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Freitag, 21. Juni 2024

Die erste Strophe des «Kriegsliedes» von Matthias Claudius drückt einiges von dem aus, was meinen Pazifismus motiviert:

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
und rede Du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
nicht schuld daran zu sein!

Ich möchte am Krieg nicht schuld sein. Ich möchte mit meinem Denken, Reden, Tun und Lassen auf Frieden hinwirken, weil ich der festen Überzeugung bin, dass die Bestimmung des menschlichen Lebens gelebter Frieden und nicht Krieg ist.

In dieser Haltung habe ich in den neunziger Jahren meinen Militärdienst quittiert und stattdessen einen Ersatzdienst im sozialen Bereich geleistet. Die Beschäftigung mit pazifistischem Gedankengut hat mich in meiner Entscheidung bestärkt. Beispiele von gewaltfreien Bewegungen, die bedrohte und unterdrückte Menschen befreit und tragfähige Friedensräume geschaffen haben, gibt es genug. Sie haben in mir die Hoffnung genährt, dass sich der Weg des Friedens, so steinig und beschwerlich er auch sein mag, lohnt.

Seit Russland am 24. Februar 2022 seinen Grossangriff auf die Ukraine begonnen hat, bin ich in meiner Haltung herausgefordert. Dieser Krieg, der bereits zehn Jahre zuvor in Donezk und auf der Krim begann, mit einer noch längeren Vorgeschichte, hat an diesem Tag eine neue Dimension angenommen. Seither lassen sich sein Bedrohungspotenzial für Europa, seine Auswirkungen auf das weltpolitische Machtgefüge und die Gefahr einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg nicht mehr ignorieren.

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Die pazifistischen Bewegungen in unserer Weltgegend sind durch diese Eskalation arg zerzaust worden. Das mag damit zusammenhängen, dass der Pazifismus einen grossen Teil seiner Anhängerschaft seit je im linken politischen Spektrum findet. Die Nato als Verteidigungsbündnis des kapitalistischen Westens, das im Kalten Krieg gegen den Warschauer Pakt im kommunistischen Osten stand, war lange Zeit die Kriegsmacht, auf die man in der westeuropäischen Friedensbewegung Einfluss nehmen konnte und wollte. Gleichzeitig wird in der politischen Linken die historische Erinnerung bewahrt, dass es die Sowjetunion war, die mit einem enormen Blutzoll den entscheidenden Beitrag zur Überwindung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in Europa leistete.

Russland verfolgt mit seinem Angriff das Ziel, die Ukraine wieder in den Machtbereich der ehemaligen Sowjetunion einzugliedern. Begründet wird das auch damit, dass Russland durch die Nato-Osterweiterung bedroht sei. Ein weiterer Kriegsgrund, den Vladimir Putin anführt, ist der, dass die Ukraine entnazifiziert werden müsse. Damit spielt er auf nationalistische und neofaschistische Bewegungen an, die es leider in allen Ländern, auch in Russland, mehr oder weniger ausgeprägt gibt.

Zusätzlich verunsichernd wirkt, dass von rechter Seite nun auf einmal pazifistische Argumente aufgegriffen werden.

Daraus ergibt sich für die Positionierung eines links angesiedelten Pazifismus ein Dilemma: Soll er sich zusammen mit dem langjährigen Feindbild, welches das Militärbündnis Nato darstellt, mit der angegriffenen Ukraine solidarisieren? Oder soll er das russische Narrativ übernehmen, das ein Ende des Blutvergiessens in Aussicht stellt, wenn die Ukraine einer Friedenslösung nach Putins Vorstellungen zustimmt? Wobei mehr als zu befürchten ist, dass diese Friedenslösung das Ende der Ukraine als souveräner Staat mit einer freiheitlich organisierten Zivilgesellschaft bedeuten würde.

Zusätzlich verunsichernd wirkt, dass von der rechten Seite des politischen Spektrums, wo traditionellerweise eher die Doktrin von militärischer Stärke und Aufrüstung angesiedelt ist, pazifistische Argumente aufgegriffen werden. Getreu dem Credo einer absoluten Neutralität wird gefordert, der Ukraine auf keinen Fall Waffen zu liefern, mit der Konsequenz, dass diese lieber früher als später in einen Waffenstillstand einwilligt und einen Frieden akzeptiert, der von Russland definiert wird.

Sich abzuwenden ist kein Beitrag zum Frieden

Es ist eine Selbstüberschätzung, sich für alles, was in der Welt geschieht, verantwortlich zu fühlen. Darum besteht die Versuchung, Krieg, solange er einen nicht direkt betrifft, mit Claudius’ Gedichtzeile «’s ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!» zu ignorieren. Würde ein Krieg, für den sich niemand interessiert, nicht begrenzter bleiben als einer, in den sich nach und nach alle einmischen, die eine oder die andere Seite unterstützen und damit neue Fronten eröffnen? Die Quintessenz dieses Gedankens spricht aus dem Slogan «Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin».

Doch die Frage des Ignorierens bleibt theoretisch, weil in der modernen Gesellschaft Menschen, Gedanken, Informationen und Waren fast grenzenlos und in Windeseile zirkulieren. Alles ist mit jedem vernetzt, und je direkter einzelne Menschen, Interessengruppen und Staaten von Krieg, Gewalt oder Unterdrückung betroffen sind, desto grösser ist der Druck, sich dazu zu positionieren.

Gar keine Wahl hat ein angegriffener Staat. Wie er sich positioniert, muss schnell entschieden werden. Bewaffnete Verteidigung ist hier der legitime und naheliegende Reflex. Es kann der ukrainischen Bevölkerung nicht zur Last gelegt werden, dass sie in Notwehr zu den Waffen gegriffen hat. Es gibt wohl kaum Staaten auf der Welt, die über ein effizientes gewaltloses Selbstverteidigungsdispositiv verfügen.

Wer in einen Krieg verwickelt ist, egal ob selbstverschuldet oder unverschuldet, sucht Hilfe. Kriegsparteien schmieden Allianzen und versuchen Machtfaktoren und die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Wer keine Stellung bezieht, gleicht einem Kind, das die Augen verschliesst und hofft, es werde von niemandem gesehen.

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Pazifismus kann aber nicht heissen, die Augen vor grassierender Gewalt zu verschliessen. Es ist kein Beitrag zum Frieden, sich abzuwenden, wenn das Unrecht triumphiert. Wer heute gegen jegliche Unterstützung der Ukraine mit Verteidigungswaffen eintritt, muss darüber Rechenschaft ablegen, dass dort eine Zivilbevölkerung der Bombardierung ihrer Siedlungen und Infrastruktur ausgesetzt ist.

Hier stellen sich ernsthafte Fragen:

Ist Pazifismus, der nur von anderen den Gewaltverzicht fordert, nicht zynisch?

Ist ein Pazifismus, der einem Angriffsopfer die Verteidigungsmittel vorenthält, Entsolidarisierung mit dem Opfer und Anerkennung gewaltsam geschaffener Tatsachen?

Ist konsequente Neutralität angesichts eines Rechtsbruchs nicht Parteinahme für den Rechtsbrecher?

Gibt es Auswege aus der schrecklichen Wahl zwischen einem Krieg ohne Ende und dem Untergang der einen Partei?

Ein Blick in die Weltgeschichte zeigt unzählige Beispiele von erfolgreichen Friedensentwicklungen oder tragfähigen Versöhnungen. Leuchttürme des Pazifismus sind der lange und opferreiche Weg Indiens in die Unabhängigkeit, angeführt von Mahatma Gandhi, oder der Kampf um die Bürgerrechte der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA rund um Martin Luther King Junior.

Weniger prominent, aber nicht weniger eindrücklich sind Versöhnungsprozesse nach Kriegsereignissen oder nach Phasen von Unterdrückung. In diesem Zusammenhang sei auf die Arbeit der Wahrheitskommission in Südafrika hingewiesen. Diese hat nach Ende der Apartheid in mühsamen und schmerzhaften Prozessen Opfer und Täter miteinander ins Gespräch gebracht und damit Möglichkeiten des Neuanfangs eröffnet. Auch die Versöhnungsarbeit von Imam Muhammad Ashafa und Pastor James M. Wuye in Nordnigeria oder Friedensprojekte wie «Neve Shalom Wahat al-Salam» in Israel seien hier erwähnt.

Sowohl Gandhi als auch Luther King haben in ihren Befreiungskämpfen niemals die Gewalt des Stärkeren akzeptiert. Gewaltverzicht ist nicht gleichzusetzen mit Konfrontationsverzicht oder Verzicht auf Parteinahme. Wo aber besteht die Möglichkeit, mitten in einem heftig geführten Krieg mit all seinen Schrecklichkeiten einen Weg des Friedens zu finden?

Bei den meisten historischen Befreiungsbewegungen und aktuellen Friedensprojekten ist zu beobachten, dass sie den Grossteil ihrer Kraft aus einer geistlichen Wurzel bezogen und beziehen. Das jesuanische Gebot der Feindesliebe ist nur dann zu realisieren, wenn in der Feindin oder im Feind das Menschliche entdeckt wird. Das also, was der Liebe würdig ist.

Oft beginnt der Weg des Friedens im Kleinen. Vielleicht im Gebet, in der Suche nach Zeichen der Hoffnung oder in der Pflege einer Sprache des Friedens.

Nicht umsonst besteht ein wesentlicher Teil der Kriegsvorbereitungen und Kriegsführung darin, andere Menschen abzuwerten und so lange zu entmenschlichen, bis jegliche Möglichkeit erlischt, in diesen Feinden etwas Liebenswertes zu finden. Ungeziefer muss vernichtet werden, heisst es auf der einen Seite. Auf der anderen heisst es: Gegen einen skrupellosen Feind, dem jegliche Menschlichkeit fremd ist, kann man sich nur verteidigen, indem man ihn unschädlich macht.

Der Weg des Friedens beginnt dort, wo diese Front in den Köpfen aufgeweicht wird. Wer von denen, die direkt im Feuer stehen, fordert, diesen Weg unverzüglich einzuschlagen, verlangt sehr viel. Von denen, die in sicherer Distanz zum Kriegsgeschehen leben, kann dieser Weg aber betreten werden. Oft beginnt er im Kleinen. Vielleicht im Gebet, in der Suche nach Zeichen der Hoffnung, im Ausschauhalten nach Wahrheit, im Bekenntnis zu dieser Wahrheit, in der Solidarität mit Friedens- und Versöhnungsprojekten und in der Pflege einer Sprache des Friedens.

Ein Plädoyer für die kleinen Schritte

Seit dem 24. Februar 2022 sind weltweit auch andere Kriege neu aufgeflammt. Der andauernde Konflikt zwischen Palästina und Israel hat mit der Attacke der Hamas am 7. Oktober des letzten Jahres und den verheerenden Folgen der militärischen Antwort im Gazastreifen eine neue Eskalationsstufe erreicht. Auch hier sind Meinungsfronten durcheinandergewirbelt worden. Auch hier stellen sich die Fragen an den Pazifismus mit aller Dringlichkeit.

Während in weltanschaulichen Foren fieberhaft nach ordnenden Argumenten im Knäuel von humanitärem Völkerrecht, Antisemitismus, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Terrorismus gesucht wird, feuern die Waffen aus allen Rohren, läuft die Propagandaflut weltweit auf Hochtouren und leiden und sterben jeden Augenblick Menschen, die das weder verdient noch verschuldet haben.

Die Herausforderungen, vor die ein entfesselter Krieg die Menschen stellt, überfordern alle. Gäbe es eine pazifistische Patentlösung, wäre sie längst angewendet worden. Auch ich habe diese Lösung nicht. Ich erachte es in Zeiten von Unsicherheiten, Propaganda, hybrider Kriegführung und Polarisierung aber als eine Aufgabe, mich sorgfältig zu informieren und mich voreiliger Schlussfolgerungen zu enthalten. Gleichzeitig möchte ich mich davor hüten, meine Augen vor Unrecht zu verschliessen oder dieses mit Verweisen auf die schwierige Informationslage nicht mehr als solches zu benennen.

Hoffnung ist der Wille zur Zukunft

Angesichts von Armut, Krieg und Klimakatastrophen schaut manch...

Oktober 2022
Heribert Prantl
Grafilu

Friedenseinrichtungen wie die Uno, das Völkerrecht und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte möchte ich gerade in stürmischen Zeiten nicht schlechtreden oder desavouieren. Wer, wenn nicht sie, kann ein Kompass für die Einschätzung der Lage sein?

Ich möchte bei genauem Hinsehen Inseln des Friedens und die Hoffnungsfunken der Versöhnung wahrnehmen. Dabei hilft es, auf Friedensstimmen auf allen Seiten der Konflikte zu achten, diese zu vernetzen und nach Möglichkeit zu verstärken.

Ich möchte mich der Hoffnung nicht verschliessen, dass in Gesprächen und auf Konferenzen, wie zum Beispiel derjenigen, die die Schweiz auf dem Bürgenstock organisiert, Ansätze für weiterführende Verhandlungen gefunden werden.

Einem diktierten «Frieden», bei dem die Waffen erst schweigen, wenn ein Staat oder eine Bevölkerung das eigene Existenzrecht aufgibt, möchte ich nicht das Wort reden. Stattdessen möchte ich mich dafür starkmachen, dass Staaten die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die sie vor dem Beschuss ihrer Wohngebiete und ziviler Einrichtungen schützen, und dass notleidende Menschen den nötigen Schutz bekommen. Das hat sich seit dem Grossangriff auf die Ukraine in meinem Denken verändert.

Mir ist bewusst, dass eine solche Haltung teilweise im Widerspruch zu einem Pazifismus steht, der bewaffneten Widerstand kategorisch ablehnt. Auch steht sie im Widerspruch zu Matthias Claudius’ Gedanken: «’s ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!»

Es bleibt allerdings zu fragen, ob angesichts der Not anderer das Begehren, selbst schuldlos zu bleiben, nicht ebenfalls eine Schuld ist. Grösser sogar als diejenige, die mit einer aktiven Entscheidung bewusst auf sich genommen und verantwortet wird. Die Gesinnung definiert das Ziel: Frieden auf Erden. Die Verantwortung bestimmt die Schritte auf dem Weg dorthin. Oft können wir nicht anders als schuldig werden. Wer sich dessen bewusst ist, kann und muss beide Teile der Bitte von ganzem Herzen mitsprechen: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.»

Aufmacherbild: Der Krieg in der Ukraine hat für viele Friedensaktivisten alte Gewissheiten durcheinandergewirbelt. (KEYSTONE/mauritius images/EASTEND72)