Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autorin: Sabera Aitabar
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 06. Oktober 2023

Seit die Taliban im August 2021 Afghanistan erobert haben, ereignen sich in unserem Land unzählige Katastrophen, die das Leben aller Menschen beeinträchtigen. Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit sind weit verbreitet. Eine grosse Schicht gebildeter Menschen wurde vertrieben, kulturelle Unterschiede wurden beseitigt und die afghanischen Frauen nahezu vollständig aus dem öffentlichen Leben verbannt. Alle Grundrechte wurden ihnen entzogen. Sie haben nicht einmal mehr das Recht zu reisen, geschweige denn intellektuelle und kritische Arbeit zu leisten.

Ich selbst wurde in eine politische, religiöse und auch kulturell interessierte Familie hineingeboren. Einer meiner Grossväter war Parlamentsabgeordneter, der andere ein bekannter schiitischer Geistlicher, der viele religiöse Schulen in Afghanistan gründete. Ich war noch keine drei Jahre alt, als meine Familie und ich unser Dorf verlassen mussten, um nach Iran zu fliehen. Dort besuchte ich die Grundschule. Nach der Bildung einer demokratischen Regierung in Afghanistan kehrte ich in mein Land zurück und schaffte es, an der Fakultät für Philosophie und Soziologie der Universität Kabul aufgenommen zu werden.

Sabera Aitabar wurde 1988 in einem kleinen Dorf in der Provinz Bamiyan in Zentralafghanistan geboren. Ihre Kindheit und einen Grossteil ihrer Jugend verbrachte sie in Iran, wohin ihre Familie zu Beginn der neunziger Jahre geflüchtet war. Nach der Rückkehr in ihre Heimat und dem Abschluss ihrer schulischen Ausbildung schrieb sie sich im Fach Soziologie an der Universität Kabul ein. Spezialisiert auf Postkoloniale Studien sowie Gender Studies, veröffentlichte sie mehrere Artikel und Übersetzungen in afghanischen Publikationen. Sabera Aitabar arbeitete zudem als Fernsehmoderatorin und engagierte sich in verschiedenen Verbänden.

Nachdem die USA den Rückzug ihrer Truppen aus Afghanistan für den Sommer 2021 angekündigt hatten und die Taliban immer grössere Teile des Landes zu erobern begannen, versuchten zahlreiche Journalisten, Akademikerinnen und Kulturschaffende zu fliehen. Dabei wandten sie sich auch an verschiedene Autorenverbände, sogenannte PEN-Clubs.

In der Schweiz engagierte sich Sabine Haupt, Schriftstellerin und Professorin für Literaturwissenschaft, für ihre Kolleginnen und Kollegen in Afghanistan. Dank ihrer Aktion konnten rund 56 Personen in die Schweiz einreisen, 43 mit einem humanitären Visum. Alle sind mittlerweile als Flüchtlinge anerkannt und haben eine entsprechende Aufenthaltsbewilligung erhalten. Einige von ihnen, darunter Sabera Aitabar, ihr Mann und ihre achtjährige Tochter, suchen derzeit noch nach einer Wohnung. vbu

Eines meiner grossen Ziele war, aktiv am Aufbau des intellektuellen Lebens in Afghanistan mitzuwirken. Doch mit der Machtergreifung der Taliban wurden meine Pläne auf Eis gelegt. Am 27. Oktober 2022 bin ich dank einem humanitären Visum in die Schweiz gekommen. Seither habe ich in vier Flüchtlingsunterkünften in verschiedenen Schweizer Städten gelebt. Noch immer bin ich nicht zu einem normalen Leben zurückgekehrt, noch immer habe ich keinen privaten Raum zum Nachdenken und Schreiben. Diese Erfahrung hat mich dazu gebracht, die Welt, in der wir leben, mit anderen Augen zu sehen.

Die Dimensionen der Katastrophe, die sich derzeit in Afghanistan abspielt, sind so weitreichend, dass in diesem Text nicht alle Aspekte behandelt werden können. Stattdessen möchte ich ein Schlaglicht werfen auf die Situation der Frauen in Afghanistan. Als Soziologin kann ich das jedoch nicht losgelöst vom grossen Ganzen tun: Die Probleme, mit denen die afghanischen Frauen konfrontiert sind, ergeben sich aus den spezifischen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und historischen Kontexten der afghanischen Gesellschaft. Nur wenn wir diese Kontexte verstehen, erlangen wir auch ein Verständnis der Situation, in der sich die Frauen derzeit befinden.

Die Auswirkungen des Vielvölkerstaates

Afghanistan gleicht einem Museum der Ethnien. Einige Quellen gehen von 50 Ethnien und 30 verschiedenen Sprachen aus, andere von mehr als 200. Einige dürften sogar noch gänzlich unbekannt sein. 14 Ethnien wurden vor den Taliban in der Verfassung erwähnt und anerkannt.

Ich persönlich finde diese kulturelle Vielfalt aufregend, doch sie ist fraglos eine Besonderheit, die es bei der Analyse jeglicher Probleme in Afghanistan zu bedenken gilt. Klar ist: Die Verteilung von Macht, Reichtum und Ressourcen in der Gesellschaft basiert bis heute auf dem Faktor Ethnizität. Entsprechend sind die meisten Konflikte in Afghanistan ethnische und Stammeskonflikte.

In den letzten dreihundert Jahren lag die politische Macht bis auf eine kurze Zeitspanne in den Händen des paschtunischen Volkes, das sich selbst als Mehrheit betrachtet. Die historischen Quellen liefern viele Hinweise darauf, dass das paschtunische Volk repressive Strategien verfolgt und Minderheiten eliminiert hat, um seine Macht aufrechtzuerhalten. So wurden Stämme zur Umsiedlung gezwungen und ihr Land wurde annektiert, es kam zu Versklavungen, Tötungen und sogar Völkermorden.

Nie ist es gelungen, über längere Frist eine Regierung zu bilden, die mit allen Verschiedenheiten umgehen kann.

Das hat dazu geführt, dass die soziale und politische Solidarität innerhalb der einzelnen Ethnien und Stämme zwar immer stark war, auf nationaler Ebene jedoch bis heute schwach geblieben ist – ein grosses Hindernis für die Entstehung eines Nationalstaates.  Daraus ergibt sich eine Reihe von Problemen. Das erste ist die Abwesenheit einer stabilen Regierung, was bei weitem nicht nur ein aktuelles Phänomen ist: Seit Afghanistan 1919 unabhängig wurde, hat es verschiedene Regierungsformen wie die Monarchie, den Kommunismus oder die Demokratie durchlaufen.

Nie ist es gelungen, über längere Frist eine Regierung zu bilden, die mit allen Verschiedenheiten umgehen kann, die Rechte der Minderheiten berücksichtigt und allen Einwohnern ein Leben in Wohlstand ermöglicht. Das ist mit ein Grund, warum Afghanistan ein Ort des Chaos und der Kriege geblieben ist.

Allerdings basierten alle bisherigen Regierungsformen nicht allein auf dem Willen des Volkes – sie wurden auch von ausserhalb nach Afghanistan gebracht. Sie stimmten nicht mit den tatsächlichen Bedürfnissen und soziokulturellen Kontexten der Gesellschaft überein und wurden deshalb nicht akzeptiert. Afghanistan braucht eine Regierungsform, die die beschriebenen Unterschiede anerkennt. Wie diese aussehen könnte, ist noch nicht entschieden. Einige glauben, dass das politische System des Föderalismus, wie es die Schweiz kennt, eine geeignete Antwort sein könnte.

Importierte Kriege

Ein weiterer Faktor, der die Situation in Afghanistan verkompliziert, ergibt sich aus der kolonialistischen Geschichte. Einige Analysen versuchen es so darzustellen, als ob das momentane Chaos einzig auf interne Ursachen zurückzuführen sei. Dieser Ansatz ist aber höchst einseitig. Afghanistan hat in der jüngeren Vergangenheit vor allem unter dem Imperialismus gelitten. Einige afghanische Kritiker glauben sogar, dass keiner der Kriege eine Auseinandersetzung zwischen Afghanen war, sondern dass unser Land lediglich das Stellvertreterschlachtfeld von Supermächten wie der UdSSR und den USA war. Ich glaube, dass unsere zeitgenössische Geschichte zumindest vor diesem Hintergrund betrachtet werden sollte.

Gemäss Statistiken wurden während der Besetzung durch die Sowjetunion (1979–1989) rund 1,8 Millionen Afghanen getötet, 5 Millionen wurden aus dem Land vertrieben oder sind ausgewandert. Während der zwei Jahrzehnte amerikanischer Präsenz (2001–2021) wurden etwa 70 000 Soldaten und Polizisten sowie 46 000 Zivilisten getötet. Auch die drei von den Briten verursachten Kriege (1839–1842, 1878–1880 und 1919) hinterliessen unzählige Verluste und Probleme. Es bedarf jahrelanger Forschung, um die Ausmasse dieser Katastrophen und ihre Auswirkungen auf das Leben der afghanischen Bevölkerung zu untersuchen. Klar ist aber, dass die Probleme unseres Landes nicht nur innenpolitisch begründet sind. Sie sind die Folge eines imperialen Kapitalismus.

Wir leben in einer Ära des Profits, der Megakonzerne und des Privatbesitzes. Alles, womit man Gewinn erzielen kann, ist im kapitalistischen System legitim. Werte wie die Rettung von Menschenleben, Selbstaufopferung oder die Achtung vor anderen haben dagegen keinen Platz. Egoismus tritt an die Stelle von gegenseitigem Respekt.

Die Kriegsindustrie ist eine Weiterführung dieser Logik. Denn wenn der Profit über allem steht, ist es egal, ob er durch den Handel mit Körperteilen entsteht oder durch den Verkauf von Waffen. Es ist auch egal, ob dadurch die Umwelt zerstört wird oder die körperliche, geistige und moralische Gesundheit von Menschen. Krieg ist für kapitalistische Systeme bloss eine weitere Möglichkeit, Profit zu machen. Die Kriege in Afghanistan, aber auch im Irak, in Syrien oder in Jemen sind die Folge davon.

In den zwei Jahrzehnten amerikanischer Präsenz in Afghanistan spaltete sich das Land in zwei Teile: eine hungrige und benachteiligte Mehrheit und eine reiche Minderheit, die vom Krieg profitierte. Jeden Tag vergrösserten diejenigen, die an der politischen Macht beteiligt waren, ihren Einfluss und ihren Reichtum. Es wurden ihnen Möglichkeiten geboten, vom Kauf von Liegenschaften innerhalb und ausserhalb Afghanistans über die Gründung einer Bank bis hin zur Beschaffung von hochbudgetierten Mitteln für ihre Projekte. Das Ziel dieser Menschen war, Minister oder Anwalt zu werden. Oder aber Warlord.

Meine Schwester Anisa verbrachte viele Wochen fast ohne Nahrung in den Bergen, um das Leben ihrer sechs Kinder zu retten.

Was in der Zwischenzeit fehlte, war eine Entwicklung zugunsten der Mehrheit des afghanischen Volkes. Dazu gehören nicht nur, aber in besonderem Masse die Frauen: Es sind die Witwen, deren Ehemänner durch die Taliban oder während der zwei Jahrzehnte amerikanischer Präsenz ums Leben kamen. Es sind die Frauen, die die Verantwortung für ihre Familien tragen müssen, aber kein Recht auf Arbeit mehr haben und in der Folge hungern müssen.

Ich habe drei Brüder und drei Schwestern, die alle in einem anderen Land leben, wir sind verstreut von Afghanistan über Iran, die Schweiz, Deutschland und Amerika. Der Mann meiner Schwester Anisa wurde während der ersten Herrschaft der Taliban (1996–2001) von diesen getötet. In ihrer Nachbarschaft lebte damals die religiöse und ethnische Minderheit der Sadat, zu der auch ich gehöre. Die Taliban töteten gezielt Männer dieser Minderheit, so dass viele von ihnen das Dorf verliessen. Sie versammelten sich, um in die Berge zu fliehen, und wurden dort von Hubschraubern beschossen. Ihre Massengräber liegen noch immer auf dem Hügel des Dorfes, markiert mit farbigen Tüchern.

Anisa verbrachte viele Wochen fast ohne Nahrung in den Bergen, um das Leben ihrer sechs Kinder zu retten. Sie selbst erlitt eine Rückenverletzung und kann seither nicht mehr ohne Schmerzen aufrecht gehen. Derzeit lebt sie in einem Dorf in der Provinz Bamiyan. Sie ist krank und einsam, ihre fünf Töchter sind mittlerweile erwachsen und verheiratet, ihr Sohn ist illegal nach Iran gegangen, um dort zu arbeiten. Vielleicht vereinen sich alle Leiden unserer Familie in der Gegenwart von Anisa.

Es gibt wohl Hunderttausende Frauen wie meine Schwester, über die kein Medium schreibt. Sie sind weder Journalistinnen noch Politikerinnen und kamen daher nicht für eine Evakuierung infrage, als die Taliban das Land zurückeroberten. Sie hatten keine Chance zu fliehen. Diese Frauen sind die Hauptverliererinnen des kapitalistisch motivierten Krieges.

Ironischerweise haben die USA ihre Präsenz in Afghanistan gerade auch mit der Verteidigung der Frauenrechte gerechtfertigt, mit feministischen Werten und Slogans – und damit letztlich mit populistischen Scheinargumenten. Denn um uns ging es nie, das wissen die Frauen nach dem verantwortungslosen Einmarsch und Abzug der amerikanischen Truppen nur zu gut.

«Der Einsatz ist gescheitert, sinnlos war er nicht»

Der reformierte Pfarrer Stefan Werdelis über seinen Einsatz al...

September 2021
Tom Kroll
Roshan Adhihetty

Die Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung, die allen zugute kommt, wären Investitionen in das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung und das wirtschaftliche Wohlergehen. Das aber wurde der Mehrheit der afghanischen Frauen vorenthalten. Das System des freien Marktes, das die Amerikaner in Afghanistan etablierten, führte zwar zu einer kleinen, privilegierten Minderheit von Frauen; die Mehrheit, insbesondere auf dem Land, lebt jedoch weiterhin in Not.

Mehr noch: Die amerikanische Militärpräsenz hat zu einer Re-Traditionalisierung und Tribalisierung Afghanistans geführt. Die USA haben die Taliban nicht vernichtet, sondern zu einer mächtigen Gruppe gemacht. Der Wert der militärischen Ausrüstung, die sie nach ihrem Abzug zurückliessen, wird auf rund sieben Milliarden Dollar geschätzt. Sie befindet sich jetzt in den Händen der Taliban. Laut Recherchen und Berichten sind in Afghanistan ausserdem 22 Terrorgruppen aktiv.

Die Frage der afghanischen Frauen lautet: Könnten die Taliban überhaupt noch überleben, wenn sie kein Geld und keine Waffen hätten? Wenn diese Ressourcen abgeschnitten würden, hätten sie unter der afghanischen Bevölkerung keinen Platz mehr.

Die amerikanische Schriftstellerin und Denkerin Zillah R. Eisenstein sagt: «Der Kapitalismus ist der Ursprung der zeitgenössischen Gewalt gegen Frauen.» Für Afghanistan trifft diese Aussage sicherlich zu.

Mehrfache Unterdrückung

Erschwert wird das Leben der Frauen in Afghanistan durch einen weiteren Faktor: In der afghanischen Gesellschaft sind frauenfeindliche Werte verankert. Frauen werden im Vergleich zu Männern als minderwertige Wesen definiert, als unfähig, schwach und irrational. Es sind die Männer, die die Frauen führen und beschützen sollen – und so ihren Lebensweg kontrollieren.

Die religiösen Schriften mögen unterschiedliche Bedeutungen haben, aber es sind Männer, die sie interpretieren und dabei ihre eigenen Interessen verfolgen. Und weil diese Interpretationen von einer Aura der Heiligkeit umgeben sind, erfordert ihre Änderung jahrzehntelangen Kampf und ernsthafte intellektuelle und kritische Arbeit.

Weiter kommen ethnische, sprachliche, religiöse und geografische Variablen ins Spiel. Oder anders gesagt: Frauen in Afghanistan werden nicht nur aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, sondern auch aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, der Sprache, die sie sprechen, der Religion, mit der sie geboren wurden, und der Ortschaft, in der sie leben.

Mit der Machtergreifung der Taliban sind alle Bemühungen der Frauen um einen Wandel zunichte gemacht worden.

So werden etwa Frauen, die dem Volk der Hazara angehören, aber auch Hindus und andere Minderheiten, viel stärker unterdrückt als etwa paschtunische Frauen. Der Kampf von Frauen in anderen Ländern scheint mir deshalb einfacher zu sein, weil dort das Element Geschlecht die Hauptursache für Ungleichheit ist. Afghaninnen dagegen sind einer vielschichtigen und vielfältigen Unterdrückung ausgesetzt. Für diesen Kampf auf vielen Ebenen brauchen wir zusätzliche Energie.

Frauen haben in jeder Epoche versucht, sich den Regeln zu widersetzen, die zugunsten der Männer geschrieben wurden. Während der vorherigen Regierungszeit haben sie erreicht, dass ein Gesetz zum Verbot von Gewalt gegen Frauen verabschiedet wurde oder dass der Name der Mutter in den Geburtsurkunden erwähnt wird. Sie besetzten 25 Prozent der Parlamentssitze und zahlreiche Positionen in der Wissenschaft. Das afghanische Frauenorchester Zohra war an der Entwicklung der afghanischen Kultur und Kunst beteiligt und bemühte sich, die klassische Musik unseres Landes zu bewahren. Frauen veröffentlichten auch Hunderte literarische und wissenschaftliche Bücher.

Mit der Machtergreifung der Taliban sind alle Bemühungen der Frauen um einen Wandel zunichte gemacht worden. Obwohl sie die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ausmachen, wurden unter dem jetzigen Regime alle Interessen und Belange von Frauen marginalisiert, vom Recht auf Bildung über die Wahl des Ehepartners bis hin zur Teilhabe an Gesellschaft und Politik. Die Taliban betrachten sich als die Besitzer und Anführer der Frauen, indem sie bestimmte religiöse oder gesellschaftliche Grundsätze gegen sie interpretieren.

Die Schuldfrage

Ein kleiner Junge stirbt beim Kentern eines Bootes mit Geflüch...

August 2023 bref+
Silke Weber

All das macht die afghanischen Frauen zu den am stärksten unterdrückten Menschen auf dem Planeten. Zu diesem Schluss kam jüngst auch ein Bericht der Vereinten Nationen, der im Zusammenhang mit der geschlechtsspezifischen Verfolgung von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit spricht.

Ich bin dankbar für die Freundlichkeit der Schweiz, die mir in diesen schwierigen Zeiten Schutz gewährt. Doch der Anblick der vielen Flüchtlinge in den Lagern und die Traurigkeit in ihren Augen berühren mich zutiefst. Ich sehe heute eine Welt voller Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Eine Welt, in der unzählige Menschen gezwungen sind, zu fliehen, umherzuwandern und ihre Identität und Würde infrage stellen zu lassen. Eine Welt, in der Vertriebene von den Regierungen und der Politik mit Füssen getreten werden.

Für Afghaninnen ist die Chance gestiegen, in der Schweiz Asyl zu erhalten – das Staatsekretariat für Migration (SEM) hat vor kurzem seine Praxis geändert. Grund dafür ist, dass sich «die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban in vielen Lebensbereichen kontinuierlich verschlechtert» hat, wie das SEM auf seiner Homepage schreibt. Die zahlreichen Einschränkungen und auferlegten Verhaltensweisen würden ihre Grundrechte massiv einschränken, weshalb ihnen «die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen» sei.

Die Praxisänderung bedeute keine Generalamnestie für alle Afghaninnen, wie Vertreter des SEM gegenüber mehreren Medien präzisiert haben. Vielmehr sollen alle Gesuche weiterhin individuell geprüft werden. Die Schweiz hole damit lediglich nach, was andere europäische Länder schon machten, heisst es weiter.

Konkret können nun Afghaninnen, deren Asylgesuch in der Vergangenheit abgelehnt wurde oder die in der Schweiz vorläufig aufgenommen wurden, (erneut) um Asyl ersuchen. Gesuchstellende, die noch kein Asylverfahren durchlaufen haben, müssen sich an ein Bundesasylzentrum wenden, wo sie in das ordentliche Verfahren aufgenommen werden. vbu

Glück ist für mich nichts Individuelles mehr, sondern eine kollektive Angelegenheit geworden. Solange auch nur ein Mensch irgendwo auf der Welt unter Hunger, Krieg und Ungerechtigkeit leidet, kann der andere nicht als glücklich angesehen werden. Selbst wenn er im Wohlstand lebt.

Derzeit haben diejenigen, die sich gegen die Unterdrückung der Taliban zur Wehr setzen, keine finanziellen Mittel oder politische Unterstützung. Ihr Widerstand ist einsam. Er entspringt allein den Zielen und Träumen der Frauen und ist das Ergebnis unzähliger Leiden und bitterer Erfahrungen. Die Weltmedien aber versuchen, die Frauen als verlorene Opfer darzustellen. Wenn stattdessen der Mut und der Kampf gegen die Taliban reflektiert würden, würden die Frauen sich vielleicht weniger allein fühlen.

Seit die Taliban vor zwei Jahren die Macht übernommen haben, gelten die Proteste der Frauen als der einzige zivile Aktivismus in der afghanischen Gesellschaft. Der Kampf ums Überleben, um ein Leben in Freiheit und Gleichheit geht weiter. Jeden Tag werden wir Zeuge dieses Kampfes. Die Frauen gehen nicht mit Gewehren, Pistolen oder Granaten auf die Strasse, sondern sie lesen Gedichte, tragen bunte Kleidung oder singen Lieder. Die Purple-Saturdays-Bewegung, die kurz nach dem Fall Kabuls gegründet wurde, oder die afghanische Frauenrevolutionsbewegung verbreiten Videoclips von Protest-Aktionen, Online-Unterricht oder Workshops für Frauen.

Inmitten der grossen Dunkelheit, die Afghanistan bedeckt, flackern die Lichter des Widerstandes noch immer, wenn sie auch klein und einsam sind. Möge sich dieses Licht ausbreiten und irgendwann die ganze afghanische Gesellschaft erleuchten.

Übersetzung: Sayed Hakim Kamal; redaktionelle Bearbeitung: Vanessa Buff