Aus keinem anderen Kriegsgebiet haben uns je so viele Bilder erreicht wie derzeit aus der Ukraine. Beinahe in Echtzeit können wir verfolgen, wo die Geschosse einschlagen und welche Opfer sie fordern. Wir sehen die Soldaten an der Front und die Zurückgebliebenen in ihren Verstecken. Manche Bilder sind grausam, andere sentimental. Manche können wir kaum ertragen. Für mich persönlich wird es immer dann schwierig, wenn auf den Fotos Kinder abgebildet sind. Als Mutter stelle ich mir vor, es seien die Meinen, die da an Gräbern stehen, mit dumpfen Gesichtern auf Bahnperrons sitzen oder auf deren Rücken mit Filzstift Name und Geburtsdatum festgehalten sind – für den Fall, dass niemand mehr da sein wird, um sie zu identifizieren.
Als das Bild der «Madonna von Kiew», wie sie mittlerweile genannt wird, in den sozialen Netzwerken auftauchte, war ich deshalb unweigerlich berührt. Auf dem Foto sieht man eine Frau, die in der Kiewer Metro Schutz gesucht hat. Eingewickelt in dicke Decken, stillt sie ihr Baby. Dabei strahlt sie Ruhe aus, beinahe Zufriedenheit. So, als ob für einen kurzen Moment alles um sie herum …
Stop.
Genau hier muss ich unterbrechen – ich merke, dass ich Gefahr laufe, in Pathos zu verfallen. Das überrascht mich, denn zum Stillen habe ich eine schwierige Beziehung. Bilder stillender Frauen triggern mich deshalb immer. Und dennoch möchte auch ich aus dieser ukrainischen Mutter etwas Grösseres machen. Ich möchte diesen eigentlich trivialen Akt, ein Kind mit Milch vor dem Verdursten zu bewahren, heiligsprechen. Möchte sehen, wie die Frau für einen Moment die Greuel des Krieges vergisst und die Liebe zum Kind triumphiert.
Eine Art Heiligsprechung hat auch die ukrainische Künstlerin Marina Solomennikova vorgenommen. Sie schuf aus dem Bild eine Ikone, eine Madonna mit Kind, eine Maria lactans, das Metro-Netz zum Heiligenschein stilisiert. Wie der Urheber des Fotos, der ungarische Videojournalist András Földes, auf Twitter mitteilte, wurde die stillende Mutter nun zur Patronin einer katholischen Gemeinde in Neapel ernannt. In einem ebenfalls geposteten Artikel berichtet er zudem, wie ihn zahlreiche Künstler sowie ein Sprecher des Vatikans wegen des Bildes kontaktiert haben sollen.
Im Zweifel für die Information
Mich erfüllt das mit tiefer Ambivalenz. Denn einerseits anerkenne ich, dass das Bild vielen Menschen Hoffnung gibt – die Hoffnung, dass Leben und Lieben auch im Krieg nicht vollends ausgelöscht werden können. Vielleicht auch so etwas wie die Hoffnung, dass am Ende das Gute gewinnt. Andererseits hat das Bild für mich noch andere Dimensionen, die mich zögern lassen, es selbst in den Social Media zu teilen.
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass ich als Journalistin im Zweifel immer für die Information bin. Und damit auch: für die visuelle Information. Ich bin überzeugt, dass wir unserem Publikum die brutale Wirklichkeit des Krieges zumuten müssen. Dass wir alle uns den verstümmelten Körpern, den verwaisten Babys und zerschmetterten Existenzen stellen müssen, um nicht in unseren Wohlfühl-Bubbles in Privilegien zu ersaufen. Natürlich sollen Medien dabei abwägen, wie viele Details sie zeigen können und wann etwas nur noch den Voyeurismus befriedigt. Manche Grenzen setzt dabei das Recht; für besonders explizite Darstellungen gibt es ausserdem die Möglichkeit von Warnhinweisen.
Stellen Sie sich vor, die Mutter nimmt einen Schoppen hervor und gibt ihn ihrem Kind. Denken Sie, dieses Bild würde ebenfalls um die Welt gehen? Würde diese Frau ebenfalls zu einer Schutzheiligen ernannt?
Trotzdem müssen sich Journalisten, aber auch Leserinnen und Zuschauer bewusst sein, dass beide Seiten in diesem Krieg für sich die Macht der Bilder nutzen. In Moskau tritt Vladimir Putin vor Tausenden fahnenschwenkenden Menschen in einem Fussballstadion auf, die Bilder davon – und von den später im Abfall entsorgten Flaggen – gehen um die Welt. Und auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski inszeniert sich in seinen Social-Media-Kanälen ein Stück weit selbst – als unbeugsamer oberster Verteidiger seines Landes.
Diese Bilder sollen anstacheln, zum Durchhalten aufrufen, Einigkeit beschwören. Sie werden zu einem bestimmten Zweck eingesetzt – sie sollen wirken. Das gilt auch für das Foto von Tetiana Blizniak, wie die stillende Mutter in der Metro heisst. Glaubt man András Földes, wurde es auch von der ukrainischen First Lady geteilt. Damit ist es, egal ob beabsichtigt oder nicht, egal ob im Original oder in seiner inszenierten Form als Ikone, Teil der Kriegspropaganda.
Ohne Muttermilch keine Heilige
Das ist der eine Grund, warum ich mit gemischten Gefühlen auf das Bild blicke. Der andere hat mit etwas zu tun, das manche in diesem Kontext für nebensächlich, ja gar unangebracht halten mögen. Es geht um die Gender-Dimension.
Um meinen Punkt zu verdeutlichen, möchte ich ein kleines Gedankenexperiment machen. Stellen Sie sich vor, dass eine junge Mutter vor Bomben und Granaten, vielleicht sogar vorrückenden feindlichen Soldaten, in eine U-Bahn-Station flüchtet. Sie hat ein Baby dabei, wenige Monate alt. Das Baby schreit, es hat Hunger, der kleine Körper ist so angespannt wie die Saite eines Streichinstruments. Die Mutter weiss, sie kann ihr Kind zumindest kurzzeitig beruhigen, wenn sie es füttert. Stellen Sie sich nun vor, sie nimmt einen Schoppen hervor und gibt ihrem Kind die ersehnte Milch.
Denken Sie, dieses Bild würde ebenfalls um die Welt gehen? Würde diese Frau ebenfalls zur Schutzheiligen einer italienischen Gemeinde ernannt?
Ich bin überzeugt, die Antwort lautet Nein. Denn nur eine stillende Mutter ist eine gute Mutter, das ist die Lektion, die Frauen bereits vor der Geburt ihres ersten Kindes lernen. Und nur eine gute Mutter kann eine Heilige sein.
Auch im 21. Jahrhundert wird von Frauen noch immer erwartet, dass sie das Wohl ihrer Kinder über ihre eigenen Bedürfnisse stellen, und zwar vom ersten Moment ihres Mutterseins an. Wir schaffen Mythen, die genau dieses Bild zementieren, und geben sie weiter. Von Freundin zu Freundin, von Mutter zu Tochter. Einer davon ist, dass mit der unmittelbar einsetzenden Liebe zum Neugeborenen sämtliche Geburtsstrapazen mit einem Schlag vergessen sind. Ein anderer, dass Stillen eine ganz besondere Nähe schafft, eine Beziehung, die durch nichts zu ersetzen ist und für beide Seiten beglückend wirkt.
Aus persönlicher Erfahrung weiss ich, wie deprimierend es ist, an diesem vermeintlichen Ideal zu scheitern. Als mein erstes Kind zur Welt kam, wollte es zwischen ihm und meiner Brust nicht recht klicken. Ich hasste das Gefühl, ständig verfügbar sein zu müssen, und empfand das Stillen als Eingriff in meine Intimsphäre. Ich lehnte die Mütter ab, deren Abbilder mir in Mamablogs und Gynäkologenflyern präsentiert wurden, ihre Babys an der Brust, umgeben von einer Aura der Seligkeit. Gleichzeitig wünschte ich mir, so zu sein wie sie – es richtig zu machen. Ich war mit Vorstellungen überladen, wie eine gute Mutter zu sein hat: liebevoll, sorgend, aufopferungsvoll.
In der Zwischenzeit habe ich mich intensiv mit der Thematik beschäftigt. Auf intellektueller Ebene habe ich verstanden, wie diese Mythen funktionieren und welchem Zweck sie dienen. Trotzdem fühlt sich die Verehrung der stillenden Frau, wie sie auch in der Ikonisierung von Tetiana Blizniaks Foto zum Ausdruck kommt, noch immer an wie ein Schlag ins Gesicht.

Die Madonna von Kiew als moderne Ikone. Bild: Maryna Solomennykova/Tubik
Doch die angesprochene Gender-Dimension geht weit über meine persönliche Befindlichkeit hinaus. Denn mit Beginn dieses Krieges hat ein bemerkenswerter Backlash eingesetzt. Frauen, die sich selbst als Feministinnen bezeichnen, schreiben plötzlich öffentlich, der Westen habe sich viel zu lange mit unwichtigen Themen beschäftigt und darüber die Geopolitik aus den Augen verloren. Wobei mit «unwichtig» Dinge wie eine inklusive Sprache oder Rechte für Transmenschen gemeint sind.
Der deutsche Autor Tobias Haberl, der in der Vergangenheit auch schon für bref schrieb, merkte in einem vielbeachteten Artikel auf «Spiegel Online» an, der Mann von heute sei zu weich «für eine Welt, in der sich nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt». Also für eine Welt, in der jemand wie Vladimir Putin einfach hinterrücks einen Krieg anzettelt. «Ich bin umringt von Männern, die gepunktete Socken tragen und mit dem Kinderwagen joggen gehen. Manche wissen mehr über den Glutengehalt von Nudeln als Ernährungsberater, andere schlafen auf Nackenkissen mit Buchweizenfüllung, rümpfen die Nase über fragwürdige Alphatypen und nehmen doch am gleichen Rattenrennen um Prestige und Anerkennung teil, nur halt nicht mit Senatorstatus, sondern Regenbogen-Tweets.»
Die Fürsorge für andere oder der Wunsch, diesen Planeten lebenswert zu halten, das alles soll nun plötzlich etwas Schlechtes sein. Stattdessen: mehr Kampf, mehr Austeilen.
Zwar versuchte Haberl den gesamten Text über, seine eigenen Aussagen zu relativieren; er habe nichts gegen diese Männer, sei mit einigen von ihnen befreundet und ein bisschen ja auch selber so wie sie. Trotzdem brauche es spätestens seit dem Einmarsch der Russen in der Ukraine mehr sogenannt männliche Eigenschaften. «Angesichts aktueller Verwerfungen könnten ein paar von ihnen, von denen wir dachten, dass wir sie nie mehr benötigen würden, wieder wichtig werden: Widerstandskraft, Risikobereitschaft, Entschlossenheit, und auch wenn es problematisch klingt: so was wie Mut oder Wehrhaftigkeit.»
Von der irritierenden Unterteilung in «männliche» und «weibliche» Attribute einmal abgesehen, ist es erschreckend, wie schnell einige bereit sind, die feministischen Errungenschaften der letzten Jahre über Bord zu werfen. Die Fürsorge für andere oder der Wunsch, diesen Planeten auch für nachfolgende Generationen lebenswert zu halten, das alles soll nun plötzlich etwas Schlechtes sein. Stattdessen: mehr Kampf, mehr Austeilen. «Kaum tobt Krieg vor unserer Haustür, wird die Renaissance des starken Beschützer-Mannes ausgerufen», schreibt Markus Theunert, Gesamtleiter von männer.ch, in einer sehr treffenden Replik auf den «Spiegel»-Text.
Wo sie hingehören
Die «Madonna von Kiew» fügt sich auf ihre Weise in diese Retraditionalisierung der Geschlechterrollen. Denn der Gegenpart zum starken Mann, der Heim und Hof verteidigt, ist die schwache Frau, die beschützt werden will. Die passive, duldsame und selbst in der Krise noch auf ihr Kind ausgerichtete Mutter.
Es ist ein Ideal, das nicht etwa aus der Natur kommt, wie fälschlicherweise oft behauptet wird. Sondern das über Hunderte von Jahren sozial konstruiert wurde – von mehrheitlich männlichen Intellektuellen wie Jean-Jacques Rousseau oder Sigmund Freud. Nicht wenige von ihnen beriefen sich auf die Religion: auf Paulus, der unter anderem schrieb, die Frau solle in der Gemeinde schweigen, oder Augustinus, der die Frau als minderwertiges Wesen sah.
Aus der christlichen Ikonografie ist zudem die Maria lactans bekannt. Zwischenzeitlich wurde die stillende Muttergottes sogar derart verehrt, dass sich Künstler selbst an ihrem Busen saugend malten. Noch heute ist das Motiv in Kirchen und Museen präsent – und steht so für das eigentümliche Paradox, gleichzeitig überhöht und kleingehalten zu werden. Denn verehrt wird Maria nur für ihre Rolle als Mutter, als Säugende. Darüber hinaus hat sie keine nennenswerte Funktion.
«Der Hype um das Stillen weist Müttern einen Platz zu. Einen Platz, den sie gemeinsam mit ihrem Kind besetzen dürfen», schrieb die deutsche Journalistin Mareice Kaiser 2018 im Rahmen der Kolumne «Klein und Gross». «Einen Platz, an dem sie ruhig sind und die Klappe halten. Einen stillen Platz.» Der Satz hat sich mir eingebrannt. Er zieht eine direkte Verbindung von Maria lactans über mein eigenes Erleben bis hin zu dem, was ich derzeit im Zusammenhang mit dem Krieg wahrnehme.
Natürlich weiss ich, dass in der Ukraine auch Frauen gegen die russische Armee kämpfen und dass Männer genauso unter Stereotypen leiden – gerade in bewaffneten Konflikten. Es sei unmenschlich, dass Männer im Krieg als Waffen dienten und ihnen pauschal die Verwundbarkeit abgesprochen werde, hielt die Konfliktforscherin Leandra Bias dazu in einem Interview fest. Ich will zudem keinesfalls über Tetiana Blizniak, die Beziehung zu ihrem Kind oder ihre Art des Mutterseins urteilen; schliesslich hat sie nicht darum gebeten, zur Ikone gemacht zu werden. Trotzdem ist es auch das, was ich in ihrem Bild sehe: eine Welt, in der die Geschlechter wieder ihre jahrhundertealten Rollen einnehmen. Und damit auch eine Welt, in der Frauen auf ihre Plätze verwiesen werden.
Titelbild: András Földes



