Herausforderungen und ökonomischen Grenzen » tätig war und danach am Institut für Systemische Theologie.

Seit 2005 ist er Beauftragter für Ethik am Institut für Theolo­gie und Ethik der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Seit 2007 hat er zudem einen Lehrauftrag an der Universität Bern inne, die ihn 2011 zum Titularprofessor ernannte.

Im Jahr 2014 wählte ihn der Bundesrat in die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin.

Zusammen mit einer Zwillingsschwester und einem Bruder wuchs Frank Mathwig in Herford, Nordrhein-Westfalen, in einem freikirchlichen Elternhaus auf. 

Die Abstimmung zur « Ehe für alle » hat gezeigt, dass sich Moralvorstellungen immer wieder ändern. Es ist deshalb nicht möglich, dass alles so bleibt, wie es mal war. 

Ganz genau. Unsere Moralvorstellungen sind Seismographen für die Werte und Regeln, die in einer Gesellschaft anerkannt sind. Ändern sie sich, findet das oft im Recht Niederschlag. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir durchaus vergessen können. Gerade in einer multikulturellen Gesellschaft sind wir immer wieder mit Verhaltensweisen konfrontiert, die für uns befremdlich sind. Doch bei genauerem Hinsehen entdecken wir, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass ähnliche Verhaltensweisen auch für uns selbstverständlich waren. Dass wir uns eine solche Vergangenheit weder vorstellen können noch vorstellen wollen, zeugt von einem Vergessen, das uns offen für die Zukunft macht.  

Beeinflusst das Vergessen unsere Lebensgeschichte ähnlich stark wie das Erinnern ? 

Vergessen ermöglicht uns zumindest punktuell, neu zu beginnen. Das hat etwas Entspannendes. Ich möchte manchmal sagen : Hier ist diese eine Geschichte fertig. Und ich wünsche mir, dass sie tatsächlich zu Ende geht und ich den Ballast, den ich mitschleppe, abwerfen kann. Ich mich also nicht mehr ständig fragen muss, ob die Entscheidungen, die ich getroffen habe, richtig waren. Erinnern und Vergessen beeinflusst unsere Fähigkeit, neue Urteile fällen und Dinge anders sehen zu können. Das Vergessen macht das Leben zwar riskanter, eröffnet gleichzeitig aber neue Perspektiven. 

Wie verhält es sich mit dem Verzeihen ? Ist es ein Sonderfall des Vergessens ?

Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen uns, wie es mit der Versöhnung aussieht. Erinnerungskulturen stehen oft im Zeichen der Versöhnung, denken wir etwa an die Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika, wo die Kirchen eine sehr grosse Rolle gespielt haben. Der Gedanke, dass Verzeihen ein Sonderfall des Vergessens sein könnte, ist nicht ungefährlich. Ich halte es für falsch, darüber nachzudenken, wie Opfer nicht mehr Opfer sein können. Das würde bedeuten, das Opfersein einer Person wie eine vorübergehende Krankheit zu betrachten. Nur das Opfer selbst kann diese Erfahrung bewältigen. Auch wenn es der Person gelingt, eine befreiende Lebensperspektive zu gewinnen, ist und bleibt sie das Opfer, das sie geworden ist. Eine Politik, die auf das Vergessen der Opfer zielt, ist ein Verbrechen ! Verzeihen ist kein Vergessen. Vielmehr gibt es kein Verzeihen ohne Erinnern. 

Erinnern, respektive nicht vergessen können, hat mit der Epigenetik auch eine biologische Komponente. Der Zweig der Genetik, der erforscht, wie Umwelt­einflüsse, Ernährung und Lebensstil die Steuerung des Erbguts beeinflussen, zeigt, dass Erfahrungen über Generationen hinweg vererbt werden.

Erinnern ist niemals die Geschichte eines einzelnen Subjekts. Natürlich erinnern Menschen sehr unterschiedlich. Aber Erinnern ohne Beziehung zu sich selber, zur heutigen Familie, zu heutigen Gemeinschaften, wie auch über Generationen hinweg, ist nicht möglich. Vielleicht können wir zwischen einer Erinnerungskultur unterscheiden, die Ängste erzeugt, und einer Erinnerungskultur, die Gelassenheit oder Optimismus fördert. Wir schätzen die Zukunft oft mit Blick auf die Vergangenheit ein und lassen uns von den Erfahrungen leiten, die wir gemacht haben. Dabei sind wir viel zu selten so gelassen, dass wir sagen : Das kriegen wir hin. Das würde uns entlasten, auch wenn es das Risiko birgt, dass wir scheitern können. 

Der Heidelberger Theologieprofessor Philipp Stoellger schrieb « Wer nicht vergessen kann, wird irre. » Und weiter : « Zum Glück ist uns die Gabe totalen Gedächtnisses erspart geblieben. Stattdessen sind wir meist mit gesunden Weisen des Vergessens gesegnet, wie dem Schlaf, dem Denken und der Schrift. » Inwiefern helfen Denken und Schreiben beim Vergessen ? 

Wenn wir denken, machen wir aus sinnlichen Wahrnehmungen Begriffe, die wir sprachlich strukturieren. Manchen messen wir Bedeutung bei, anderen keine. Denken hat also eine koordinierende und selektive Funktion. Wie anstrengend mangelnde Selektivität ist, erlebe ich bei meinem Bruder. Seine psychische Erkrankung bewirkt, dass er Erinnerungen nur beschränkt filtern und ordnen kann. Seine Erinnerungen sind in gewisser Weise zeitlos präsent. Die Empfindungen, die er hat, wenn wir miteinander spazieren gehen, sind genauso da wie Ereignisse, die 15 oder 30 Jahre zurückliegen. Das ist ein kognitives Chaos. Wenn ich ihm dann erkläre, dass manche seiner erinnerten Gefühle 30 Jahre her sind, stimmt das für ihn nicht, weil für ihn die Vergangenheit jetzt, in diesem Augenblick, stattfindet. Anders ist es bei der Schrift. Hier geht es nicht ums Koordinieren. Was ich aufgeschrieben habe, muss ich mir nicht mehr merken. Das Notieren von Gedanken befreit mich vom Risiko, die Gedanken zu vergessen, genauso wie vom Zwang, mich unbedingt erinnern zu müssen. Die Feministin und Transhumanistin Rosi Braidotti hat eine Theorie des « nomadischen Subjekts » entwickelt. Das Nomadentum verfügt über eine starke Erinnerungskultur, ist aber ebenso konsequent auf die Zukunft gerichtet. Diese Flexibilität nötigt regelmässig zu einem gewissen Vergessen.

« Wir sind viel zu selten so gelassen, dass wir sagen : Das kriegen wir hin. Das würde uns entlasten, auch wenn es das Risiko birgt, dass wir scheitern können. »

Nomaden ziehen weiter, lassen zurück, was war.

Genau, aber sie empfinden dieses Zurücklassen nicht als Verlust. Das ist die hohe Kunst des Vergessens – die Vergangenheit loszulassen. So ähnlich hat der Philosoph Emmanuel Lévinas den Unterschied zwischen den Lebensweisen von Abraham und Odysseus erklärt. Abraham verlässt seine Heimat, ohne zu wissen, wohin er und sein Volk gehen werden. Klar ist nur, dass er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren wird. Ganz anders Odysseus. Er reist in der Ober- und Unterwelt umher, weiss aber von Anfang an, dass er heimkehren wird. Die nomadische Existenz als Diaspora, die das jüdische Leben bis heute prägt – und die auch die christliche Existenz ist –, formt die Art und Weise, wie wir erinnern und vergessen. 

Wie stark ist unser Glaube von unbewussten Erinnerungen geformt, und wie stark von bewussten ?

Im christlichen Glauben gibt es eine starke Erinnerungskultur. Sie findet jeden Sonntag im Gottesdienst statt, besonders mit den Bibellesungen. Interessant ist das reformatorische Schriftprinzip, das sola scriptura : Die Heilsbotschaft soll allein durch die Bibel vermittelt werden. Dagegen hat der Theologe Dietrich Ritschl dafür plädiert, die biblischen Geschichten zu bewohnen. Das ist der jüdische Zugang : die Geschichten der Menschen in der Bibel zu unserer eigenen Geschichte und derjenigen der kirchlichen Gemeinschaft werden zu lassen. Aus der Erinnerungskultur wird eine Erinnungspraxis, die für mich aus verschiedenen Gründen sehr attraktiv ist.

Weshalb ?

Der wichtigste Grund besteht für mich als Ethiker darin, dass die biblischen Texte so nicht hypermoralisiert werden. Selbstverständlich hat jede gelebte und mit anderen geteilte Praxis ihre Regeln und Normen. Aber sie ist kein statisches Moralprogramm. Wenn wir die biblischen Geschichten fortschreiben, erleben wir eine Unmittelbarkeit, die uns lebensoffen macht. Die Geschichten sind dann ein Teil von uns und kein moralischer Zeigefinger. 

Viele Menschen lesen weder die Bibel, noch denken sie an Gott. Können wir Gott vergessen, ohne dass eine latente Erinnerung an ihn zurückbleibt ?

Meine spontane Antwort lautet : Ich glaube nicht, dass wir Gott vergessen können, weil ich bezweifle, dass wir Gott erinnern können. Entscheidend ist, dass Gott uns nicht vergisst. 

In der jüdischen Religion heisst es, wenn ein Mensch stirbt, ist seine Geschichte aufgehoben im Gedächtnis von Gott. Bedeutet das, Gott erinnert sich an alles, an das Gute und an das Schlechte ? 

Eine schöne Formulierung stammt von Wolfgang Schoberth, der die Ewigkeit als das Eingehen in Gottes ewiges Gedenken beschrieben hat. Damit ist gemeint, dass Gott sich mit den Menschen versöhnt. Die Erinnerungskultur der Bibel verfolgt keinen moralischen oder pädagogischen Zweck. Sie sagt uns, dass Gott seine Schöpfung nicht allein lässt. So einfach ist das. Aber vielleicht gerade deshalb oft so schwer zu verstehen. 

Sie sprechen das Gedenken an. Wie unterscheiden sich Gedenken und Erinnern ? 

Gedenken ist ein Erinnern ohne Verpflichtung. Das Gedenken wird ja Gott und nicht den Menschen zugesprochen. Gott gedenkt seiner Schöpfung ganz ohne moralische Hintergedanken. 

Beim Gedenken an Verstorbene geht es oft um mehr als ums Erinnern. Viele Angehörige möchten wissen, wie es dem Verstorbenen geht, dort, wo er jetzt ist, und manche bitten ihn um ein Zeichen. Einige glauben auch, tatsächlich ein solches erhalten zu haben. Wie sehr ist unser Gedächtnis, unsere Erinnerungskultur an diesen Zeichen von Verstorbenen beteiligt ?

Mit der verstorbenen Person verbinden uns Erinnerungen, die sie in unserem Gedächtnis wachhalten und mit deren Hilfe wir sie in unseren Alltag integrieren. Das kann uns durchaus geneigt machen, gewisse Dinge, die wir wahrnehmen, als Zeichen des verstorbenen Menschen zu deuten. Mein Vater, der schon vor vielen Jahren gestorben ist, ist mir auch heute noch manchmal so präsent, dass ich das Gefühl habe, ich könne ihn berühren. 

Wie äussert sich seine Präsenz ? 

In Zwiegesprächen, die ich mit ihm führe. Er war der einzige Mensch, der ernsthaft versucht hat, sich durch all meine Texte zu kämpfen. Ich stelle mir vor, dass ihn heute nicht mehr interessiert, was ich schreibe, aber ich diskutiere völlig unbeeindruckt davon weiterhin mit ihm meine Gedanken.