Im Jahr 1679 betritt ein Offizier den Gasthof Raben an der Zürcher Schifflände. Was das für ein Bub sei, der da im Stall bei den Pferden arbeite, fragt er den Wirt. Der sagt, der Neunjährige sei ihm zugelaufen, gegen Speis und Trank helfe er im Betrieb. Er heisse Jakob Maler und stamme aus der Herrschaft Grüningen im Zürcher Oberland. «Wenn der Herr ihn mitnehmen will, so sei er ihm.»
Der Offizier stammt aus Graubünden und dient für das Regiment Salis, eine Truppe Bündner, die gegen Sold für den französischen König kämpft. Er ist mit seinem Pferd unterwegs nach Frankreich. Zu welchem Zweck, ist nicht bekannt. Er kauft dem jungen Jakob Schuhe, Strümpfe und einen Hut und reitet los. Der Bub wandert hinter dem Pferd her.
So geht es bis ins Burgund, im Schloss Grappon machen sie Halt für die Nacht. Der Offizier sagt Jakob, er brauche am nächsten Morgen nicht früh aufzustehen, da er den Tag im Schloss verbringen wolle. Der Bub legt sich in seiner Kammer schlafen, doch als er am Morgen erwacht, kann er den Offizier nirgends finden. Jakob läuft in den Stall: Das Pferd des Offiziers ist weg.
Jakob weint, er will dem Offizier hinterher. Die Bediensteten halten ihn auf, bis die Schlossherrin Madame d’Aiguliot erwacht. Die 67jährige alleinstehende Frau teilt ihm mit, dass der Offizier ihn ihr überlassen hat. «Es ist nicht bös’ gemeint.» Doch Jakob ist untröstlich, schliesst sich drei Tage lang in seiner Kammer ein. Dann lässt die Schlossherrin einen Schneider kommen, der den Jungen von Kopf bis Fuss neu einkleidet. Jakob bleibt. Sechs Jahre lang.
Madame d’Aiguliot behandelt den Jungen aus dem Zürcher Oberland wie ihren eigenen Sohn. Er wird viele Jahre später, als er seine Geschichte aufschreibt, die Zeit im Schloss als die schönste seines Lebens bezeichnen. Die Schlossherrin nennt er eine «reformierte Edeldame». Zu diesem Zeitpunkt scheint es, als hätte seine frühkindliche Odyssee hier ein gutes Ende genommen.
Kirchen werden abgebrochen
Doch im Jahr 1686, Jakob ist mittlerweile 16 Jahre alt, wird er gleich mehrmals Opfer der grossen Weltpolitik. Einige Hundert Kilometer von ihm entfernt, im Schloss Fontainebleau südlich von Paris, hat im Jahr zuvor König Louis XIV das Edikt von Nantes widerrufen. Dieses hatte nach den Hugenottenkriegen den Katholizismus als Staatsreligion fixiert, duldete jedoch die calvinistischen Protestanten (Hugenotten) und gestand ihnen alle Bürgerrechte zu. Der Befehl des Königs macht die Duldung zunichte. Die Ausübung des protestantisch-reformierten Glaubens steht in Frankreich fortan unter Strafe. Kirchen werden geschlossen oder abgebrochen, Bücher der Protestanten werden verbrannt.
Auch im Schloss Grappon im Burgund gerät alles durcheinander. 25 Kavalleriesoldaten ziehen ein, man nennt sie Dragoner. Sie sind auf Befehl des Königs da. Wie sie es schon in den Jahren zuvor in anderen protestantischen Gemeinschaften getan hatten, drängen sie die Bewohner dazu, zum katholischen Glauben überzutreten. Sie überwachen sie und verhindern, dass sie in der Bibel lesen oder Psalmen singen. Jene, die nicht konvertieren, werden von den Dragonern geplagt. Sie nehmen sich, was sie wollen, legen den Bewohnern Pferde auf die Betten und tränken die Tiere mit dem besten Wein des Hauses.
Jakob ist skeptisch und sagt: «Es könnte mir auch übel ergehen.» Trotzdem stimmt er dem Plan zu.
Der Hauspfarrer nimmt Reissaus, und kurz darauf kapituliert auch die Schlossherrin. Sie fährt mit einer von sechs Pferden gezogenen Kutsche zum Parlament in Dijon. Dort bezeugt sie vor den Kapuzinern ihren Glaubensabfall. In den kommenden zwei Wochen tun ihr es zwölf Pfaffen gleich. Nicht aber Jakob. Eines Morgens steht er in der Tür zum Schlafgemach der Schlossherrin und sagt, er kehre zurück in sein Vaterland. Ob sie ihm einen Zehrpfennnig mit auf den Weg gebe? Die mittlerweile 73jährige versucht weinend, ihn zum Bleiben zu überreden – vergebens. Sie gibt ihm zehn Taler und lässt ihn ziehen.
Zurück in der Heimat wird Jakob, der während der Jahre im Burgund gut Französisch sprechen gelernt hat, zum Dolmetscher. Denn aus Frankreich flüchten zu dieser Zeit jährlich Tausende Hugenotten in die Schweiz. Von Zürich aus werden die französischen Protestanten in Richtung Norden geleitet, in die vom Dreissigjährigen Krieg entvölkerten Gebiete ennet der Grenze. Jakob wird in Eglisau postiert. Dort muss er die Flüchtlinge für die Nacht in den Wirtshäusern einquartieren und am nächsten Morgen dafür sorgen, dass sie nach Schaffhausen weiterreisen.
Jakob selbst übernachtet im Schloss Eglisau beim Landvogt, der ihn beschäftigt. Dort kehrt eines Tages auch ein französischer Graf ein, er ist ein Bekannter von Madame d’Aiguliot und kennt Jakob. Der Graf, ein Hugenotte, ist aus Frankreich geflüchtet, seine Frau aber musste er zurücklassen. «Silber und Gold habe ich mitnehmen können, nicht aber, was mir am liebsten ist», klagt er dem Landvogt und fragt ihn, ob Jakob ihm helfen könne, seine Frau in die Schweiz zu holen. Im Gegenzug verspricht der reiche und kinderlose Edelmann, Jakob als Kind anzunehmen.
Jakob ist skeptisch, er sagt: «Es könnte mir auch übel ergehen.» Trotzdem stimmt er dem Plan zu. «Mit Gottes Hilfe will ich es tun.» Der Graf schreibt zwei Briefe, die seine Frau überzeugen sollen, dass alles seine Richtigkeit hat, und übergibt sie Jakob, zusammen mit Geld für die Reise. Der Landvogt organisiert ihm einen Pass. Dann geht er los, über die Grenze Richtung Burgund.
Im Marterloch gefangen
Auf dem Weg wird sein Pass mehrmals kontrolliert und für gut befunden. In Langres ist er vorsichtig, denn um in die Stadt zu gelangen, muss er auf einer Brücke einen Wachtturm passieren. Jakob geht erst um Mitternacht los. Doch die Wärter halten ihn an, binden ihm die Hände auf den Rücken und führen ihn zum Gubernator, der seinen Pass sehen will. Der Pass sei in Ordnung, sagt der, befiehlt den Wärtern aber dennoch, Jakob nackt auszuziehen. Befehl des Königs: Alle müssten visitiert werden, damit keine reformierten Leute aus dem Land gelangen. So finden die Wärter die Briefe.
Sie setzen Jakob auf einen Prügel und lassen ihn an einem Seil ins «Marterloch» hinunter, einen tiefen, dunklen, von Ungeziefern bewohnten Kerker. Am nächsten Tag bringen ihn Knechte zum Rathaus, wo die Richter ihn fragen, wie viele Leute er schon aus dem Land geführt habe. «Keine», antwor-tet Jakob. Die Richter glauben ihm nicht und stecken ihn wieder ins Loch. Dort verbringt er erst Tage, dann Wochen, dann Monate.
Täglich kommen Pfaffen und fordern Jakob auf, den rechten Glauben anzunehmen. Wenn er das tue, könnten sie ihm aus der Gefangenschaft helfen. Ansonsten solle er sich für den Tod rüsten. Jakob antwortet: «Den rechten Glauben hab’ ich schon! Ihr könnt mir aus der zeitlichen Gefangenschaft helfen, mich hernach aber ewig gefangensetzen.»
Jakob wird mehrfach verlegt, von einer Stadt in die andere. Nach insgesamt neun Monaten in über 40 verschiedenen Kerkerlöchern gelangt er nach Paris, wo ihn ein Gericht dazu verurteilt, sein restliches Leben als Rudersklave auf den französischen Galeeren zu verbringen. Das Schuften auf den Kriegsschiffen ist ein Todesurteil in Raten: Die Hälfte der Sklaven stirbt, die meisten in den ersten drei Jahren. An Durst, Hunger, Überarbeitung oder an Krankheiten, die wegen der miserablen Hygiene auf den Schiffen ausbrechen.
Ein Seil um den Hals zwingt die Rudersklaven, den Takt einzuhalten. Fallen sie aus dem Rhythmus, würgt sie der Riemen.
In einem Zug von 225 Gefangenen muss Jakob Richtung Süden marschieren, zur Küste. Immer zwei und zwei Gefangene sind am Hals zusammengekettet, in der Mitte der Kette befindet sich ein grosser Ring, durch den eine weitere, lange Kette läuft, die alle Sträflinge verbindet. Drei bis vier Stunden können sie pro Tag gehen, mehr lassen die schweren Ketten nicht zu. Muss einer seine Notdurft verrichten, muss der ganze Zug warten. Die Nächte verbringen die Gefangenen draussen oder in Ställen.
So gelangen sie nach Lyon, von dort mit dem Schiff auf der Rhône nach Avignon und weiter nach Marseille. Jakob kommt auf die «La Souveraine», ein Kriegsschiff mit 420 Rudersklaven an Bord, Soldaten und Geschützen vorne am Bug. Die Galeere hat 60 Ruder, hinter jedem sitzen sieben Männer auf einer Bank. Sie sind nackt bis auf kurze Hosen. Ihre Füsse sind mit 50 Kilogramm Eisen an die Ruderbank geschmiedet. Dort verbringen sie Tag und Nacht. Ein Seil um den Hals zwingt sie, den Takt einzuhalten. Fallen sie aus dem Rhythmus, würgt sie der Riemen.
Die Ruderer sind maurische und türkische Sklaven oder Gefangene wie Jakob Maler. Er wird zwischen zwei Türken gesetzt, damit er sich nicht mit anderen Glaubensgenossen unterhalten kann. Neben Jakob steht ein Aufseher, der ihn, wann es ihm gerade passt, mit einem Seil schlägt und schimpft: «Du calvinistischer Hund, ich will dich lehren, an Gott zu glauben!» Zu essen gibt es hartes Brot und zu trinken stinkiges Wasser.
Kampf gegen die Barbareskenpiraten
Jakobs erste Galeerenfahrt führt ihn im Jahr 1688 über den Atlantik. Drei Monate ist das Schiff unterwegs, hin zu einer karibischen Insel, auf der 4000 reformierte Frauen verkauft werden sollen. «Da kamen die Kaufleute und zogen sie nackt aus und visitierten sie, ob sie nicht presshaft am Leib wären» (gebrechlich, Anm. d. Red.), wird sich Jakob später erinnern, als er seine Erlebnisse in einem Reisebericht festhält. «Die Jungen sind bald verkauft, die Alten nicht.» Dann rudern er und seine Mitgefangenen zurück nach Marseille, mit Zwischenhalten in Malta, Menorca, Mallorca, Sardinien, Sizilien, Korsika, Genua und Toulon.
Nachdem die Mannschaft dort frisches Wasser und Brot gefasst hat, wird «La Souveraine» zusammen mit 40 weiteren Schiffen auf eine Strafexpedition gegen die sogenannten Barbareskenstaaten in Nordafrika geschickt: das Sultanat Marokko sowie die osmanischen Städte Algier, Tunis und Tripolis. Die Europäer nennen die Barbaresken «Barbareskenpiraten», denn deren Geschäftsmodell ist es, auf hoher See Schiffe auszurauben und Europäer zu versklaven. Diese lassen sie dann gegen Lösegeld wieder frei. Ausserdem verschiffen die Barbaresken Getreide nach Europa; die jeweiligen Fürsten sind aber im Handeln nicht so zuverlässig, wie es die Franzosen gerne hätten.
Also legen die französischen Kriegsschiffe vor der Küste der Stadt Algier an. Sie werfen Bomben, bis die Stadt in Brand steht. Die Barbaresken feuern kräftig zurück. Jakob sieht, wie sie auf einer Schanze am Hafen 40 Franzosen an den Füssen aufhängen und sie in zwei Hälften schiessen – und wie es ihnen die Franzosen mit 40 gefangenen Türken auf der Schiffsbrücke gleichtun. Elf Tage geht das so, dann kehren die Franzosen nach Marseille zurück, um die Schiffe zu flicken.
Derweil strebt König Louis XIV, auch Sonnenkönig genannt, auf der grossen Weltbühne nach mehr. In den letzten Jahrzehnten hat er in Raubkriegen Teile des Elsasses, von Luxemburg, der Pfalz und des heutigen Saarlandes eingenommen. Als er im heutigen Lothringen einmarschiert, zettelt er auch noch einen Krieg gegen halb Europa an. Er wird neun Jahre dauern.
Die Gefechte werden auch auf hoher See ausgetragen. Die entscheidende Schlacht findet 1692 bei La Hougue in der Normandie statt. Mittendrin: Jakob Maler, der nunmehr 22jährige aus der Herrschaft Grüningen im Zürcher Oberland.
An Bord breitet sich Panik aus. Wer kann, springt vom Schiff, nur um dann von den Gegnern aus dem Meer gezogen und gefangengenommen zu werden.
Die Galeere «La Souveraine» ist eines von rund 40 Kriegsschiffen, die sich an der französischen Nordküste versammeln. Von dort will die Flotte über den Ärmelkanal setzen. Das Ziel: Invasion in England, um den gestürzten prokatholischen König Jakob zurück an die Macht zu bringen. Kavallerie und Artillerie werden auf die Schiffe verladen, und um ebendiese zu schützen, werden alle verfügbaren Geschwader aus ganz Frankreich herbestellt. Geplant ist ein Überraschungsangriff.
Doch der Wind spielt nicht mit, manche Schiffe sind verspätet, andere kommen gar nie an, weil sie in einen Sturm geraten. Die Franzosen kommen zu spät; die von Holländern unterstützte englische Marine ist längst bereit und in der Überzahl: 89 gegen 44 Schiffe. Alle wissen – der Angriff der Franzosen ist zum Scheitern verurteilt. Doch Louis XIV hat Admiral Graf Tourville befohlen: kämpfen. «Fort ou faible» – egal, wenn die anderen stärker sind, Tourville schiesst.
Das Feuer, das er eröffnet, kommt doppelt und dreifach zurück. An Bord der «La Souveraine» breitet sich Panik aus. Wer kann, springt vom Schiff, nur um dann von Engländern oder Holländern aus dem Meer gezogen und gefangengenommen zu werden.
Ein sturer Kopf
Jakob überlebt die Schlacht. Über Gibraltar und Tanger geht es nach Katalonien. Immer wieder kommen Pfaffen an Bord und versuchen, die Reformierten zum Katholizismus zu bekehren. Sie versprechen ihnen, dass sie freikämen, wenn sie ihrem Glauben abschwörten. Mehrmals nimmt sich auch die Frau des Hauptmanns Jakobs an. Auch sie sei einst Protestantin gewesen, sagt sie, warum er nur so einen sturen Kopf habe. «Willst du nicht lieber in einem Kloster sein als auf der Galeere?» Doch Jakob Maler ist nicht zu knacken.
Auch nicht mit Gewalt. Solche bekommt er oft zu spüren. Einmal halten ihn zwei türkische Handlanger an Armen und Füssen, heben ihn über die Ruderbank, umhüllen seinen Kopf mit einem Segel, um seine Schreie zu ersticken. Dann schlagen sie ihn mit einem in Pech getränkten Seil, insgesamt 125 Mal. Dazwischen reiben sie seine Wunden mit Essig und Salz ein. Jakob fällt in Ohnmacht. «Aber sterben konnte ich nicht», wird er später schreiben. Er ist einer von wenigen der insgesamt 1550 zur Galeerenstrafe verurteilten Protestanten, die weder verenden noch durch ein Glaubensbezeugnis freikommen.
Im Frühling 1697 lebt Jakob Maler bereits seit elf Jahren auf der Galeere. «La Souveraine» steht im Hafen von Marseille. Wieder einmal bereitet man sich für einen Einsatz gegen die Barbaresken vor. Da tritt ein Kaufmann aufs Schiff. Er wolle die Galeere besichtigen, sagt er. «Was für Leute haben Sie da?» Einer der Offiziere antwortet: «Christen, Türken, Barbaren und Juden.» Ob auch Reformierte an Bord seien? Der Offizier zeigt sie ihm. Von Jakob will der Kaufmann wissen, woher er komme. Später, in einem unbeobachteten Moment, reicht er ihm wortlos ein Papier. Jakob spürt, dass etwas darin eingewickelt ist, und späht hinein. Es sind 20 Stüber. Schnell versteckt Jakob die Münzen wieder im Papier.
Zu diesem Zeitpunkt bemühen sich der Zürcher Bürgermeister Heinrich Escher und andere evangelische Orte beim Gesandten Frankreichs in Solothurn um die rund 50 Eidgenossen, die auf französischen Galeeren schuften – viele waren desertierte Soldaten, andere waren Diebe, Mörder, Falschmünzer, Schmuggler, Gotteslästerer, standen Flüchtlingen bei oder hatten sich den Waldensern angeschlossen.
Escher, der als Vater und Ernährer der Verfolgten und Heimatlosen gilt, lässt eine Liste der eidgenössischen «Galériens» anfertigen und schickt sie nach Solothurn und Versailles. Er hofft, dass König Louis XIV Rudersklaven begnadigt. Schliesslich kann es sich dieser mit den Eidgenossen nicht verscherzen; er ist in diesen kriegerischen Zeiten auf ihre Söldnertruppen angewiesen.
Jakob diktiert einem Mitgefangenen einen Brief an die Herren von Zürich: «So bitte ich doch, sie Wöllen meiner genöttig seint und barmhertzig.»
Inzwischen macht sich «La Souveraine» auf den Weg nach Nordafrika. In Messina auf der Insel Sizilien legt sie im Hafen an. Wer kann, geht an Land und trinkt sich einen an. So auch ein Kamerad von Jakobs Ruderbank. Der ehemalige holländische Soldat hat dem Protestantismus abgeschworen und kann sich darum frei bewegen. Jakob gibt ihm die 20 Stüber, die ihm der Kaufmann zugesteckt hat. Er solle damit in der Stadt Tinte, Feder und Papier holen.
Als der Holländer mit dem Gewünschten zurück ist, steht der Mond schon hoch am Himmel. Neben den Ruderern sind nur die jungen Matrosen an Bord, sie spielen Karten und beachten die Sklaven nicht. Die Augen stets auf die Matrosen gerichtet, diktiert Jakob, der weder lesen noch schreiben kann, einem Ruderkameraden, was er mitteilen will. Der Deserteur aus Brandenburg schreibt:
«Hochgönötigste Herren und Ratsheren Von Ziry Im Schweitzerlant (…) Ich bin Uf die frantzösischen Gallör geschickt Worten für Mein Läbtag. So bitte ich doch die Herren von Ziry sie Wöllen meiner genöttig seint und barmhertzig (…) Und sie Wollen Meinen Namen anzubringen an den König von Franckröich.»
Jakob diktiert einen weiteren Brief mit seiner Sträflingsnummer 10113. Dann verschliesst er beide Schreiben mit Pech, adressiert sie an den Vizekönig von Katalonien und händigt sie dem Holländer aus, der sie in die Stadt trägt. Auf diesem Weg sollen sie zu «gewissen grossen Herren» nach Zürich gelangen. Jakob hofft auf Antwort. Drei Jahre lang. Doch nichts passiert.
Am 28. August 1700 liegt «La Souveraine» wieder einmal vor der Küste der Barbaresken in Tanger. Ein Konvoi bringt Nachschub an Soldaten und Proviant, mit ihm kommt ein Kurier an Bord. Dieser fragt nach der Nummer 10113, geht zu Jakob, und sagt: «Du hast grosse Gnade von meinem König. Er will dich entledigen, und Deiner Lebtag sollst Du für ihn beten.» Erst traut Jakob dem Ganzen nicht, doch als ihm die Ketten gelöst, er aufs Schiff des Kuriers gebracht und ihm dort gutes Essen und Trinken gereicht wird, begreift er: Er ist frei.
Escher heisst ihn willkommen
In Marseille erhält er seinen Pass zurück. Nackt bis auf seine kurze Ruderhose läuft Jakob zu Fuss nach Avignon. Auf dem Weg bettelt er um Essen und Trinken. Abends legt er sich in Feldern oder unter Bäumen schlafen, es ist Sommer. Über Lyon, Genf, Lausanne, Bern und Lenzburg gelangt Jakob nach Baden. Dort treffen sich die Abgesandten der Kantone der alten Eidgenossenschaft gerade zur Tagsatzung.
Heinrich Escher ist als Vertreter von Zürich vor Ort. Als Jakob in Baden eintrifft, sitzt Escher in der Wirtschaft Zur Maag zu Tisch. Erst will der Wirt Jakob nicht einlassen, weil dieser mit seinem geschorenen Kopf aussieht wie ein vertriebener Franzose. Doch Boten des Bürgermeisters berichten Escher von dem Kerl, Jakob wird an seinen Tisch gelassen, erzählt seine Geschichte. Escher heisst ihn «willkommen zurück im Vaterland», bezahlt ihm Essen, Trinken und ein Zimmer für die Nacht. Und verspricht, ihm zu helfen, sollte er weder Vater noch Mutter haben.
Tatsächlich sind Jakobs Eltern tot, sein Bruder lebt verarmt in Zürich. Eine reiche Tante in Hottingen ist die einzige noch lebende Verwandte. Ob Jakob ihr Vermögen erbt, ist nicht überliefert. Wahrscheinlich aber ist, dass er der Armut entfliehen konnte. Ansonsten wäre es ihm kaum möglich gewesen, Lesen und Schreiben zu lernen und seine Erlebnisse aufzuschreiben. Das tut Maler im Jahr 1704 – vier Jahre, nachdem er freigelassen worden ist. So wird das Leben des Sohns aus Grüningen im Zürcher Oberland zu einem Stück Schweizer Geschichte.
Im Staatsarchiv Zürich liegen zum Leben des Jakob Maler zwei weitere Dokumente. Sie bezeugen das letzte, was über sein Leben bekannt ist. Am 20. September 1700 stellt ihm der Mönchaltorfer Pfarrer ein Zeugnis aus, das Jakob nach Zürich trägt. Darin steht:
«Thue desswegen Jakob Maler Ihnen als ein Landtkind zu gunsten und gnaden in underthenigkeit wol befehlen (unter Ihren Schutz stellen, die Red.), und Gott den Allmächtige zugleich von herzen bitten, dass er Jakob Maler in allen gnaden und wolstand beständig erhalten thüge.»
Mit diesen blumigen Worten schlägt der Pfarrer der Zürcher Obrigkeit vor, den nun 30jährigen zu unterstützen. Drei Tage später folgt der Rat der Empfehlung. Worauf das Almosenamt Jakob Maler Tuch und Kleidung aus Wolle aushändigt, einen Hut, gestrickte Strümpfe – und einen Degen. Er ist zu jener Zeit das Zeichen des freien und ehrenhaften Mannes.
Sämtliche Fakten dieses Artikels sind historisch belegt. Grundlage ist der von Jakob Maler selbstverfasste Reisebericht. Das Original aus dem Jahr 1704 ist zwar verschwunden, wurde jedoch abgeschrieben und von Historikern geprüft.