Was zum Teufel machen wir hier eigentlich? Thea Siemes erinnert sich an das Gefühl, das diese Frage umhüllt. Es war einer der vielen schmerzhaften Abende, sie weiss gar nicht mehr genau, welcher. Mit ihrem Mann sass sie im Wohnzimmer auf der Couch, er hielt eine Spritze in der Hand, kniff mit der anderen in ihren unteren Bauch, hielt die Haut fest und pikste. Eine von vier Spritzen täglich. Über mehrere Wochen. Die Hormone schossen in ihren Körper.
Sie sollen bewirken, dass Siemes’ Eizellen reifen. Dann können sie in der Klinik entnommen werden für eine künstliche Befruchtung. Auf Siemes’ Bauch breitete sich durch die Spritzen ein faustgrosses Hämatom in Dunkellila aus. Der Stich fühlte sich an wie der einer Wespe. So erzählt sie es später.
An diesem Abend vor etwas mehr als einem Jahr sah sie sich plötzlich von aussen, verzweifelt und erschöpft und voller Schmerz. Wir wollen doch nur ein Kind, dachte sie. Andere Leute haben einfach Sex. Wie konnte es bei ihr so weit kommen?
Siemes ist 38 Jahre alt, eigentlich heisst sie anders. Ihren echten Namen möchte sie nicht veröffentlicht sehen, zu intim, was sie von sich erzählt. Wenn sie spricht, fliessen ihre Gedanken nicht nur in ihre Worte, sondern auch in ihre Gestik. Beim Wort «Schreiben» zum Beispiel zeichnet ihre Hand mit einem unsichtbaren Stift zackige Linien in die Luft. Wenn sie etwas Rundes beschreibt, formen ihre Hände eine Luftkugel.
Der Wunsch nach einem Kind sitzt so tief in Siemes, sie weiss gar nicht, wo sie nach seinen Wurzeln graben soll.
An einem Freitagmittag im Sommer sitzt sie in ihrer Küche, in einer Stadt in Ostdeutschland. Hinter ihr ein sonnengetränkter Balkon voll mit Blumentöpfen und bunten Blüten. Direkt vor sie, in die Mitte des kleinen Tisches zwischen zwei Kaffeetassen, setzt sich ihr alter Kater. «Der steht gerne im Mittelpunkt», sagt Siemes, entschuldigt seine unangemessene Platzwahl und hebt ihn hoch. Wiegt ihn kurz in den Armen. Sagt: «Irgendwie sind meine Tiere eine Art Kinderersatz für mich», und das wirke bestimmt irgendwie traurig, oder nicht? Unter dem Tisch legt ein müder Hund seine Schnauze auf die linke Pfote.
Frauen sprechen meistens über ihren schwierigen Weg zum eigenen Kind, wenn es am Ende doch geklappt hat. Es gibt kaum Stimmen von denen, die es erfolglos versuchen.
Das erste Baby, in das sie sich verliebt habe, sei ihre kleine Schwester gewesen, erzählt sie. Sie wurde geboren, als Siemes sechs war. Mit 19 ging Siemes als Au-pair nach London: Frühstück machen, Läuse aus den Haaren kämmen, Wutanfälle lindern. Während des Studiums verdiente sie ihr Geld als Babysitterin. Jahrelang passte sie auf zwei Kinder auf, irgendwann bekam die Familie ein drittes, Siemes betreute es von Geburt an. Siemes’ Mutter ist Lehrerin, ihre Schwester auch. Sie selbst hat Lehramt studiert, am Ende aber einen anderen Beruf gewählt. Sie wollte eines Tages genug Raum in ihrem Herzen und in ihrem Kopf für ihr eigenes Kind haben.
Frauen sprechen meistens über ihren schwierigen Weg zum eigenen Kind, wenn es am Ende doch geklappt hat. Es gibt kaum Stimmen von denen, die es erfolglos versuchen. Als hielte die Gesellschaft nur Erfolgsgeschichten aus. Als sei eine Geschichte es nicht wert, erzählt zu werden, wenn das Happy End fehlt. Dabei ist es doch wichtig, den Schmerz zu teilen, für die Scham und die Selbstzweifel Worte zu finden, sich über Gefühle und Gedanken auszutauschen – findet Siemes. All das ist immer noch Teil ihres Weges – hin zu einem erfüllten Leben ohne Kind.
Wenn eine Perspektive in der Gesellschaft kaum existiert, weil fast niemand öffentlich darüber spricht – wo finden diejenigen Hoffnung, die leiden?
Denn allein ist Siemes nicht damit. Das Bundesfamilienministerium schreibt in einem Bericht vom Juni letzten Jahres: «Ungewollte Kinderlosigkeit ist ein wachsendes gesellschaftliches Problem.» Zurzeit lebe fast jedes zehnte Paar zwischen 25 und 59 unfreiwillig ohne Kind. In der Schweiz befinden sich mindestens so viele Paare in derselben Situation: Genaue Zahlen gibt es keine, die Schätzungen reichen von 10 bis 20 Prozent aller Paare.
Die Verzweiflung könne so existenziell, so belastend sein wie der Tod einer geliebten Person oder wie eine schwere Krankheit – das schreiben einige Gynäkologinnen und Gynäkologen, die ungewollte Kinderlosigkeit auf ihren Websites thematisieren. Das Angebot für spezielle psychische Unterstützung scheint aber klein zu sein. Wohin können sich die Menschen dann wenden, wenn ihre Gefühle sie überrollen?
Ein positiver Test – und das Trauma danach
Siemes kann keine Kinder bekommen. Das ist kein endgültiger Fakt. Denn bis heute hat niemand den Grund dafür herausgefunden. Es ist eher die schmerzhafte Erkenntnis der letzten acht Jahre, in denen ihr Mann und sie es versucht haben.
Am Anfang war da eine grosse Leichtigkeit. Siemes war 30 und frisch verliebt in einen Mann, den sie in einer Kneipe kennengelernt hatte und dessen braune Augen sie nicht vergessen konnte. Beide wollten Kinder. Nach einem halben Jahr beschlossen sie, es zu versuchen.
Die Ernüchterung kam regelmässig, einmal im Monat mit der Periode. Zu dem Schmerz im Unterleib gesellte sich nach ein paar Monaten ein kleiner, neuer Schmerz, der nichts mit dem körperlichen zu tun hatte.
Schon wieder nicht.
Nach einem Jahr überwies Siemes’ Frauenärztin sie an eine Kinderwunsch-Klinik. Auf dem Überweisungsschein stand als Begründung: idiopathische Sterilität. Siemes hatte keine Ahnung, was das heissen sollte. Aber sie war sich sicher, dass ihre Frauenärztin einfach irgendetwas auf den Schein geschrieben hatte, damit sie in der Klinik schneller an einen Termin kam. Später lernte sie, dass idiopathisch «unerklärlich» bedeutet.
Siemes mag das Wort Kinderwunsch-Klinik nicht. «Das klingt so wischi-waschi», sagt sie. Steht dafür, dass die Gesellschaft überhaupt nicht ausreichend Vokabular zur Verfügung hat für Menschen, die keine Kinder bekommen können. Das eigentliche Problem bleibt diffus. Hier geht es doch um medizinische Diagnosen und Behandlungen. Dinge werden nicht beim Namen genannt, so kommt es ihr vor. Sie selbst sagt mittlerweile über sich, sie sei unfruchtbar. Das zu benennen hilft ihr.
Es gibt viele mögliche Ursachen dafür, dass eine Frau nicht schwanger wird. Bei Männern könnte eine Veränderung der Spermien dazu führen. Wenn das Problem im Frauenkörper liegt, kann es eine Störung des Zyklus oder eine Störung des Eisprungs sein, beides durch Hormonstörungen bedingt. Es kann an Infektionskrankheiten wie Chlamydien liegen, an der Ernährung oder am Körpergewicht. In 10 bis 20 Prozent bleibt die Ursache ungeklärt. Wie bei Siemes.
Als die Frauenärztin Siemes gerade an die Kinderwunsch-Klinik überwiesen hatte, blieb ihre Blutung plötzlich doch aus. Der Schwangerschaftstest zeigte zwei Striche. Voller Euphorie und Vorfreude ging sie nach neun Wochen zu ihrer ersten Ultraschalluntersuchung, ihr Mann kam mit. Sie dachte: Ich sehe da jetzt mein Kind auf dem Bildschirm. Die Ärztin hielt das Ultraschallgerät in der Hand und sagte irgendwann: Da ist nichts.
«Mein Körper hat es einfach nicht geschnallt», sagt Siemes heute.
«Missed abortion» nennt man das, wenn der Körper sich verhält, als sei er schwanger, die Zellen aber aufgehört haben, sich weiterzuentwickeln. «Mein Körper hat es einfach nicht geschnallt», sagt Siemes heute. Die Ärztin sei nicht sonderlich auf ihr Schluchzen eingegangen, erinnert sich Siemes.
Sie habe gemeint: «Trösten Sie sich, das passiert vielen Frauen.» Und Siemes dachte: Wenn man einen Autounfall hat, verletzt und geschockt ist, und dann kommt ein Ersthelfer und sagt: Machen Sie sich nichts draus, das passiert vielen – würde das irgendwen trösten?
«Nüchtern betrachtet war es nur ein Zellhaufen. Aber für mich war es mein erstes Kind», sagt Siemes. «Ich hatte so ein Gefühl, dass es ein Mädchen war.»
Die Zeit danach beschreibt sie als traumatisch, sie erinnert sich kaum an das Abschiedsritual, das sie und ihr Mann am See gemacht hatten – war es eine Kerze, die auf dem Wasser geschwommen ist, oder etwas anderes? Neulich erst habe Siemes’ Schwester ihr erzählt, dass sie damals zu ihr gefahren sei, um für sie da zu sein. Das hatte Siemes vergessen.
An eines aber erinnert sich Siemes noch genau. Sie hatte direkt nach dem Ultraschall verzweifelt ihre Hebamme angerufen – sie hatte sich frühzeitig um eine gekümmert, sie sind rar. Die Hebamme sagte: «Du darfst jetzt einfach nur trauern.»
Trauer – das Wort blieb hängen. Es gab ihren Gefühlen Raum, ohne dass sie etwas an ihnen ändern musste.
Selbsthilfe, Klinik, Weitermachen
Ihr Mann und sie wollten nicht aufgeben. Im Urlaub auf Korsika kauften sie einen kleinen Strampler in Blau mit einem Löwengesicht darauf. Aus einem anderen Urlaub in Portugal nahmen sie ein kleines Mützchen mit. Als Zeichen der Hoffnung.
Mit Freundinnen konnte Siemes kaum über ihre Erfahrungen reden. Sie wünschte sich, dass jemand ihr einfach nur zuhört. Ihren Schmerz sieht. Stattdessen bekam sie oberflächliche Ratschläge. «Du musst es nur genug wollen», «Das wird schon noch.» Eine ihrer Freundinnen hat relativ spät ein Kind bekommen. Sie sassen einmal beim Kaffee zusammen, die Freundin wiegte ihr Baby in den Armen und sagte: «Weisst du, die Seele des Kindes entscheidet, wann sie zu dir kommen will.» So erinnert sich Siemes. Sie sagt: «Der Satz fühlte sich beschissen an. Wie etwas, das sie zu sich selbst gesagt hat statt zu mir.»
Ständig zog sie Klappkarten mit Babyfotos aus dem Briefkasten; die Whatsapp-Profilbilder ihrer Freundinnen veränderten sich, die Bäuche wurden rund. Je länger es bei ihr nicht klappte, desto grösser wurde ihre Faszination für das angeblich Natürlichste der Welt.
Vier Jahre lang probierten sie es weiter.

In einer Holzkommode hat Thea Siemes Babykleider verstaut – ein Ausdruck ihrer Vorfreude. Sie brauchte sie nie.
Für Siemes war es ein wichtiger Schritt, ehrlich zu ihren Freundinnen zu sein. Vor allem zu denen, die Kinder haben. Ihnen zu sagen, was ihr hilft: Zuhören. Nachfragen. Negative Gefühle aushalten. Da sein, egal, was kommt. Und was nicht hilft: «Entspannt euch einfach», «An wem liegt’s denn?», «Dann soll es eben nicht so sein.»
Viele Freundinnen sind geblieben, einige nicht.
Trotzdem sehnte sich Siemes nach Menschen, die genau das fühlen, was sie fühlt. Sie suchte sich eine Selbsthilfegruppe. Die anderen Frauen sassen schon an einem Tisch in der Ecke eines Cafés, als sie hereinkam. Sie erinnert sich noch an ihren ersten Gedanken: Die sehen ja gar nicht traurig aus. In ihrem Kopf hatte sie sich ausgemalt, wie alle im Kreis sitzen und weinen.
Siemes war erleichtert, dass die anderen einfach nur nickten, ohne ihr Ratschläge geben zu wollen. Und Dinge sagten wie: «So fühle ich mich auch», oder: «Ich verstehe dich.» Die Frauen warfen sich Begriffe zu, benutzten Abkürzungen für Behandlungsmethoden, die sie nicht kannte und bei denen sie dachte, die würde sie eh nicht brauchen. Nach und nach wurden die anderen Frauen schwanger und verliessen die Gruppe. Neue kamen dazu. Siemes blieb. Nach einer Weile kannte sie alle Abkürzungen. Manchmal kam ihr der Gedanke: «Oh Gott, ich bleibe hier übrig.»
Durch die Selbsthilfegruppe fühlte sie sich bestärkt, eine künstliche Befruchtung in einer Kinderwunsch-Klinik zu versuchen.
Ähnlich unpassend wie das Wort «Kinderwunsch-Klinik» findet Siemes den Ort selbst.
Als sie im OP auf der Liege lag, sah sie über sich ein Storchenmobile hängen. Der klägliche Versuch, etwas Aufmunterndes an diesem sterilen Ort zu platzieren.
Auf dem Wasserspender im Wartezimmer lächelte ein weibliches Werbegesicht Siemes zu. So erzählt sie es. Siemes starrte zurück und fragte sich, ob das Werbegesicht wohl Kinder hat. Ein hässlicher Holzstorch stand auf dem Boden daneben. Als sie im OP auf der Liege lag, sah sie über sich ein Storchenmobile hängen. Der klägliche Versuch, etwas Aufmunterndes an diesem sterilen Ort zu platzieren. Es war ein klitzekleiner Raum, ein paar Quadratmeter gross, Fliesen, Neunziger-Jahre-Charme. Siemes dachte: Hier müsste es doch eigentlich schöner sein.
Vier Behandlungen hat Siemes insgesamt durchgemacht, davon drei Mal eine In-vitro-Fertilisation, kurz: IVF. Dafür war sie zu knapp zwanzig Terminen in der Klinik. In dem kleinen OP-Zimmer lag sie für ihre erste IVF. Davor hatte sie sich wochenlang Spritzen in den Bauch gerammt, war voll mit Hormonen. Bald kickte die Narkose, und als sie aufwachte, hatten die Ärzte in ihre Vagina-Wand gepikt, um ihre Eizellen abzusaugen. Neben ihrem Kopf lag ein Zettel. Dort stand die Anzahl der Eizellen, die entnommen werden konnten.
Sie wurde nicht schwanger.
Wenn der tiefste Herzenswunsch nicht eintritt – wie wandelt sich die Idee von Glück im Leben?
Für Siemes fühlte es sich manchmal so an, als machten alle «Business as usual». Ärzte und Ärztinnen durchleuchteten ihren nackten Unterleib mit Geräten, bearbeiteten ihn mit Medikamenten und Instrumenten und beurteilten nüchtern das Ergebnis. Als sei dieser Körper nicht an ihre Seele geheftet.
In der Kinderwunsch-Klinik war nicht alles schlecht, das ist Siemes wichtig zu sagen. Bei einigen Ärzten und Ärztinnen dort habe sie sich aufgehoben gefühlt. Aber jedes Mal konnte es sein, dass jemand anderes sie behandelte.
Die Sehnsucht wird zur Bürokratiesache
Siemes steht in der Küche von ihrem Stuhl auf und geht ins Arbeitszimmer. Ein heller, grosser Raum, das dritte Zimmer der Wohnung, sie hatten es als Kinderzimmer geplant. Dort stehen Bücherregale, ein Schreibtisch, ein Gästebett. Und die Holzkommode mit Babyklamotten, die sie in Urlauben gekauft haben. Ihre kleine Vorfreude. Ihr Wetteinsatz auf die Zukunft.
Sie zieht einen Ordner aus dem Regal und blättert durch die Zettel: Schreiben der Krankenkasse, Behandlungsergebnisse, Überweisungsscheine, alles hat sie abgeheftet. Ihre Sehnsucht und ihr Schmerz sind zur Bürokratiesache geworden. «Krass, ne? Man will einfach nur ein Kind», sagt sie ungläubig. Mit der Zeit hat sich der Wunsch in Aktenzeichen verwandelt.
Eine Mitarbeiterin der Krankenkasse namens Conny schreibt in einem Brief: «Es freut uns sehr, dass wir Sie bei Ihrem Wunsch nach Familienzuwachs unterstützen können.» Eine IVF-Behandlung kostet in Deutschland bis zu 3500 Euro plus einige Hundert Euro für Medikamente. In der Schweiz verlangen Spitäler total zwischen 5000 und 9400 Franken pro Zyklus, wobei solche aufwendigen Behandlungen meist nicht durch Krankenkassen gedeckt sind. In Deutschland übernimmt die Krankenversicherung oft die Hälfte – nicht aber, wenn ein Paar unverheiratet ist.
Als Siemes wieder in der Küche sitzt und spricht, hört sie sich gleichzeitig selbst dabei zu, beobachtet sich von aussen, wie damals auf der Couch. Sie sagt im Gespräch immer wieder: «Ich kann nicht glauben, dass ich das alles sage. Dass ich jetzt die bin, bei der es nicht klappt.»
Es war einer der vielen Abende, sie weiss nicht mehr genau wann, als sie verzweifelt und weinend im Bett lag, ihr Mann sie ganz fest umarmte und den Satz sagte: «Egal, was passiert. Hauptsache, wir haben uns.» Sie weiss, dass er den Satz so gemeint hat. Sie fühlte Liebe für ihn und Dankbarkeit, und gleichzeitig Schmerz und Schuld, denn sie spürte: Für mich ist es nicht egal.
Siemes sagt, sie kenne mehrere Paare, deren Beziehung daran zerbrochen ist. Sie und ihr Mann haben sich in ihrer tiefsten Verletzlichkeit gesehen. Ihre Beziehung sei intensiver geworden durch alles, was passiert ist.
Trauer. Das war es, was sie fühlte – was sie immer wieder fühlt. Trauer um das Leben, das sie nicht lebt. Trauer um das Leben ihrer Kinder, das nie gelebt werden wird.
Nach ihrer ersten Fehlgeburt blickte sie anders in die Welt. Ihr Kind hat es nicht geschafft, aber wenn es das hätte, wie sähe dann heute sein Leben aus? Sie sieht innere Bilder von ersten Schritten, ersten Zähnen, Einschulung. Jetzt ungefähr würde es in die erste Klasse gehen.
Acht Jahre. Vier Behandlungen. Zwei Fehlgeburten. Ihr Körper konnte nicht mehr, ihre Hoffnung war erschöpft.
Und dann das Ganze nochmal. Ihr zweites Kind verlor sie am 24. Dezember 2021, nach etwa neun Wochen Schwangerschaft. Den Schwangerschaftstest hat sie noch, irgendwo im Badezimmerschrank. Mit den zwei Strichen drauf. Sie wirft ihn nicht weg, warum, weiss sie nicht. Er ist der einzige Beweis für das kurze Glück. Für die kurze Fähigkeit ihres Körpers, ein Wesen in sich zu tragen.
Sie nennt ihr Leben «Kuddelmuddel», sagt, sie bewege sich irgendwo dazwischen: Sich der Trauer hingeben, weinen und die Dunkelheit spüren. Gleichzeitig «Bock aufs Leben» haben, sich neue Wege bahnen, Projekte anfangen, Abenteuer wagen.
Oktober 2022. Der dritte IVF-Versuch, Siemes erinnert sich an jedes Detail. Sie lag auf der Liege im OP-Zimmer, war noch ganz benommen und schaute auf den Zettel neben sich: Dort stand die Zahl 8. Acht Eizellen konnten entnommen werden. Das war wenig. Das würde wahrscheinlich wieder nichts werden. Sie weinte. Zog ihre Hose an, setzte sich vor die Ärztin, weinte immer noch, tupfte sich das Gesicht ab. Die Ärztin sah sie kurz musternd an, schaute dann zurück auf ihren Bildschirm, tippte, murmelte: «Sie wirken belastet», tippte weiter ihren Arztbericht.
Die entnommenen Eizellen wurden im Labor mit den Spermien vermischt, die ihr Mann abgegeben hatte. Ein paar Tage später riefen die beiden im Labor an, um das Ergebnis zu erfahren. Die Frau am Telefon teilte ihnen mit, dass «kein Zeichen einer Befruchtung» beobachtet werden konnte.
Acht Jahre. Vier Behandlungen. Zwei Fehlgeburten. Ihr Körper konnte nicht mehr, ihre Hoffnung war erschöpft.
Sie fühlte sich schrecklich – und gleichzeitig erleichtert. Denn sie wusste, noch während sie den Telefonhörer in der Hand hielt, dass das der letzte Versuch gewesen sein würde. Das wusste auch ihr Partner, sie sah es in seinem Blick.
War das Aufgeben? Oder Einsicht? Vielleicht war es nach langer Zeit wieder eine kleine Form der Selbstermächtigung.
Die Trauer kommt in Wellen
Manchmal ist Siemes jetzt noch verzweifelt. Aber sie zweifelt nicht an ihrer Entscheidung. Und sie hat beschlossen, sich dem Dunkel nicht hinzugeben. Sie will leben. Wie das aussehen soll ohne Kind, darüber denken ihr Mann und sie gerade nach. Grüner soll es vielleicht werden, raus aus der Stadt. Und sie fragen sich: Gibt es eine andere Form von gemeinschaftlichem Wohnen, die ihnen gefallen könnte?
Die letzte IVF ist jetzt ein halbes Jahr her, und es gibt immer längere Phasen, in denen es ihr gut gehe, sagt Siemes. Aber einmal, neulich, sass sie mal wieder bei einer Freundin in der Küche. Da stand ein Schulranzen an die Wand gelehnt, da lagen kleine Schuhe im Flur herum, da hing ein ABC-Poster an der Wand, und es fühlte sich an, als sei sie in dem Traum zu Gast, der nicht mehr in Erfüllung geht für sie. Auf dem Rückweg im Zug weinte und weinte sie, ein Schluchzen, das von tief in ihrem Körper kam.
«Wenn ich es als Trauer betrachte, hilft mir das. Trauer ist nichts Abgeschlossenes. Sie kommt in Wellen», sagt Siemes.
Die Frage, ob sie nicht adoptieren wolle, bekommt Siemes oft zu hören. Für sie gehört das nicht zusammen: Der Wunsch nach einem leiblichen Kind ist für sie ein Kapitel, das sie abschliessen muss. Sie findet, erst dann dürfe man über Adoption nachdenken. Damit das Adoptivkind kein Ersatz für das eigentliche Wunschkind wird. Einen Menschen mit einer anderen Abstammung und einer eigenen Geschichte in sein Leben aufzunehmen müsse wohlüberlegt sein, sagt Siemes. Zum Beispiel habe man ihr einmal beim Jugendamt gesagt, etwa 90 Prozent der Kinder hätten leibliche Mütter, die Drogen konsumierten. Mittlerweile haben sie und ihr Mann sich gegen Adoption entschieden.
Vor zwei Jahren hat Siemes einen Instagram-Kanal gestartet. Über ihn teilt sie anonym ihre innere Welt und tauscht sich mit Frauen aus, denen es ähnlich geht. Vor einem Jahr schreibt sie dort: «Heute lache ich wieder, und zwar freier und echter als jemals zuvor. Denn ich habe erkannt, wie zufällig und wunderbar das Leben ist. Mein Herz schlägt weiter. Der Raum wird für immer reserviert sein für meine Kinder. Für die, die ich verloren habe, und die, die nie gekommen sind, und für die, die wie auch immer ihren Weg zu mir finden werden. Er erinnert mich an alles, was ich bereit bin zu geben.»
Dieser Text erschien erstmals im September 2023 bei «zeit.de».