Ich liege auf dem Waldboden und schaue in die Baumkronen über mir. Es weht ein leichter Wind. Nach dem Regen ist die Luft frisch und klar. Ich versuche mich auf meine fünf Sinne zu konzentrieren. Fünf Atemzüge die Augen geschlossen halten, dann öffnen mit einem starken Atemzug durch die Nase. Was passiert? In diesem Moment schweigt der Wind und die Baumkronen wirken wie ein Foto – eingefroren in unendlicher Schönheit. Der Anblick entspannt mich so sehr, dass ich von der Übung ablasse. Nur nochmals kurz die Augen schliessen. Da meine ich in den Boden hineingezogen zu werden. Ein wunderbares Gefühl der totalen Entspannung überkommt mich, macht sich einen Moment lang ganz bewusst und … ich schlafe ein.
Auf dem Rückweg aus diesem Training in Shinrinyoku – zu deutsch Waldbaden – funkelt die Sonne zwischen den Baumwipfeln. Komorebi nennt man das auf Japanisch: das Licht, das durch die Blätter scheint. Wir sind alle still und entspannt. Der Guide erzählt erst später beim gemeinsamen Tee, dass er einen Blutegel am Fuss hatte. Nicht weiter schlimm, er hat ihn weggekriegt, den Fuss desinfiziert. Und sonst: How was your experience?
Ich bin hier in der Nähe der japanischen Tempelstadt Nara, um das Waldbaden zu lernen und, einmal zurück in der Schweiz, andere Menschen dabei zu begleiten. Als Trauer-Coach ist das für mich eine Art Weiterbildung.
Shinrinyoku wurde in Japan das erste Mal in den achtziger Jahren so genannt und als Technik beschrieben. Es bedeutet, dass man sich eine Zeitlang in der gesunden Atmosphäre des Waldes aufhält. Mindestens zwei Stunden. Meist macht man das in einer Gruppe und der oder die Guide laden ein, über ein bestimmtes Thema nachzudenken oder eine Übung zu machen. Dazu hat man Zeit für sich allein. Was man erlebt hat, wird dann in der Gruppe geteilt – soweit man das will.
Alles ist natürlich freiwillig, auch die vorgeschlagene Übung muss man nicht machen. Man darf über etwas anderes nachdenken oder gar nichts tun. Zu den zwei Stunden gehören der gemeinsame Aufbruch in den Wald – meist in der Stille –, die Zeit allein und der anschliessende Austausch bei Tee und einem kleinen Imbiss.

Wir sind mitten im Wald in einem einfachen Meditationszentrum untergebracht. Nach einem halben Jahr Online-Training zu wissenschaftlichen Inhalten und wöchentlichen Zoom-Meetings mit der Leiterin darf ich nun selbst üben. Practice!
Jeder und jede sucht sich einen Ort im Wald, der sich für ihn oder sie gut anfühlt. Unter einer Kiefer vielleicht, mitten auf der Lichtung oder am Teich. Wir wurden alle mit einer Art Militärplache ausgerüstet: Darauf kann man liegen, ohne dass man – zumindest in der Theorie – von Ameisen oder Blutegeln besucht wird.
Nach dreissig Minuten mache ich einen Vogelruf, um die Teilnehmenden von ihrem Ort zurückzurufen (Kaaa! Kaaa!). Noch im Wald besprechen wir uns kurz, dann kehren wir zurück zum Zentrum für den Austausch auf der Metaebene. Dabei kommen alle ins Erzählen: Erinnerungen, Trauer und Wut.
Ein Teilnehmer erzählt vom Missbrauch durch den Vater, von den psychosomatischen Folgeerscheinungen, von der Traumatherapie und der Scham, aber auch von der Kraft, die er jeden Tag braucht, um damit umzugehen. Er musste das Leben gehen lassen, das er sich einmal erträumt hatte: ein Leben, in dem einfach alles gut wäre. Denn sein Leben ist schwer – immer wieder. Und trotzdem will er den Schmerz, den er erlebt, integrieren – immer wieder aufs neue. Wir schweigen lange.
Der Wald lenkt nicht ab. Er verlangt nichts, bewertet nicht, erwartet nichts.
Ein anderer Teilnehmer erzählt vom Scheitern seiner Firma, vom Betrug durch den Geschäftspartner und von dem Zusammenbruch, der sein Leben veränderte. Zuerst klingt es wie die Präsentation eines Jahresberichtes, dann bricht ihm die Stimme. «Das Scheitern, dieses Gefühl, das war so schlimm. Aber das will ich mitnehmen: Ich habe gelernt, dass ich nicht immer alles schaffen kann. Ich habe gelernt, es gibt Grenzen, die ich akzeptieren muss. Grenzen, die ich nicht selbst setze.»
Das Thema vom Mitnehmen und Gehenlassen hat viel mehr ausgelöst, als ich das gewohnt bin. Denn ich arbeite in meiner Praxis vor allem mit Trauernden, die damit oft recht gelassen umgehen. Wenn man gerade seinen liebsten Menschen verloren hat, gehört das quasi zum Alltagsbusiness. Bei Menschen, die nicht um jemanden trauern, löst die Frage ungleich viel mehr aus. Das hatte ich in dem Ausmass nicht erwartet.
Der Wald lenkt nicht ab. Er verlangt nichts, bewertet nicht, erwartet nichts. Er ist einfach da. In dieser freien Geborgenheit bricht sich manchmal Bahn, was vorher versteckt lag. In der Natur kommt das Ungelöste von früher ungeschönt nach oben, kann sich legen, was vorher chaotisch war. Und das läuft nicht nur über den Kopf.
In der Arbeit mit Trauernden ist mir mehr und mehr bewusst geworden, wie verkopft wir doch häufig sind. Wir analysieren, ordnen ein, reflektieren und reden. Und das ist sehr wichtig. Es ist aber nur ein Teil der Verarbeitung. Immer wieder habe ich bei mir selbst erlebt, dass das, was ich über den Kopf geregelt zu haben meinte, in meinem Sein und meinem Körper nicht wirklich ankam. Bis zu einem Moment, wo das Erkennen auf einmal zu einem Erleben wurde. Vom Kopf «herunterrutschte».
Bei mir geschieht das häufig in der Bewegung, in der Natur, beim Singen oder Wandern. Oder eben einfach beim Sein im Wald. Es stellt sich eine Klarheit ein und eine Richtung wird sichtbar. Vielleicht so etwas wie ein Ja zum Geschehenen. Ich meine damit nicht, dass da etwas Wundersames passiert. Das ist keine Erleuchtung, kein ekstatischer Zustand. Nein, es ist etwas ganz Unaufgeregtes, Geerdetes.
Bei trauernden Menschen ist dieser Unterschied im Zustand sehr gut spürbar, wenn die Akzeptanz des Geschehenen vom Kopf ins Erleben gerutscht ist. Diese Menschen sind auf einmal merklich ruhiger und kehren von einer langen Reise des Suchens langsam wieder zurück zu sich selbst.
Genau deshalb bin ich jetzt hier in der Nähe von Nara: um Menschen zu ermöglichen, in ihrer Trauer wieder mehr zu sich selbst zu kommen – in der Umgebung des Waldes.
Es gibt viele Studien zur Wirksamkeit des Waldbadens: Die Herzrate normalisiert sich, der Blutdruck wird gesenkt, die Anzahl von Killerzellen im Blut, die etwa Viren oder Tumore bekämpfen, nimmt zu. Besonders stark zeigt sich die Wirkung des Waldbadens bei psychosozialem Stress und damit verbunden bei der Prävention von Krankheiten wie Depressionen. Was viele im Alltag erleben: «Der Waldspaziergang hat gutgetan.» Das kann empirisch untermauert werden und geht auf verschiedene Faktoren zurück. Die Bäume stossen sogenannte Terpene aus, die wir einatmen und die uns beruhigen. Das Grün tut dem Auge gut.
Eine Auszeit von zwei bis drei Stunden wirkt schon an und für sich entspannend. Darüber hinaus kann es zu einer sogenannten «nature connectedness» kommen. Das heisst, dass man sich emotional mit der Umwelt verbunden fühlt, vielleicht sogar Ehrfurcht spürt vor der Natur und dankbar ist, Teil von ihr zu sein. Eine spirituelle Dimension eigentlich – auch wenn der Terminus aus der Psychologie stammt.
Immer wieder erlebe ich das beim Schwimmen – in einem anderen Element zu sein und zu spüren: Ich bin nicht allein auf der Welt und kann mich von Herzen mit den anderen Wesen und allem um mich herum verbinden. Das ist für mich eine grosse Kraftquelle. Sich mit allen Sinnen auf die Natur einzulassen kann stärken.
Dass das Waldbaden in Japan «erfunden» wurde, wird gern mit der besonderen Naturverbundenheit im Shinto, in der japanischen «Urreligion», erklärt. Im Shinto können nicht nur Menschen oder Götter «kami», also verehrungswürdige Wesen sein, sondern auch eine Pflanze, ein Berg oder Wasserfall. Als ich in Tokio einen Schrein besuchte, sah ich eine Frau, die zu einem Baum betete.
Anders als in Japan hat die positive Besetzung des Waldes in Europa wenig Tradition: Dante benutzt den dunklen Wald im Intro seiner «Divina Commedia» als Bild einer Krise oder Depression. In den Märchen verläuft man sich im Wald, wird von der Hexe gefangen oder vom Wolf gefressen. Auch heute spielen Horrorfilme mit der Finsternis des Waldes: Was im Dickicht passiert, ist unheimlich. Der Wald an sich greift nicht ein, ist nur Kulisse – selbst wenn sich Menschen in seinem Grün suizidieren.

Die Verbundenheit mit der Natur ist eine einseitige. Was hat es also damit auf sich, dass wir uns ihr anvertrauen? Lesen wir mehr hinein, als da ist? Hoffen wir – als Ersatz für einen Gott, der schweigt oder vielen gar ganz abhanden gekommen ist – auf eine Antwort aus der Natur?
Mit diesem Dilemma setzt sich Nastassja Martin in ihrem vielgelobten autofiktionalen Roman «An das Wilde glauben» (2021) auseinander. Die Anthropologin wird auf der russischen Halbinsel Kamtschatka mitten in der Wildnis von einem Bären angegriffen und überlebt. Sie entfaltet in ihrem Buch ein ganzes Universum an Deutungen des Geschehens und versucht es gleichzeitig einfach stehenzulassen. War der Bär gut oder böse? Weder noch. Er hat einfach gehandelt, wie es ein Bär in dieser Situation tut: Er hat sein Revier verteidigt. Egal, was wir hineinlesen wollen oder eben nicht. Die Natur selbst ist nicht abhängig von unserer Deutung.
Martin hatte vorgängig von einer Begegnung mit dem Bären geträumt. Was könnte das für ihr Leben bedeuten?
Bei meiner ersten Waldbaden-Session in Nara lege ich mich auf die Militärplache, den Kopf schön auf den Pulli gebettet, wende meinen Blick nach rechts und schaue in einen verblichenen Tierschädel.
Bei meiner ersten Waldbaden-Session in Nara lege ich mich auf die Militärplache, den Kopf schön auf den Pulli gebettet, wende meinen Blick nach rechts und schaue in einen verblichenen Tierschädel, der dort vermutlich schon seit längerer Zeit liegt, halb verborgen unter Farnwedeln. Wahrscheinlich sind es die Überreste eines Waschbärs. Zufall? Oder soll ich dem eine tiefere Bedeutung zumessen? Warum ein Symbol für Tod und Verwesung? Oder ist es ein Hinweis auf den Tanuki, einen Trickser aus der japanischen Folklore? Er kann seine Gestalt wechseln und spielt den Menschen gern Streiche. Der Schädel als Zeichen für eine grosse Veränderung? Doch die «Zeichen» kommen nicht auf magische Art und Weise in meine Nähe. Sie zeigen nur auf, worauf ich gerade gepolt bin: Wir sehen, womit wir uns sowieso beschäftigen.
Auf dem Rückweg sammeln wir herumliegende PET-Flaschen ein. Das Essen im Zentrum ist vegan: alles aus dem Garten nebenan. Liebevoll von Chie, der Köchin, zubereitet. Für die Besprechungen sitzen wir unter einem japanischen Ahorn, der noch immer sein grünes Kleid trägt. Anfang Oktober sollte er eigentlich in die berühmte rote Färbung eintreten, doch dafür ist es zu warm. Die Klimaerhitzung macht sich auch hier bemerkbar.
Nastassja Martin schreibt dazu: «Wie viele Psychologen würden mich für verrückt halten, wenn ich ihnen sagte, dass ich von dem, was ausserhalb von mir geschieht, angegriffen bin? Dass die Beschleunigung der Katastrophe mich lähmt? Dass ich das Gefühl habe, nichts mehr im Griff zu haben? Aha, das ist also der Grund, warum Sie sich an die Berge klammern! Ja, und das Schlimmste ist: Sogar die Berge brechen zusammen. Mangels Kohäsion, wegen der Eisschmelze, wegen der Erderwärmung.»
Was gegenwärtig mit unserer Umwelt passiert, macht Angst. Und alle wissen, dass die Angst nicht reicht, um etwas zu verändern. Im Gegenteil, meist führt sie eher dazu, beim alten zu bleiben. Da weiss man, was man hat. Und ganz ehrlich: Ist es nicht lächerlich zu glauben, der Kauf einer eingeschweissten Biogurke, die drei Wochen haltbar ist, rette das Klima?
Ich erinnere mich sehr gut, es war in den achtziger Jahren, da wurde viel über die Abholzung des amazonischen Regenwaldes berichtet. Wie viele Fussballfelder pro Tag da ausgelöscht wurden, wie Monokulturen entstanden und der Boden erodierte und unfruchtbar wurde. Das hat mich damals sehr beeindruckt, und ich stellte ein Foto des Amazonasregenwaldes auf mein Pult. Mit dem Bild damals – ich war in der Primarschule – ging auch das Vertrauen einher, dass sich etwas ändert und die Abholzung und die Zerstörung unseres Lebensraumes aufhören.

Das Vertrauen ist inzwischen erodiert: Die Vereinten Nationen schätzen in ihrem Waldbericht «State of the World’s Forests 2020», dass seit 1990 weltweit 4,2 Millionen Quadratkilometer Wald – also nicht nur tropische Regenwälder – verloren gegangen sind. Diese Fläche entspricht knapp zwölfmal der Fläche Deutschlands. Die Wälder brauchen wir dringend zur Umwandlung von CO2 in Sauerstoff. Das passiert durch Photosynthese.
Neuste Studien zeigen, dass die Photosynthese beim Überschreiten gewisser Temperaturen nicht mehr möglich ist und die Gefahr besteht, dass in den Regenwäldern ganze Baumkronen absterben werden. Der Kipppunkt dafür liegt bei einem globalen Temperaturanstieg von 4 Grad. Momentan geht der Weltklimarat von einer Erwärmung um 1,5 Grad bis 2035 aus. Ohne verstärkte Massnahmen könnten es bis Ende des Jahrhunderts 3,2 Grad sein.
Die Ökopsychologie sagt, dass Ängste und Depressionen zunehmen, je weiter wir uns von der Natur und ihrem Rhythmus entfernen. Vielleicht – so meine These – ist der Rückzug von der Natur auch ein Rückzug auf das vermeintlich sichere Terrain der Verdrängung: Wer will sich schon mit dem verbinden, was uns gerade wegschwindet? Wird da die Angst vor dem Verlust nicht noch grösser? So wie letztens jemand bei mir in der Trauergruppe sagte: Hätte ich meine Frau nicht so geliebt, wäre ich jetzt nicht so unendlich traurig. Verlieren wir die Verbindung zur Natur, müssen wir ihren (und unseren) Untergang vielleicht weniger fürchten? Da nehmen wir die negativen Seiten der «Unverbundenheit» ganz gern in Kauf.
Das Konzept der «nature connectedness» besagt dagegen, dass Menschen, die sich mit der Natur verbunden fühlen, sie auch bewahren wollen. Da setzt der Nachhaltigkeitsgedanke des Waldbadens an: Was wir lieben, wollen wir schützen. Davon spricht Nastassja Martin. Deswegen klammert sie sich an die Berge. Sie hat Angst, sie zu verlieren. Und genau das geschieht, die Berge bröckeln ihr und uns davon. Ich schreibe das, während ich im Flugzeug sitze: CO2-Ausstoss kompensiert, zu Hause kaufe ich dann wieder bio ein. Reicht das?
Im Meditationszentrum, wo wir untergebracht sind, hört man in der Nacht die Hirsche schreien. Im Garten zirpen die Zikaden. Wir haben auch Wildschweine gesehen: Keine Angst, wenn sie näherkommen, dann klopfen wir mit einem Stock gegen unsere Schuhsohlen – damit sie weggehen. «Der Wald hat mich geheilt», erzählt die Leiterin. «Er will nichts von mir. Ich fühle mich angenommen. Ich darf einfach so sein, wie ich bin. Wenn ich im Wald bin, werden meine Gedanken klar. Und auch wenn ich mich oft und lange im Wald aufhalte, könnte ich noch viel öfter hin. Er ist meine Heimat geworden.»
Am Morgen der Abreise gehe ich nochmals ein Stück hinein in den japanischen Wald: Thuja, Pinien und Farne. Es riecht frisch. Feuchtigkeit und eine Kühle empfangen mich, der Zeckenbiss ist desinfiziert. In den fünf Tagen bin ich ruhiger geworden. Habe bewusster geatmet und mich mit Menschen über sehr persönliche Themen ausgetauscht. Heilung würde ich das nicht nennen. Eine gute Erfahrung war es allemal. Und nachhaltig. Hoffentlich.
Bilder dieser Fotoserie erschienen zuvor im Schweizer Reisemagazin «Transhelvetica». Sie stammen aus verschiedenen Wäldern der Schweiz.



