Philipp Kutter, Andreas Cabalzar, wir treffen uns am Zürcher Hauptbahnhof. Wie reist es sich im Rollstuhl mit den öffentlichen Verkehrsmitteln?
Kutter: Grundsätzlich ist das eine gute Art von Mobilität. Sie ist aber mit Unsicherheiten und Überraschungen verbunden. Man kann heute immer noch nicht davon ausgehen, dass man mit dem Rollstuhl in den Zug hineinkommt. Das ist auch ein grosses politisches Thema. Bis zu diesem Jahr hätte der ganze öffentliche Verkehr barrierefrei sein müssen. Doch auch nach zwanzig Jahren sind die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes noch nicht erfüllt. Die Umsetzung will ich als Politiker vorantreiben. Zufälligerweise bin ich auch Präsident der Verkehrskommission des Nationalrats.
Das trifft sich gut.
Kutter: Ja. Das Versäumnis ist ein Skandal.
Cabalzar: Ich teile diese Meinung sehr. Ich bin häufig mit dem öV unterwegs. Wenn an einem Bahnhof ein Lift nicht funktioniert, weiss man das im Voraus nicht. Dann sitzt man ohnmächtig da und kommt nicht weiter. Das ist demütigend.
Kutter: Das ist mir auch schon einmal passiert. Ausgerechnet als ich nach Bern hätte fahren sollen, an eine Sitzung der Verkehrskommission. Traktandiert war: «Austausch mit der SBB-Spitze zur Erfüllung ihrer Jahresziele». Ich stehe also am Bahnhof Wädenswil in der Unterführung und müsste aufs Perron hoch. Aber der Lift ist defekt. Es ist der einzige, eine Rampe gibt es noch nicht. Ich rufe einen Kommissionskollegen an und sage: «Du musst die Sitzung leiten, ich komme hier nicht weg. Sag bitte Herrn Ducrot – das ist der SBB-Direktor – einen Gruss: Sein Lift funktioniere nicht» (lacht). Ich meinte es als Scherz, aber der Kollege hat den Gruss dann tatsächlich ausgerichtet. Den SBB war der Vorfall natürlich unangenehm.
Philipp Kutter, 49, ist Stadtpräsident von Wädenswil ZH und Nationalrat (Die Mitte). Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Zusammen mit seiner Frau führt er eine PR-Agentur. Im Februar 2023 verunfallte er auf der Skipiste und brach sich zwei Halswirbel. Seither ist er Tetraplegiker.
Andreas Cabalzar, 62, war 30 Jahre lang evangelisch-reformierter Pfarrer in Erlenbach am Zürichsee. Seit 2023 betreibt er zusammen mit seiner Partnerin das Kulturhaus am Meisenrain in Gockhausen. Im Dezember 2018 stürzte er beim Skifahren und erlitt schwere Rückenverletzungen. Sie machten ihn zum Paraplegiker.
Wie wichtig ist es für Sie, selbständig reisen zu können?
Kutter: Alles, was man selber machen kann, ist ein riesiger Aufsteller. Dafür braucht es gar nicht viel. Funktioniert der Lift am Bahnhof, ist alles gut und man fühlt sich gross und stark. Funktioniert er aber nicht, sitzt man da, kommt nicht vom Fleck. Als wäre man wieder ein kleines Kind.
Cabalzar: Wenn ich nicht mobil bin, verliere ich meine Autonomie komplett und ich kann nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Meine Partnerin und ich gehen oft in die Zürcher Tonhalle. Wie komme ich dorthin? Ich kann Auto fahren, das ist ein grosser Schritt in die Freiheit. Morgen zum Beispiel habe ich eine Abdankung in Erlenbach. Wäre ich nicht mobil, könnte ich diesen Dienst nicht erweisen.
Sie sind beide nach Ihrem Unfall schnell zurückgekehrt in den Beruf. Bei Ihnen, Herr Cabalzar, ist ein Jahr vergangen, bis Sie wieder den ersten Gottesdienst hielten. Sie, Herr Kutter, sind nach dem Unfall im Februar 2023 schon im August wieder zu einer Sitzung im Wädenswiler Stadtrat zugeschaltet worden und haben kurz darauf an der Sommersession in Bern teilgenommen. War das wichtig für Sie?
Kutter: Das waren nur erste Schritte. Erst am 1. April dieses Jahres habe ich wieder alle meine Aufgaben als Stadtpräsident übernommen. Auch als Nationalrat war ich zuerst nur einzelne Tage in Bern, dann eine Woche lang und so weiter. Für mich war das eine sehr schöne Erfahrung. Erstens habe ich mich nützlich gefühlt und zweitens ging es endlich einmal nicht mehr um meine Verletzung, sondern um Politik. Es kostet Kraft, aber es gibt einem auch Kraft.
«Auch meine Frau musste sich von ihrem alten Leben verabschieden.» Philipp Kutter
Cabalzar: Mein Unfall ist fünf Jahre her. In der ersten Zeit danach war ich euphorisiert. Ich spürte einen Energieschub und konzentrierte mich total auf die Zukunft – ohne die Realität in ihrer ganzen Schärfe wahrzunehmen. Ich hatte mir fest vorgenommen, achtzig Prozent zu arbeiten, und wollte auch wieder Handball spielen. Doch es gibt keinen Rollstuhl-Handball in der Schweiz und so fing ich noch in Nottwil an, eine Rollstuhlliga aufzubauen. Obwohl das völlig an meiner Realität vorbeiging, ich lag damals flach im Bett. Kommt hinzu, dass Handball für Rollstuhlfahrer das Dümmste ist, weil dieser Sport die Schultern zu sehr belastet. Dabei brauchen wir sie, um selbständig zu sein.
Kutter: Es gibt Rollstuhl-Rugby.
Cabalzar: (lacht) Ja, es gibt Rugby. Aber mich holte nach der anfänglichen Euphorie eine ganz andere Realität ein: Ich musste mit meinem Körper einen Umgang finden. Ich musste anerkennen, dass ich verletzt bin, und musste lernen, meine neuen Limiten zu akzeptieren. Wir reden da auch von Sexualität und vom Innersten meiner Existenz, die sich von einem Tag auf den anderen verändert hat. Auch die Familie und vor allem meine Partnerin sind betroffen. Ihre Welt ist enger geworden durch das, was ich erfahren und erlebt habe. Das zu erkennen, zu akzeptieren und dann einen Umgang damit zu finden, ist die Herausforderung.
Kutter: Ich erkenne mich darin total wieder. Von aussen betrachtet sitzen wir einfach im Rollstuhl. Aber das ist nicht das einzige Problem, uns limitiert viel mehr. Bei mir gab es am Anfang zwar keine Euphorie, aber natürlich bist du voller Zuversicht und Hoffnung. Viele Menschen erzählen dir von jemandem, der wieder laufen kann. Auch die Ärzte können und wollen dir nicht sagen, was du für eine Prognose hast. Dann hoffst du eben auf den besten Fall. Aber dieser beste Fall tritt nicht einfach von selber ein. Oder nicht so häufig.
Cabalzar: Und vor allem nicht bei dir und mir.
Kutter: Ja, genau. Irgendwann realisierst du das. Dann muss man an sich selbst arbeiten. Dazu gehört viel Trauerarbeit, das Abschiednehmen von einem Leben, das man gehabt hat. Ich habe wie du Handball gespielt, war gerne in den Bergen. Wie du gesagt hast: Das Abschiednehmen betrifft einen nicht nur persönlich. Auch meine Frau musste sich von ihrem alten Leben verabschieden. Wir beide haben einen Unfall gehabt und wir schicken uns darein. Mich hat sehr beeindruckt, als meine Frau sagte: «Jetzt ist es so, jetzt gehen wir zusammen diesen Weg.» Sie hat sich das Leben bestimmt anders vorgestellt. Ich mir natürlich auch, aber ich kann es nicht ändern. Sie hingegen könnte es schon.
Cabalzar: Meine Partnerin hat mich im Rollstuhl kennengelernt. Sie hat Dinge mit mir erlebt … Dass sie mich begleitet, mit mir lebt, ist einfach Liebe. Das ist ein Geschenk.
Sie haben die Trauerarbeit angesprochen. Spielt bei Ihnen Spiritualität im Umgang mit Ihrem Schicksal eine Rolle?
Kutter: Da lasse ich dem Fachmann den Vortritt (lacht).
Cabalzar: Ich hatte den Unfall, man hat mich operiert und in der ersten Nacht danach dachte ich: «Gut, und was jetzt?» Mir kam die Geschichte von Lot in den Sinn. Das ist in Genesis, das 19. Kapitel, Vers 17. Dort heisst es zusammengefasst: «Es kommen Boten zu Lot und künden eine Katastrophe an.» Lot nimmt sie nicht ernst. Die Boten aber sagen ihm: «Rette dich selber.» Sie sagen nicht: «Gott rettet dich.» Das ist der erste Punkt, der zweite Punkt ist: «Schau nicht zurück.» Der dritte: «Bleib in Bewegung.» Und der vierte: «Gehe an einen sicheren Ort.» Diese Punkte habe ich mir zum Motto für mein jetziges Leben gemacht.
Können Sie das genauer beschreiben?
Cabalzar: Ich habe bei meinem Unfall zwei lebensbedrohliche Situationen überlebt. Zuerst fuhr ich mit den Skiern auf eine Mauer zu. Wäre ich hineingeprallt, wäre ich tot gewesen. Ich kam an der Mauer vorbei, wurde dann aber in die Luft geschleudert. Aus sieben Metern Höhe fiel ich auf den Rücken. Ich wurde also zweimal bewahrt. Ich hatte immer das Gefühl, ich sei wie in einer Hand geborgen. Nachher aber lautet der Auftrag: Rette dich selber. Mach dich auf den Weg und schau nicht zurück. Das passt so gut und ist so gescheit. Ich hatte ein aktives, farbiges, schönes und pralles Leben vor dem Unfall. Wenn ich nun nur sehe, was ich alles verloren habe, mache ich mich damit selber fertig. Nicht zurückblicken, sondern schauen, welche Optionen vor mir liegen, ist wichtig. Im Kopf muss ich in Bewegung bleiben, mich immer wieder neu erfinden und mich an meinen Fähigkeiten orientieren.
Haben Sie, Herr Kutter, auch so etwas wie eine Bibelstelle, an der Sie sich aufrichten können?
Kutter: Ich bin leider nicht so bewandert in diesen Geschichten. Ich würde mich als gläubigen Menschen bezeichnen. Doch der Unfall hat mich etwas ins Zweifeln gebracht. Ich habe den göttlichen Auftrag noch nicht durchschaut, der mir mit diesem Unfall erteilt worden ist. Wenn ich ein Stossgebet nach oben schicke, ertappe ich mich beim Gedanken, ob es überhaupt ankommt. Diese Frage stelle ich mir heute öfter als früher. Das Vertrauen, das ich hatte, ist etwas erschüttert. Aber ich muss nach vorne schauen, um meine Arbeit als Partner und Vater auf gute Art weiterführen zu können.
Cabalzar: Philipp, wenn ein solcher Unfall Gottes Wille ist, dann will ich mit so einem Gott nichts zu tun haben. Das ist weder eine Strafe noch sonst irgendwas. Ich habe nicht das Gefühl, dass mir aus meiner Verletzung ein besonderer Auftrag erwächst. Sondern dass ich nun einfach dieses Leben habe und es neu gestalten kann. Es klingt paradox, aber mir geht es heute besser als vorher. Ich bin versöhnter mit mir, gestalte mein Leben positiv und bewahre den Blick nach vorne. Das ist das Resultat eines posttraumatischen Wachstums und natürlich hat es auch sehr viel damit zu tun, dass ich in so vielen Bereichen existenziell auf mich selbst zurückgeworfen und von lieben Menschen umgeben bin.

Kürzlich sagte mir ein Freund: «Weisst du, wenn deine Tochter von dir erzählt, erwähnt sie den Rollstuhl gar nicht»: Philipp Kutter.
Gibt es konkrete Dinge, die Ihnen helfen?
Kutter: Mir hilft die Arbeit.
Cabalzar: Weil du dank ihr wirksam bist.
Kutter: Was mir auch Kraft gibt, sind Spaziergänge und Ausflüge mit der Familie. Wir gingen früher viel wandern. Ich liebte es. Meine jüngere Tochter fragte mich nach dem Unfall einmal: «Papi, ist das nicht blöd, dass du jetzt nicht mehr wandern kannst?» Da hatte sie recht. Das tut mir auch weh, denn ich hatte noch viel vor. Ich hätte mit meinen Kindern zum Beispiel gerne in einigen weiteren Berghütten übernachtet. Die gleichen Wanderungen wie früher können wir nicht mehr machen, aber man muss loslassen und Neues entdecken. Ich habe gehört, es gibt Berge mit rollstuhlgängigen Wegen.
Cabalzar: Für mich sind Kunst und Literatur wichtig. Ich lese viel und schreibe. Im Herbst erscheint ein Buch mit Weihnachtsgeschichten. Ich gehe gern in Konzerte, in Galerien, ins Kunsthaus. In unserem Kulturhaus in Gockhausen organisieren meine Partnerin und ich jeden Monat eine Veranstaltung. Der letzte Abend stand im Zeichen von Gedichten von Hilde Domin und Musik des Klarinettisten Dimitri Ashkenazy. Nach einem solchen Zusammenspiel von Lyrik und Musik bin ich einen Monat lang vitalisiert.
Kutter: Bis zum nächsten Anlass.
Cabalzar: Ja, das ist so. Ich mache jetzt das, was ich will. Im Pfarramt arbeitete ich zuletzt noch vierzig Prozent. Da hockte ich vor allem in Sitzungen. Die Seelsorge und das Kreative hatte keinen Raum mehr. Die jetzige Kulturarbeit hingegen ist einfach ein Genuss.
Wie finden Sie sich neu in der Rolle als Vater wieder?
Cabalzar: Ich habe drei erwachsene Töchter und zwei Enkelkinder. Die ganze Familie lebt seit dem Unfall eine grössere Achtsamkeit. Sie ist ein Geschenk für mich und gibt mir viel. Nicht Sinn – den muss ich selbst finden –, aber Kraft und Vitalität.
Kutter: Das geht mir auch so. Meine Kinder sind kleiner als deine, sie sind in der Primarschule. Sie sind wahnsinnig pragmatisch und unterstützend. Viel pragmatischer als Erwachsene. Es war für sie meistens kein Problem, dass ich im Rollstuhl bin und nicht mehr gehen kann. Ihnen machte in den Monaten nach dem Unfall zu schaffen, dass ich nicht daheim war. Nach meinem ersten Aufenthalt in Nottwil freuten sie sich mega, als ich wieder nach Hause kam. Das gibt mir Kraft, wie du es so schön gesagt hast, Andreas. Sie gehen ganz natürlich mit der Situation um. Das hilft mir. Kürzlich sagte mir ein Freund: «Weisst du, wenn deine Tochter von dir erzählt, erwähnt sie den Rollstuhl gar nicht.» Wichtig ist für sie, dass ich da bin.
Cabalzar: Das ist schön. Deine Präsenz ist für sie das Geschenk.
Kutter: Ja, genau.
Sie haben beide erwähnt, wie wichtig es ist, am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Wie gut ist es um die Inklusion bestellt?
Kutter: Da gibt es noch viel zu tun. Viele Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen könnten noch besser in den Beruf zurückgeführt werden. Will man jemandem helfen, seinem Leben wieder einen Inhalt zu geben, ist die berufliche Tätigkeit ein guter Weg. Diese Menschen sollten ihre Talente einbringen können. Es ist nicht dasselbe, ob man in seinem Beruf tätig sein kann oder nur beschäftigt wird.
Cabalzar: Du und ich haben das Glück, dass wir hauptsächlich Kopfarbeit machen. Unsere Köpfe sind gesund, wir können in unseren Berufen weiterarbeiten. Du hast sicher in Nottwil Leute kennengelernt, die sich beruflich komplett neu orientieren müssen. In der reformierten Tradition hat der Beruf auch mit Berufung zu tun – mit Selbstwirksamkeit und Selbstentfaltung.
«Als Erstes stellt sich nach dem Unfall die Frage: Wer bin ich jetzt? Eine Antwort zu finden ist anstrengend.» Andreas Cabalzar
Wie weit ist die Kirche in Sachen Inklusion?
Cabalzar: Die meisten Kirchen sind zugänglich: Viele alte Leute besuchen sie, deshalb müssen die Gebäude rollstuhlgängig sein. In Erlenbach überlegte man sich, für mich einen Lift in den Chorraum einzubauen. Aber das wollte ich nicht: Das Gebäude sollte nicht gekennzeichnet werden durch meinen Unfall. Der Sigrist hat mich vor und nach dem Gottesdienst über eine Rampe hochgerollt. Das wurde für mich zu einem schönen Ritual.
Nach Ihrem Unfall, Herr Kutter, gab es einen grossen Medienrummel. Wie haben Sie ihn erlebt?
Kutter: Ich konnte mich dem medialen Interesse nicht gut entziehen. Als Politiker bin ich öffentlich bekannt. Die Menschen in Wädenswil wollten natürlich wissen, ob ich Stadtpräsident bleibe oder zurücktrete. Dasselbe galt für meinen Sitz im Nationalrat. Ich habe die öffentliche Aufmerksamkeit nicht gesucht. Es ging in den Beiträgen darum, mein Schicksal zu beleuchten: Da ist einer vital und rennt durchs Leben – Sekunden später liegt er am Boden und kann sich fast nicht mehr bewegen. Was macht er jetzt, wie geht er damit um? Kann er überhaupt noch sprechen? Solche Fragen geisterten da draussen herum. In meiner Situation fand ich es sinnvoll, Auskunft zu geben.
Cabalzar: Bei mir war es dasselbe, aber in viel kleinerem Massstab. Die Leute fragten sich: Kommt er zurück in die Gemeinde, wie funktioniert das?
Kutter: Du bist auch eine öffentliche Person.
Cabalzar: Ja, aber in kleinerem Rahmen.
Herr Kutter, haben sich Ihre politischen Themen und Stossrichtungen verändert?
Kutter: Mit der Behindertenpolitik ist ein neues Thema dazugekommen, das ich vorher nicht im Fokus hatte. Aber ich werde mich weiterhin auch für Familienpolitik engagieren und für Verkehrs- und Wirtschaftspolitik. Ich will mich nicht nur auf ein einziges Thema konzentrieren, das entspricht mir nicht. Wir sind jetzt schon drei, die im Parlament im Rollstuhl sitzen. Wir wollen etwas lancieren (lächelt).

«Ich frage mich, wann man wirklich im Rollstuhl ankommt»: Andreas Cabalzar.
Was haben Sie über sich selbst gelernt in den vergangenen Monaten und Jahren?
Cabalzar: Als Erstes stellt sich nach dem Unfall die Frage: Wer bin ich jetzt? Eine Antwort zu finden ist anstrengend. Im nächsten Schritt muss ich zur Selbstsorge kommen. Mein Körper hat vorher einfach funktioniert, er war ein Diener. Plötzlich gibt er mir vor, was geht und was nicht. Dieser Wechsel verlangt Selbstachtsamkeit. Das heisst konkret: Ich erlebe kaum einen Tag ohne Schmerzen. Sie können auf einen Infekt hindeuten oder dass ich psychisch nicht im Gleichgewicht bin – das kommt relativ häufig vor. Man spricht schnell von Akzeptanz, aber für mich steht der Prozess im Vordergrund, der von der Selbstwahrnehmung zur Selbstachtsamkeit führt: Er ist nicht abgeschlossen, sondern dauert noch an. Das führt letztlich zu einem Leben, von dem ich sagen würde: Es ist ein richtig gutes Leben.
Der Weg der Akzeptanz ist für Sie sicher auch ein schwieriger, Herr Kutter.
Kutter: Ja, sehr. Daran muss ich noch arbeiten, ich komme nicht daran vorbei. Man wird auf sich selbst zurückgeworfen und muss akzeptieren, dass nicht mehr alles so geht wie früher. Ich habe aber auch verstanden, dass der Mensch eine Kraft entwickeln kann, die er sich nicht vorstellen und die er erst im Fall der Fälle erschliessen kann. In meinem früheren Leben hatte ich jeweils das Gefühl, ich sei der ärmste Mensch, wenn ich mir den Knöchel verstaucht hatte – was beim Handballspielen oft vorkam – oder wenn ich nach einer Bergtour Muskelkater hatte. Ich fand furchtbar, was mir widerfahren war.
Cabalzar: Ganz ein Armer!
Kutter: Ein ganz Armer! Aber wenn man unter den kleinen Wehwehchen so leidet – was geschieht, wenn man eine grosse Verletzung hat? Zum Glück nimmt das Schmerzempfinden nicht linear zu. In Nottwil lernte ich viele Menschen kennen, die versuchen ihr neues Leben zu meistern. Sie sind zum Teil wesentlich jünger als wir zwei.
Cabalzar: Die meisten sind jünger.
Kutter: Der eine ist mit dem Gleitschirm abgestürzt, der andere beim Biken verunglückt, der dritte beim Skifahren und so weiter. Doch auch sie bauen sich etwas auf. Es beeindruckt mich, wie der Mensch mit einem Schicksalsschlag und einer neuen Situation umgehen kann.
Cabalzar: Für mich ist die Community der «Rollis» total wichtig. Jeweils am Montag und am Freitag treffe ich bei Krafttraining, Physiotherapie und Mobilisation zwei Kollegen aus Nottwil. Wir tauschen uns aus, geben Tipps, das tut gut. In Nottwil hangelte ich mich zusammen mit einer französischen Ärztin durch die Zeit. Sie hatte auch einen Skiunfall gehabt. Jeden Abend trafen wir uns in der Kapelle und brachten je ein Musikstück und einen Text mit. Wir haben uns das gegenseitig geschenkt. Wir sagten: «Il faut trouver chaque jour une fenêtre vers le ciel» – man muss jeden Tag ein Fenster zum Himmel finden. Der Himmel kann Literatur sein oder eine Begegnung.
Kutter: In Nottwil hat man seine Leute um sich herum. Man geht gemeinsam durch die Reha und freut sich an den Fortschritten der anderen.
Cabalzar: Genau.
Kutter: Die Solidarität ist sehr gross und manchmal gibt es abends eine Party.
Cabalzar: Unten am See.
Kutter: Unten am See, genau. Wer kann, geht Bier kaufen und bringt es mit.
Cabalzar: Ich treffe manchmal Menschen, die seit zehn oder zwanzig Jahren im Rollstuhl sitzen, und frage mich, wann man wirklich dort ankommt. Die einen sagen, es dauert fünf Jahre, bis man die neue Situation akzeptiert, andere sagen zehn. Ich habe häufig das Gefühl, ich sei schon angekommen. Aber ich merke auch: Der Prozess geht noch immer weiter. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. Ich hatte jeden Tag Schmerzen und jetzt gibt es ein neues Medikament, das mir diese nimmt. Das ist einfach …
Kutter: … eine andere Welt.
Cabalzar: Das ist eine neue Welt für mich.
Welche Folgen hat der Unfall für Ihren Körper?
Kutter: Ich bin vom fünften Halswirbel an gelähmt. Die Beine sind gelähmt und der Rumpf bis zu den Brustwarzen. Die Arme nur zum Teil, aktuell sind es noch die Finger. Das sieht man von aussen. Aber was man nicht sieht: Die inneren Organe sind auch gelähmt, zumindest teilweise. Das Herz funktioniert noch und die Lunge auch. Das Zwerchfell nicht mehr richtig gut. Blase und Darm arbeiten nicht mehr von selbst. Da braucht man Hilfe – beim Stuhlgang, beim Blase-Entleeren und so weiter.
Cabalzar: Die Probleme im Verdauungstrakt machen für mich einen grossen Teil der Behinderung aus. Sie tangieren mich in meinem Leben ganz anders als eine Schwelle, die ich nicht überwinden kann. Ich muss mich selbst katheterisieren und habe dadurch häufiger Infekte. Mit jedem Infekt gerät der Darm durcheinander. Das heisst, dass ich mindestens zwei Wochen lang nicht auf meinen Körper vertrauen kann. In so einem Fall hätte ich dieses Gespräch mit Ihnen absagen müssen.
Kutter: Ich bin auf Spitex angewiesen. Ich nehme an, du nicht?
Cabalzar: Nein, ich kann vieles selbst machen.
Kutter: Bei mir kommt die Spitex jeweils am Morgen. Die Unterstützung ist super. Aber es bedeutet: Jeden Tag kommt bereits früh am Morgen jemand Aussenstehender ins Haus und dann geht das ganze Programm los.
Cabalzar: Du wirst in deinem intimsten Bereich tangiert.
Kutter: Ja genau. Und will man verreisen, ist man eingeschränkt. Entweder hat es eine Spitex am Urlaubsort oder man nimmt eine mit. Das darf man nicht unterschätzen. Ich bin sicher noch nicht angekommen in meinem neuen Leben. Mir wurde auch gesagt, ich müsse mit zehn Jahren rechnen, bis man wirklich alles – bis man mit sich im Reinen ist (schweigt). Jetzt habe ich noch neun.
Cabalzar: Es müssen nicht so viele sein. Die Entwicklung hängt auch davon ab, wie sehr du mit dem Blick in den Rückspiegel durchs Leben fährst und wie sehr du dich mit der neuen Situation auseinandersetzt. Ausserdem passiert viel in der Forschung. Im Rollstuhl zu sitzen, das ist ein dynamischer Prozess.
Kutter: Aber findest du nicht auch, dass einem die Spontaneität abhanden kommt?
Cabalzar: (ironisch lächelnd) Ein bisschen.
Kutter: Ein bisschen.
Cabalzar: Manchmal denke ich: Gopfriedli, meine Partnerin ist immer gern gereist, doch mein Leben ist Planung, Planung, Planung. Der Fokus hat sich verschoben.
Kutter: Früher zog man sich an, steckte Handy und Kreditkarte ein, stieg spontan in einen Zug und fuhr irgendwohin. Wenn ich jetzt zur Session nach Bern gehe, muss ich mich im Hotel anmelden und das spezielle Zimmer verlangen. Dort brauche ich eine Spitex und muss mich bei jener in Wädenswil für die Dauer der Session abmelden. Im Parlament muss mir eine Assistenz zur Hand gehen.
Cabalzar: Hotels zu finden, die für Rollstuhlfahrer geeignet sind, ist schwierig. In der Community habe ich von einem spezialisierten Reiseanbieter erfahren, der in ganz Europa Hotels überprüft, inklusive Pflegesituation.
Kutter: Wie heisst der?
Cabalzar: Ich schicke dir den Link.
Kutter: Wir können dann gerne auch die Handynummern austauschen (blickt auf sein Mobiltelefon, das an seinem Rollstuhl befestigt ist). Oh, ich muss los, damit ich meinen Zug erwische.