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Bilder: Jacobia Dahm
Freitag, 08. Juni 2018

Nora Gomringer, 38, leitet das Künstlerhaus des Freistaates Bayern in der Altstadt Bambergs. Heute sind im Garten der Barockvilla ihre Eltern zu Gast: der Dichter Eugen Gomringer, 93, und die Lyrikexpertin Nortrud Gomringer, 76. Seit bald einem Jahr drehen sich die Familienzusammenkünfte vor allem um eines: das auf Spanisch verfasste Gedicht «Avenidas» von Eugen Gomringer. Seit 2011 ziert es die Fassade einer Berliner Hochschule. Nachdem eine Gruppe von Studierenden die acht Zeilen als sexistisch kritisiert hatte, entspann sich im Spätsommer 2017 im Windschatten von #metoo eine hitzige Debatte darüber, was Kunst darf – oder eben nicht. Im Januar 2018 kündigte die Schulleitung an, das Gedicht zu übermalen.

Eine überraschende Stimme in diesem Streit war Gomringers Tochter Nora. Sie bezeichnete «Avenidas» als «theologisches Gedicht». Auch sonst fällt die Lyrikerin durch ihren unverkrampften Zugang zu Religion und Christsein auf. Im Garten sprechen Nora und ihr Vater über Bewunderer und Wunder, Eugen Gomringers alten Freund Kurt Marti sowie die Wahlverwandtschaft von Lyrik und Glauben.

Herr Gomringer, Ihr Gedicht wird seit letztem Herbst in allen deutschsprachigen Medien hitzig diskutiert — 65 Jahre nachdem Sie es geschrieben haben.

Eugen Gomringer Ich bin darüber völlig verwundert. Zuerst habe ich es gar nicht mitbekommen. Erst nach und nach erfuhr ich davon aus der Presse. «Avenidas» war ja auch jahrelang ein Schulgedicht. Viele Kinder haben die Struktur des Gedichts benutzt, um eigene Gedichte zu schreiben.

Die Debatte hat Sie vom Schulbuchdichter zum Altherrenlyriker gemacht.

Eugen Gomringer Das Etikett des Altherrenlyrikers löst bei mir Kopfschütteln aus. Bis im vergangenen Jahr wurde das Gedicht nie so verstanden. So besuchte ich einmal eine Primarschule und las mit den Schülern das Gedicht. Sie mochten mich und sie mochten «Avenidas». Nach dem Unterricht bin ich zum Parkplatz gelaufen. Die Kinder rannten mir nach und ein Mädchen fragte mich: Haben Sie eine Frau? Das zeigt doch, wie harmlos der Inhalt ist.

Nora, Ihr Vater ist überrascht. Sie aber sind deutlich verärgert. Was hat Sie bewogen, sich in dieser Debatte zu äussern?

Nora Gomringer Ganz einfach: Da haben kunstferne Menschen über ein Gedicht und einen Dichter gerichtet. Mich nervt, dass die Diskussion völlig am Thema vorbeizielt.

Wie meinen Sie das?

Nora Gomringer Wir reden jetzt seit Monaten darüber, ob «Avenidas» ein sexistisches Gedicht ist oder nicht. Da wird ein Kulturkampf herbeigeführt: Feministinnen gegen Frauenhasser, Establishment gegen freie Kunst, Junge gegen Alte. Im Gedicht geht es fast zufällig um Frauen, Alleen und Blumen. Würde da «Menschen» statt «Frauen» stehen, würde sich niemand über das Gedicht ärgern.

Tatsache ist aber: Das Gedicht handelt von Frauen und einem Bewunderer.

Nora Gomringer Ich bin selber Feministin. Deshalb ärgere ich mich über alle antifeministischen Kreise, die mich als eine der ihren vereinnahmen wollen. Die mich sozusagen als gute Tochter und braves Mädel loben und sagen, richtig so, zeig’s diesen verdammten Emanzen. Und das ist noch das zärtlichste, was da gesagt wird. Ich verteidige meine feministischen Schwestern sogar, auch wenn ich finde, dass sie germanistisch völlig auf dem Holzweg sind. Alle bleiben unbelehrbar und ziehen das Gedicht ins Lächerliche.

Können Sie der Kritik also wirklich gar nichts abgewinnen?

Nora Gomringer Ich habe mich auch schon gefragt: Sitze ich hier in diesem saturierten Bayern und sehe die ganze Dramatik nicht? Habe ich einfach einen grossen blinden Fleck? Doch für mich geht es bei diesem Gedicht nicht so sehr um den Inhalt. Es ist konkrete Poesie. Die Struktur steht im Vordergrund. Dass das nie zur Sprache kommt, zeigt doch nur, wie wenig Wissen vorhanden ist. Der Lyrik hat dieser Streit nichts gebracht.

Eugen Gomringer In «Avenidas» geht es doch darum, eine Wirkung mit ganz wenigen Worten zu erzielen.

Welche Wirkung soll «Avenidas» haben?

Eugen Gomringer Es ist ein Manifest der Schönheit.

Nora Gomringer Dass sich hier ein Gaffer über Frauen erheben soll, ist einfach absurd. Der «admirador» ist durch dieses «y» mit allen anderen Elementen verbunden. Er ist Teil davon.

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