Seine Familie pflegte einen selbstverständlichen Katholizismus. Die Kindheit und Jugend, so beschreibt es Küng in seinen Lebenserinnerungen, war geprägt von einer geschlossenen katholischen Welt in Sursee, von einem Leben im Takt des Kirchenjahres. Küng war begeisterter Ministrant und liebte die prachtvollen katholischen Messen der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Ein Jugendpfarrer durchbrach diese Geschlossenheit: Er keuchte mit den Jungs auf dem Velo über Alpenpässe, kämpfte mit ihnen beim Geländespiel und sass abends am Lagerfeuer.
Wer die Gelegenheit erhielt, mit Hans Küng länger zu reden und zu diskutieren, der konnte mit ihm die Weite seines Gedankenkosmos durchstreifen. Nicht selten gelangte man dabei vom Weltfrieden über den Islam bis zum Verhältnis von Glauben und Urknall. Irgendwann aber landete er doch bei seinen katholischen Geschichten. Er sprach dann über die Enge des römischen Eliteseminars Collegium Germanicum in den 50er Jahren und über seine Hoffnungen, die er in das Zweite Vatikanische Konzil setzte. Er erzählte von seinen Auseinandersetzungen mit den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. und über den Schmerz, den ihm der Entzug der Lehrbefugnis 1979 bereitete.
Küng kritisierte die katholischen Hierarchen heftig, Papst Johannes Paul II. nannte er gar einen «geistlichen Diktator». Bei aller Schärfe (und manchmal auch Rechthaberei) blieb das Ziel seiner Kritik aber immer die Reform der katholischen Kirche. Also ihre Veränderung, ihre Verbesserung und letztlich ihre Öffnung. Dabei wäre es leicht für ihn gewesen, die innerkatholischen Debatten hinter sich zu lassen, hatte er doch einen kirchenunabhängigen Lehrstuhl in der süddeutschen Stadt Tübingen und startete 1990 sein «Projekt Weltethos». Mit diesem wollte er – als Motor für mehr Frieden auf der Welt – den Dialog der Religionen fördern. Aber eben: Von der katholischen Kirche wollte und konnte er sich zeitlebens nicht lösen.
Im September 2005 lud Joseph Ratzinger, nun als Benedikt XVI. im Papstamt, den Verfemten in die päpstliche Sommerresidenz Castel Gandolfo ein. Küng hatte es tief getroffen, dass ausgerechnet Ratzinger, den er einst als Professor von Bonn nach Tübingen geholt hatte, in seiner Zeit als Münchner Kardinal vehement seine Bestrafung forderte. Nun vereinbarten
die beiden einen Dialog auf Augenhöhe – und Küng reagierte darauf geradezu euphorisch. Umso grösser war dann seine
Enttäuschung, als sich dies als Illusion erwies.
Vorbild Karl Barth
Selbst im Leiden an seiner Kirche, im Zorn auf ihre Erstarrung, war und blieb Hans Küng katholisch. Er selber hatte sich bewusst als «evangelischen Katholiken» bezeichnet, als jemanden, der sein Christsein nicht anders verstehen konnte als ökumenisch, als einen, der die Abgrenzungen zwischen den Konfessionen hinterfragte. In den Unterschieden der christlichen Bekenntnisse sah er weder Bretterwände noch Betonmauern, sondern Zellwände eines lebendigen Organismus, durch die der Geist des einen Herrn aller Christinnen und Christen diffundieren sollte.
«Man muss den reformatorisch geprägten Schweizer Bürgersinn nicht romantisieren, um in ihm eine Quelle zu sehen für Hans Küngs lebenslanges Misstrauen gegen jede Form von fraglosem Gehorsam, für seine scharfe Kritik an allen Glaubenssätzen und Dogmen, die ihm nicht biblisch begründet erschienen.» Matthias Drobinski
Die evangelische – also vom Evangelium her begründete – Freiheit des Christenmenschen erlebte Küng im politisch wachen Katholizismus seines Elternhauses im Kanton Luzern. Seine Eltern sahen mit grösster Sorge, wie im grossen Nachbarland Deutschland die Nationalsozialisten die Herrschaft übernahmen und sich eine menschenverachtende und mörderische Diktatur etablierte. Sich keinem Herrscher beugen, den eigenen Verstand in aller Freiheit gebrauchen – man muss den reformatorisch geprägten Schweizer Bürgersinn nicht romantisieren, um in ihm eine Quelle zu sehen für Hans Küngs lebenslanges Misstrauen gegen jede Form von fraglosem Gehorsam, für seine scharfe Kritik an allen Glaubenssätzen und Dogmen, die ihm nicht biblisch begründet erschienen.
Entscheidend für den reformatorischen Wesenszug von Hans Küngs Theologie war aber die Auseinandersetzung mit dem Rechtfertigungsverständnis des grossen reformierten Theologen Karl Barth. Nach Begegnungen mit dem Landsmann Barth schrieb er ab 1953 erst seine Lizentiats- und später auch Doktorarbeit über Barths Verständnis von der Rechtfertigung des Sünders.
Küng bewunderte Barths klare Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, seinen Einsatz für die Bekennende Kirche, seine Weigerung, einen Eid auf Hitler abzulegen. Er schätzte seine Sprache und Gedankenführung, vor allem aber überzeugte ihn, dass Barth Jesus Christus ins Zentrum seiner Theologie stellte, «eine ganz von der Schrift durchdrungene Theologie, ausgerichtet auf die eine Mitte Jesus Christus», wie Küng es zusammenfasste.
Der nächstliegende Schritt eines aufstrebenden katholischen Theologen in den 50er Jahren wäre nun der Nachweis gewesen, wo Barth aus katholischer Sicht irrt, wo er vielleicht, weil nahe an den Vorstellungen der katholischen Lehre, doch den einen oder anderen Funken Wahrheit verkündet. Hans Küng aber wagte geradezu Unerhörtes. Seine These: Das Rechtfertigungsverständnis eines der bedeutendsten reformierten Theologen der Gegenwart lässt sich auch aus katholischen Quellen und Überzeugungen heraus begründen.
Auch in der katholischen Tradition findet sich die Auffassung, dass nicht alleine die Summe der guten Werke den Menschen in den Himmel bringt, sondern die Gnade Gottes, sein Ja zum sündigen und unvollkommenen Menschen. Also ganz so, wie es Martin Luther lehrte. Fast 450 Jahre hinweg hatten katholische und evangelische Theologen die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders als fundamental trennend zwischen dem evangelischen und dem katholischen Bekenntnis angesehen.
Und jetzt kam da ein Doktorand, nicht mal dreissig Jahre alt, und sagte: So gross sind die Unterschiede nicht, als dass sie die Kirchen trennen müssten. Eine Erkenntnis, die am Reformationstag 1999 in der «Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre» des Lutherischen Weltbundes und der katholischen Kirche in Augsburg feierlich bekräftigt wurde – 2017 trat dann auch die Weltgemeinschaft der reformierten Kirchen der Erklärung bei.

Freundschaftlich verbunden war Hans Küng nur mit dem reformierten Theologen Karl Barth, hinten rechts im Bild. Mit dem fast gleichaltrigen Joseph Ratzinger verband Küng eine schwierige Beziehung: Die beiden theologischen Glanzlichter waren in den 60er Jahren Konzilsberater und enge Vertraute. Später gingen sie auf Distanz zueinander, mehr noch, Ratzinger forderte als Münchner Kardinal, dass Küng für seine Kritik an der Kirche hart bestraft werden müsse. Küng hoffte trotzdem zeitlebens auf Versöhnung mit der katholischen Kirche und reagierte gar euphorisch, als ihn sein früherer Weggefährte Ratzinger – nun im Papstamt – 2005 zu einem Dialog einlud. Am Ende erwies sich Küngs Hoffung als Illusion.
Letzter Auftritt
Küng schickte 1955 seine Lizentiatsarbeit Karl Barth, der war sehr angetan und lud den jungen Kollegen nach Basel ein, eine Freundschaft begann. In Rom und Paris, wo Küng gerade studiert, sind die traditionskatholischen Professoren weniger begeistert. 1957 verteidigt Küng seine Dissertation und erhält dennoch die Bestnote summa cum laude. Zugleich aber legt das Heilige Offizium, die einstige Inquisition, eine Akte mit der Protokollnummer 399/57i an. Küngs römische und französische Lehrer verhindern ein Verbot der Dissertation, die als Buch erscheint und einige Aufmerksamkeit findet. Doch eines ist klar: Der Mann ist vorgemerkt.
Die Auseinandersetzung und das Gespräch mit Karl Barth beeinflussen die weitere Arbeit Hans Küngs; sein Weggefährte, der Theologe Hermann Häring, spricht gar von einer «Theologie in den Spuren von Karl Barth». Wie Barth habe es auch Küng verstanden, das Nachdenken über Gott und den Glauben, die Erforschung von Schrift und Tradition als Arbeit an Gesamtsystemen zu sehen und nicht als Summe von Einzelproblemen – das habe neue Perspektiven jenseits der Konfessionsgrenzen eröffnet, das Weiterdenken ermöglicht, die Reduktion auf einfache Antworten verhindert.
Barth wie Küng hätten ihren Glauben als «vernünftiges Vertrauen» begriffen, nicht als Hingabe an Dogmen, feststehende Lehrsätze, sondern an den lebendigen Jesus – ohne dabei den Verstand abzugeben. Beiden sei es um die Freiheit des Menschen gegangen, darum, dass Menschen Zwänge, Konventionen, Ängste überwinden und ihr wahres Menschsein entdecken. Beide seien von einem Gott ausgegangen, der für alle da ist, für Gläubige aller Bekenntnisse, für Skeptikerinnen, Agnostiker, Atheistinnen.
So gesehen zieht sich ein starker reformatorischer Faden durch das Werk Hans Küngs, ob er über «Die Kirche» schreibt oder über «Christ sein», ob er nach dem ewigen Leben fragt oder der Existenz Gottes, ob er eine Anfrage an das Unfehlbarkeitsverständnis der katholischen Kirche stellt, er sich später mit den Grundzügen des Christentums, des Judentums, des Islams beschäftigt. Das ist das Ökumenische von Hans Küngs Theologie: Sie bekennt sich zu ihrer Herkunft, zu ihrer katholischen Identität. Aber sie geht über den alleinigen Blick auf das Eigene hinaus. Sie wendet sich gegen die aggressive Angst vor dem Fremden, der Vermischung. Sie sucht jenseits der Abgrenzungen, Lehrsätze, Dogmen nach dem grossen Ja Gottes zu den Menschen.
In der « Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre» sprachen die lutherischen und reformierten Kirchen sowie die katholische Kirche von einem differenzierten Konsens, den sie gefunden hätten: Zwar gebe es weiterhin Unterschiede in den Auffassungen der Kirchen, die aber seien nicht mehr kirchentrennend. Genau dies hatte Hans Küng vor mehr als vierzig Jahren herausgearbeitet. Ein Konsens, der die Unterschiede zwischen den Konfessionen nicht leugnet, aber Wege findet, die nicht kirchentrennend sind.
Seinen letzten Auftritt in der Öffentlichkeit hatte Hans Küng im April 2018 anlässlich seines 90. Geburtstags. Er sass im Rollstuhl, körperlich am Ende der Kraft, geistig aber hellwach. Johanna Rahner, die Dekanin der Theologischen Fakultät, sagte ihm, dass die Theologie an der Universität nun nicht mehr nur ökumenisch arbeite, sondern auch religionsübergreifend die Muslime einbeziehe. Margot Kässmann, die ehemalige evangelische Bischöfin von Hannover und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, erzählte, wie sehr Hans Küng ihre Vorstellung vom Miteinander der verschieden bleibenden Konfessionen beeinflusst habe. Den Geehrten hat es sichtbar gefallen.
Matthias Drobinski ist Journalist beim Magazin «Publik Forum». Zuvor arbeitete er über zwanzig Jahre im Feuilleton der «Süddeutschen Zeitung».
Der Illustrator Mauro Mazzara lebt in Mailand.