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Aufgezeichnet von: Tom Kroll
Freitag, 17. September 2021

Ein Mann steuert sein silbernes Cabrio durchs Berner Mittelland. Dreht man sich im Wagen um, ist im Nebel das Jungfraujoch zu sehen, voraus liegen Wiesen am Hang, dann ein Ortsschild: Gerzensee. Der deutsche Kriegseinsatz in Afghanistan, der mit einer chaotischen Rettungsaktion am Kabuler Flughafen endete, könnte ferner nicht sein. Tatsächlich aber ist er ganz nah, und zwar in den Geschichten des Mannes, der neben einem sitzt.

Stefan Werdelis, ehemaliger Militärseelsorger der Bundeswehr, lenkt sein Auto auf eine Kieseinfahrt direkt vor der reformierten Kirche. Seit einigen Monaten ist er der neue Pfarrer im Dorf. Auf dem Stubentisch hat er laminierte Fotos ausgebreitet, einen auf der Oberseite mit Name und deutscher Flagge bestickten Klettstreifen und weitere Erinnerungsstücke aus seiner Zeit in Afghanistan. In einem Ordner sammelt er sorgfältig ausgeschnittene Artikel zu Afghanistan.

Am Ende wird er vier Stunden von seinem fünfmonatigen Einsatz im Jahr 2009 erzählt haben. Davon, was es heisst, Soldaten ihre letzte Ehre zu erweisen, vom Leben in einer westlichen Männer-Kleinstadt mit Blick auf den Hindukusch, und wie es ist, den Menschen eines Landes nur hinter Panzerglas begegnen zu können. Im Laufe des Gesprächs erscheinen erste Push-Mitteilungen auf dem Handy-Bildschirm. In Kabul hat sich ein Anschlag ereignet. An diesem Tag starben bei einem Selbstmordattentat am Flughafen 170 Zivilisten und 13 US-Soldaten. Als Stefan Werdelis die Nachricht sieht, entfährt ihm ein «Fuck».

Tage später sagt Werdelis am Telefon, dass ihn das Erzählen und Eintauchen in die Vergangenheit zu seiner eigenen Überraschung mitgenommen habe.

Es ist hart zu sehen, wie nun Tausende von Menschen aus Kabul ausgeflogen werden. Während meiner Zeit als Militärseelsorger flog ich oft von dort ab. Das im Fernsehen gezeigte Flughafengelände kenne ich darum gut. Ich war 2009 für fünf Monate im Lager Masar-i-Scharif im Einsatz. 3000 Deutsche, 2000 Norweger und 2000 Amerikaner lebten dort. Jetzt sind sie weg und die Taliban zurück. Unweigerlich fallen mir all die Menschen ein, denen ich in Afghanistan begegnet bin und die nun in eine ungewisse Zukunft blicken.

Über das Scheitern der internationalen Truppen nachzudenken fällt mir ebenfalls schwer. Wohl auch, weil ich Teil von ihnen war. Alles fühlt sich so an, als würde gleich eine verheilt geglaubte Wunde wieder aufplatzen. Eines der Ereignisse, das mich in Afghanistan am meisten prägte, ereignete sich am Abend des 29. Aprils. Ich war rund zwei Monate im Land, ein normaler Arbeitstag ohne besondere Vorkommnisse. Über unserem Lager war gerade die Sonne untergegangen, und ich sass in meinem Büro vor dem Computerbildschirm, als plötzlich dort eine Meldung erschien.

Stefan Werdelis im Lager Masar-i-Scharif, 2009.

Ich überflog die Zeilen und fand Sätze, in denen Wörter wie «Feuergefecht», «verwundet» und «ein Toter» geschrieben standen. Dann blickte ich aufs Handy und sah, dass eine Nachrichtensperre nach Deutschland bestand. Mir war klar: Etwas Schlimmes muss passiert sein. Ich spürte das Adrenalin im Körper, mein Herz pumpte. Der Notfallplan sah vor, dass der Platz des Militärseelsorgers im Lazarett zu sein habe. Ich rannte aus meinem Büro, vorbei an endlos vielen Gebäuden, bis es plötzlich nicht mehr weiterging. Vor mir waren die Betongräben, die das Lager mit Wasser versorgten. Ich hatte mich verlaufen, und die Taschenlampe lag noch im Büro.

Da stand ich also in der Dunkelheit, um mich herum alles still. Ich atmete tief durch, versuchte mich zu sammeln und schaffte es dann im zweiten Anlauf bis ins Lazarett. Dort erfuhr ich, was passiert war: Bei einem Feuergefecht in Kunduz hatte eine Granate die Panzerung eines Fahrzeugs durchschlagen. Zwei deutsche Soldaten wurden dabei verwundet, ein weiterer starb. Sein Name: Sergej Motz. Er ist seit 1945 der erste deutsche Soldat, der in einem Feuergefecht starb.

«Die Aussicht, Männerarbeit leisten zu können und nicht mehr anzuecken, beflügelte mich.» Stefan Werdelis

Ich wuchs in einer Arbeiterfamilie in Neustadt an der Weinstrasse auf, eine Autostunde von Karlsruhe entfernt. Mein Vater war griechischer Gastarbeiter, meine Mutter ungelernte Hilfskraft. Mit der Kirche kam ich als Jugendlicher in Kontakt. In der Gemeinde war ich Teil einer eingeschworenen Gruppe von Jungs. Es war wie ein Pfadfinderlager. Manchmal durften wir sogar beim Pfarrer, einem Lutheraner, einen Film schauen, eine Zigarre rauchen und Alkohol trinken.

Heute wäre das undenkbar. Bis zum Abitur ging das so. Für mich als junger Mensch war diese Gemeinschaft unglaublich wichtig. Mit anderen Jungs zusammen zu sein, das war toll. Es war auch der Grund, weshalb ich mich nach Schulabschluss für Theologie entschied. Dass der Pfarrberuf als krisensicher galt, hatte bei meiner Entscheidung natürlich auch Gewicht. Nach dem Studium durchlebte ich in meinen ersten Pfarrstellen immer wieder schwierige Zeiten; so ging meine erste Ehe in die Brüche. Zudem hatte ich Probleme mit meinen Eltern. Meine Mutter und mein Vater schauten mich wegen meines intellektuellen Berufs schräg an. Das Akademische galt als abgehoben.

In den bürgerlichen Pfarrerkreisen geschah ähnliches. Nur rümpften hier die Kollegen ihre Nase wegen meiner einfachen Herkunft. Als ich mich bei der Bundeswehr bewarb und aufgenommen wurde, war wohl längst nicht nur ich froh, dort gelandet zu sein. Die Aussicht, Männerarbeit leisten zu können und nicht mehr anzuecken, beflügelte mich. Endlich durfte ich wieder zurück ins Pfadfinderlager.

In Zweibrücken bei Stuttgart war ich zunächst einer Luftlandeeinheit zugeordnet. Wenn Militärseelsorger frisch anfangen, müssen sie einem erfahrenen Pfarrer einige Monate über die Schulter schauen. Dackelphase heisst das. In diese Zeit fiel auch 9/11. Es war ein Dienstag, und ich besprach mich gerade mit meinem dienstälteren Kollegen. Ein alter Pfarrershaudegen mit viel Erfahrung in Auslandeinsätzen. Dann ging mein Handy. Mein Sohn war dran: «Papa, in New York fliegen Flugzeuge ins World Trade Center.»

Noch während des Gesprächs begannen die Sirenen der Kaserne zu heulen, und es wurde die Alarmstufe eins ausgerufen. Die Bundeswehr galt als mögliches Anschlagsziel, alles wurde abgeriegelt. Im Offizierscasino lief der Fernseher. Die Soldaten sassen drum herum und sprachen wenig. Mein Mentor neben mir murmelte mir zu: «Jetzt geht es nach Afghanistan.» Wochen später verkündete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die uneingeschränkte Solidarität mit den Amerikanern. Bereits im Januar 2002 wurden die ersten deutschen Soldaten dorthin verlegt. Sieben Jahre gingen noch ins Land, bis ich nach Afghanistan versetzt wurde. In dieser Zeit unterrichtete ich Soldaten in Ethik und interkultureller Kompetenz.

«Mir entging nicht, dass mich die Soldaten in den Kursen sehr genau beobachteten und wohl auch wussten, dass ich selbst noch nie dort gewesen war.» Stefan Werdelis

Wer nach Afghanistan versetzt wurde, der kam an meinen Kursen nicht vorbei. In denen war ich der Weltanschauungskämpfer für Demokratie, der Zuständige für Gewissensschärfung und der Brückenbauer zur Zivilgesellschaft. Mir entging nicht, dass mich die Soldaten in den Kursen sehr genau beobachteten und wohl auch wussten, dass ich selbst noch nie dort gewesen war. Mit Verweis auf mein Glaubwürdigkeitsproblem drängte ich bei den Vorgesetzten noch mehr darauf, mich doch endlich nach Afghanistan zu versetzen.

Nachdem dort erste deutsche Soldaten gestorben waren, machte sich in meinem privaten Umfeld, aber auch in den öffentlichen Debatten ein Stimmungswandel bemerkbar. Plötzlich war Argwohn spürbar, und ich fühlte mich in der Pflicht, die Bundeswehr und ihren Einsatz in Afghanistan zu rechtfertigen. Was ich nie ganz verstanden habe: Genau diese, die nun Deutschland kritisierten, haben jene Parteien gewählt, die den Einsatz verantworteten. Die Menschen entkoppeln ihre eigene Wahlentscheidung von dem, was sie wahrnehmen und kritisieren.

Misstrauen schlug mir aber auch von Kolleginnen und Kollegen aus der Kirche entgegen. Dort sehen viele die Arbeit als Militärseelsorger kritisch. Im Ersten Weltkrieg stand auf den Koppelschnallen deutscher Soldaten «Gott mit uns», zugleich segneten Pfarrer in grossen Feldgottesdiensten Kanonen, mit denen dann andere Christen zerfetzt wurden. So etwas macht ein Militärseelsorger heute natürlich nicht mehr. Und doch haben meine Kollegen einen Punkt, wenn sie sagen, dass ich mit meiner Arbeit die Armee nach innen stabilisiere und so die Moral aufrechterhalte – wie das die Seelsorger im Ersten Weltkrieg eben taten. Auf der anderen Seite stosse ich hier auch ethische Diskussionen an und kann damit bestenfalls dazu beitragen, dass ein Soldat in einer Notsituation sich für das Gute entscheidet.

Anfang März 2009 war es dann endlich so weit: Ich sass in einer Transall-Maschine Richtung Afghanistan, Bein an Bein mit deutschen Soldaten. Als sich nach Ankunft die Laderampe öffnete, schlug mir die trockene Wüstenluft ins Gesicht. Draussen überall Sand und Steine. Meine Zivilkleidung hatte ich gegen einen Schutzanzug getauscht. Bis auf meine Schulterklappen, auf die ein schwarzes Kreuz eingestickt war, sah ich aus wie ein Soldat. Dabei war ich als Pfarrer hier, ausgeliehen von meiner deutschen Landeskirche.

Mein Leben in Afghanistan war zweigeteilt. Es gab das aus­serhalb der Schutzmauern und das drinnen. Dort lebten Tau­sende von Männern und ein paar wenige Frauen zusammen in einer Art westlichen Kleinstadt, 280 Fussballfelder gross. Ich erinnere mich gut daran, wie ich nach Ankunft im Lager von einfachen Soldaten zuerst einmal kritisch beäugt wurde. Jedes unbekannte Gesicht auf dem Gelände wird als Eindringling geortet, der sich sein Vertrauen verdienen muss. Und auch bei den hohen Offizieren musste ich mir erst einmal Respekt verschaffen. Meiner Arbeit begegneten sie mit Desinteresse. Sie sehen den Militärseelsorger eher wie einen Feuerlöscher in der Schweiz: Muss es in jedem Haus geben, wird aber erst im Falles eines Brandes benutzt. Das heisst übersetzt: Erst wenn es Tote gibt.

Stefan Werdelis in Gerzensee, 2021.

In der Kapelle veranstaltete ich abwechselnd mit meinem katholischen Kollegen am Sonntag einen Gottesdienst. Die meisten Soldaten kamen natürlich nicht. Um dennoch mit ihnen ins Gespräch zu kommen, begann ich im Kühlschrank einen Biervorrat einzurichten und schaffte eine teure Kaffeemaschine an. Auch rauchte ich mehr. Mein Plan ging auf: Die Soldaten kamen unverbindlich auf ein Bier, einen Kaffee oder eine schnelle Zigarette am Kapellenzelt vorbei – und landeten rasch bei den Fragen, die sie umtrieben. Dabei wurde mir klar: Der Auslöser von Krisen waren längst nicht nur Bomben und Geschosse, die selten vorkamen.

Die eigentlichen Krisen im Lager breiteten sich ohne Ankündigung aus. Das Heimweh. Der Konkurrenzdruck. Die Untreue des Partners in der fernen Heimat. Der plötzliche Tod eines Verwandten. Eine Erkrankung, die eine frühzeitige Rückkehr nötig macht. Kinder daheim, die Drogen nehmen und in der Schule nicht mehr nachkommen. Der Schmerz von Männern und Frauen, weil ihre kleinen Töchter und Söhne daheim sagen, sie seien von ihnen im Stich gelassen worden und fühlten sich nicht mehr geliebt. Die Angst, draussen auf Patrouille zu sterben. Die Qual des Wartens und die Frage, ob überhaupt noch etwas passieren würde. Für all das war ich als Mann der Kirche da. Ich hörte immer wieder, dass man untereinander nicht so offen über die Probleme reden konnte und rasch als Weichei galt.

Das Afghanistan draussen lernte ich nur durch eine Panzerglasscheibe und in einem Konvoi aus Fahrzeugen kennen. Einmal fuhr ich durch Kabul und sah Menschen in bodenlangen Gewändern und kaputten Sandalen. Sie hockten auf den Fersen und betrieben kleine Geschäfte in aufgesägten Containern, die am Wegesrand standen. Im Hintergrund konnte ich Autobahn­brücken sehen, an denen gigantische Billboards standen, darauf Werbung der grossen Tech-Konzerne wie Apple, Sony und Nokia. Selten lernte ich Afghanen kennen. Und wenn, dann waren es sogenannte Landeskundler, die mit uns zusammenarbeiteten. Die studierten Männer beherrschten mehrere Sprachen und übersetzten nicht nur, sondern führten unsere Konvois auch auf jene Wege, die nur von Einheimischen befahren wurden. Die Gefahr von Anschlägen war da geringer.

Draussen Wüste, drinnen deutscher Pfarrhausstil: Stefan Werdelis bei einem Gottesdienst mit US-Soldaten.

All diese Menschen sind nun unmittelbar von den Taliban bedroht, einige sollen in den vergangenen Tagen erschossen worden sein. Die Männer wissen, sie müssen sich nun verstecken oder irgendwie aus dem Land fliehen. Es sind die, die man nun versucht hat, aus Kabul auszufliegen. Gelingt ihnen das nicht, dann sind sie von dem Wohlwollen der Taliban abhängig. Bis auf einige bereits bekannt gewordene Verbrechen verhalten jene sich noch ruhig. Sie wollen den Westen nicht vergraulen, denn der hat das Geld der Hilfsprogramme eingefroren, auf das das wirtschaftlich ruinierte Land angewiesen ist. Doch wenn sie merken, dass der Westen sich nicht bewegt, könnte es auch eng werden für die Ortskräfte. Ja, wir haben sie im Stich gelassen.

Als Sergej Motz am 29. April 2009 bei einem Gefecht starb, war er 21 Jahre alt. Ein Junge aus Ostdeutschland, seine Eltern russische Spätaussiedler. Der Vater von Sergej war vor dreissig Jahren als sowjetischer Soldat ebenfalls in Afghanistan stationiert. Es ist ein merkwürdiger Kreis, der sich in dieser Familie schliesst. In der deutschen Medienöffentlichkeit war nach dem Feuergefecht zum ersten Mal von Gefallenen die Rede, von Veteranen, von Krieg. Es war ein Wendepunkt. Die Deutschen hatten begriffen, dass die Bundeswehr nicht nur Brunnen bohrte und Soldaten der afghanischen Armee ausbildete, sondern ihre eigenen Soldaten auch kämpften und starben.

Nach Sergejs Tod breitete sich im Lager eine merkwürdige Stimmung aus, Wut- und Rachegefühle machten sich breit. Ich hörte, wie Soldaten sagten: «Die haben einen von uns getötet, die machen wir platt!» Das war eine heikle Phase. Auf diese gefährlichen Sätze durften keine Taten folgen. Die Terroristen hätten sonst ihr Ziel erreicht, und es gäbe noch mehr Leid im Land, was weitere Talibankämpfer produzieren würde. Als Militärseelsorger war das eine Extremsituation: Ich musste den Trauerappell und die Überführung des Leichnams nach Deutschland vorbereiten und zugleich mit den Soldaten im Gespräch bleiben, damit sie ein Ventil für ihre Gefühle finden konnten.

2009 lebten in Masar-i-Scharif 7000 westliche Soldaten, darunter 3000 aus Deutschland.

Der Trauerappell für Sergej Motz fand auf dem Platz vor einem Findling statt. In den Stein war ein Bibelvers eingemeis­selt: «In deine Hände befehle ich meinen Geist.» Rundherum hatten sich deutsche Soldaten aufgereiht. Sergejs Leichnam lag in einem Sarg, der in die Fahne der Bundesrepublik gehüllt war. Ich liess den Song «Brothers in Arms» von den Dire Straits spielen. Diese Szene werde ich zeitlebens nicht vergessen: die jaulende Gitarre, das Gebirge des Hindukusch in Sicht und die starren Gesichter der Soldaten. Dann las ich den Liedtext auf Deutsch vor.

Diese nebelverhangenen Berge
Sind jetzt mein Zuhause
Aber meine Heimat war das Flachland
Und wird es immer sein
Bald werdet ihr zurückkehren
Zu euren Tälern und Höfen
Und ihr werdet nicht mehr brennen
Waffenbrüder zu sein

Im Anschluss wurde der Sarg mit Sergej Motz in ein Flugzeug verladen. Ich folgte ihm, und wenig später wurden wir zu zweit aus dem Land geflogen. In Usbekistan übergab ich Sergejs Leichnam der nächsten Flugzeugbesatzung, die ihn in seine Heimat überführte. Für mich ging es wieder zurück ins Lager Masar-i-Scharif.

In Afghanistan hat jeder Soldat irgendetwas geopfert. Manche ihre Ehe, andere ein Stück Haut und einige ihr Leben. In meinen fünf Monaten in Afghanistan sind zehn Soldaten gestorben. Unter ihnen auch Norweger, Amerikaner und ein Türke.

Immer wieder ist zu hören, wie sinnlos dieser zwanzigjährige Einsatz doch nur gewesen sei. Für die Soldaten und ihre Angehörigen müssen sich solche Sätze wie ein Schlag in den Nacken anfühlen. War es sinnlos, dass eine gesamte Generation junger Menschen, vor allem junger Frauen, Bildung erfahren hat ? War es sinnlos, dass sich heute in Kabul Frauen trauen, auf die Strasse zu gehen, um vor den Augen der Taliban zu demonstrieren? Das wäre früher undenkbar gewesen. Die Erinnerung an ein freieres Leben lässt sich in den Köpfen der Afghaninnen und Afghanen von niemandem auslöschen, auch nicht von den Taliban.

Wir haben Frauen, Homosexuellen und allen, die sich in Afghanistan nach einer Zukunft sehnten, gesagt: «Denkt und sagt, was ihr wollt! Die freiheitlichen Werte sind eure Zukunft!» Heute wissen wir: Es war ein leeres Versprechen. Mit dem Abzug der Truppen wurden etliche Menschen im Stich gelassen.

Viele sagen, der Einsatz habe zu lange gedauert. Vielleicht war er aber auch zu kurz. Vielleicht hätte es zwei Generationen gebraucht, damit sich eine noch stärkere Zivilgesellschaft bildet. Das wäre auch mit einer geringen Truppenstärke zu meistern gewesen. Das kostet Geld. Aber für das, was einen Wert hat, muss die Gesellschaft auch bereit sein, etwas zu bezahlen.

Ja, der Einsatz in Afghanistan mag gescheitert sein. Mit Sicherheit aber war er nicht sinnlos.