Am Tag, als Sandra Starfinger nach St. Pauli zieht, gehen auf der Reeperbahn die Lichter aus. Die Kneipen, die sonst schon morgens ihre Türen für die Gäste öffnen, bleiben geschlossen, die Fenster werden mit Spanplatten zugenagelt. Es ist der 2. November 2020, in Hamburg und Deutschland beginnt der zweite Lockdown; es ist der nächste Versuch, der Pandemie durch Schliessungen Herr zu werden.
An diesem Tag stellt Sandra Starfinger ihre Umzugskartons im neuen Zuhause ab: eine Siebzig-Quadratmeter-Pfarrhauswohnung der St.-Pauli-Kirche, von hier aus kann man die Elbe sehen, Hafenkräne und Containerschiffe. Vor ihren Fenstern sieht Sandra Starfinger aber nicht nur Hafenromantik, sie blickt auch auf Park Fiction, eine kleine Grünfläche mit meterhohen Palmen aus Stahl, wo an Sommerabenden kaum ein freier Fleck Wiese zu finden ist, dafür Biertrinker und Basketballspieler, Drogendealer, Pfandsammler und patrouillierende Polizistinnen. Die Kirche, die direkt an den Park grenzt, ist seit wenigen Wochen ihr neuer Arbeitsplatz.
«Es gab Menschen, die haben mich gefragt, ob ich strafversetzt wurde», sagt sie. Acht Jahre lang war sie Pastorin in Sasel, einem Stadtteil im Hamburger Norden. Ruhige Wohnstrassen, Einfamilienhäuser mit Gartenzäunen und Spitzdächern, Bäume an der Hauptstrasse. Das Rotlicht St. Paulis scheint unendlich weit weg. Dabei sind es nur 17 Kilometer bis zur Reeperbahn.
Dritte Pastorin seit 1682
Im vergangenen Januar las Sandra Starfinger von der Stellenausschreibung der evangelischen Gemeinde St. Pauli: «Wir suchen jemanden, der Lust hat, sich auf das Leben auf St. Pauli einzulassen.» Das Viertel ist eine Welt der Gegensätze: Zufluchtskneipe und Fünf-Euro-für-ein-Bier-Etablissement, teurer Neubau und Sozialwohnung, Kiezianer und zugezogene Yuppies. Starfinger weiss, dass sie das mag: «Ich bin keine von denen, die irgendwann für sich beschlossen haben, zu alt für diesen Kiez zu sein.» Bald feiert sie ihren 40. Geburtstag.
Obwohl das Viertel sogar ein «Sankt» im Namen trägt, haben Hedonismus, käuflicher Sex und Kriminalität die Oberhand. Glauben scheint hier fehl am Platz. Das Pflaster von St. Pauli ist für Männer gemacht. Einst für die Seefahrer, die sich nach Monaten auf dem Wasser ins Vergnügen stürzten. Später für die Zuhälter der Achtziger, die den Ort regierten. Heute für Touristen auf der Suche nach schnellem Sex, billigem Alkohol und Drogen.
Das Viertel feiert seine Männer und vergisst seine Frauen. Die Strassen sind nach dem früheren Bürgermeister Hein Hoyer und dem Schauspieleroriginal Hans Albers benannt. Aber auch Clemens Schultz, legendärer St.-Pauli-Pastor mit Jahrgang 1862, hat seine eigene Strasse. Im Kiez ist eben doch Platz für die Kirche – und ihre Pastoren. Und für eine Pastorin? Sandra Starfinger ist die dritte Frau der Kirche. Ihre Wege werden vor allem neue sein: Wie viel Kiez kann sie werden und trotzdem Kirche bleiben? Und wie schafft man Vertrauen als neue Pastorin in einer Gemeinde, zu der man in Zeiten einer Pandemie Abstand halten soll?
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