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Freitag, 16. November 2018

Herr Friedman, wann wurden Sie das letzte Mal antisemitisch beschimpft?

Sie brauchen nur meinen Namen in den sozialen Medien einzugeben, dann sehen Sie, dass das eine Dauerschleife ist. Diese Dauerschleife läuft jetzt schon seit Jahrzehnten. Seit es die sozialen Medien gibt, ist die geistige Brandstiftung noch menschenverachtender geworden.

Wie oft werden Sie mit solchen Angriffen konfrontiert?

Viel zu oft. Wenn ich mich bei öffentlichen Debatten über den Zustand der Gesellschaft äussere oder mich mit den menschenfeindlichen Narrativen der AfD auseinandersetze, wachsen die aggressiven Reaktionen quantitativ wie auch qualitativ. Dabei werde ich nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Jude markiert. Erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung: Judenhass ist Menschenhass. Ausländerhass ist Menschenhass. Die Hass- und Wutbürger hassen also den Menschen und damit auch Sie.

Weisen Sie Ihren Gesprächspartner darauf hin, wenn Sie offenen oder unterschwelligen Antisemitismus bemerken?

Der Begriff Antisemitismus hilft, den aggressiven Kern, der dahintersteht, zu relativieren. Es handelt sich um ein abstraktes Wort, lateinisch verbrämt, ihm fehlt die Unmittelbarkeit. Übersetzt heisst es: Judenhass. Wir sollten die Dinge so aussprechen, wie sie wirklich sind. Aber zu Ihrer Frage: Ja, das mache ich. Mir geht es gar nicht darum, mit dem Zeigefinger die Leute zurechtzuweisen. Ich will die Gedanken hinter der Gedankenlosigkeit demaskieren.

Wieso hält sich der Hass so hartnäckig in unserer Kultur?

Die Lüge, dass die Juden Jesus ermordet haben, wurde über Jahrhunderte zur Legitimation, Juden zu verfolgen. Dies hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt. Selbst wenn Menschen heute nicht religiös sind, ist das Teil der kollektiven Erinnerung. Narrative wie: Juden kann man nicht trauen, Juden sind geldgierig, sind jahrhundertelange Erzählungen, die auch aus dem christlich-religiösen Antisemitismus stammen. Diese Geschichtenerzählung setzt sich auch bei Luther fort. Das Zweite Vatikanische Konzil, das erst wenige Jahrzehnte das Verhältnis von Christen und Juden prägt, ist noch nicht überall angekommen.

Müssen die Kirchen mehr gegen Judenhass tun?

Ja.

Die Reichspogromnacht jährte sich am 9.November zum achtzigsten Mal. Was müssen wir heute daraus lernen?

Als in Deutschland in fast jeder Stadt, jedem Dorf Gotteshäuser brannten, mussten sich Millionen Menschen entscheiden: Schauen wir tatenlos zu, oder handeln wir und löschen die Brände? Handeln wir zivilisiert oder barbarisch? Sind wir moralische Menschen, die als Christen auf Unrecht reagieren, oder tun wir nur so, als ob? Millionen Menschen haben sich dafür entschieden, nichts zu tun, und wurden dadurch zu Mittätern durch Unterlassen. Sie verstrickten sich und veränderten ihr eigenes moralisches Koordinatensystem. Spätestens in dieser Nacht haben diese Menschen, auch wenn sie es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, den Weg nach Auschwitz geebnet.

Die Reichspogromnacht wird seit der Befreiung von den Nazis mit dem Bild «Wehret den Anfängen» markiert.

Wehret den Anfängen? In dieser Nacht war Deutschland schon mittendrin. Im Verlust von Zivilisation und Menschlichkeit. Wann beginnt die Ermordung von Menschen, wann beginnt die Gewalt gegen Menschen? Erst in Auschwitz? Oder beginnt die Gewalt gegen Menschen, als die Lokomotivführer die Transporte in den Konzentrationslagern abgeliefert haben und sich nie gewundert haben, dass sie leer zurückfuhren? Oder beginnt die Ermordung von Menschen in der Wannseekonferenz, wo Bürokraten, Beamte und Politiker die Endlösung beschlossen haben? Oder beginnt die Ermordung von Menschen am 9. November 1939, als die Synagogen brannten? Oder beginnt die Ermordung von Menschen, als die Rassengesetze beschlossen wurden und Richter und Justizbeamte Ehen annullierten, Professoren aus den Universitäten rausgeschmissen wurden, Nachbarn denunziert wurden, jüdische Geschäfte geplündert wurden – und Millionen Menschen stumm, blind und taub wurden? «Wehret den Anfängen», haben Sie mich gefragt – die wehrt man am Anfangspunkt der Gewalt ab, damit es nicht zu einem Endpunkt kommt.

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