Als Muslimin in Israel ist Ella Waweya lästige Fragen gewohnt. «Wollen deine Eltern nicht, dass du bald heiratest und Kinder bekommst?» fragen Fremde sie manchmal. «Ich führe eine katholische Ehe mit der Armee», antwortet sie dann. «Und meine Soldaten sind meine Kinder.» Ella Waweya, 31 Jahre alt, stammt aus Qalansuwa, einer arabisch-muslimischen Kleinstadt im Osten Israels. Ihre drei Geschwister sind allesamt verheiratet, 13 Nichten und Neffen hat sie bereits. Sie selbst hat einen radikal anderen Weg eingeschlagen: Seit sieben Jahren dient sie in der israelischen Armee, den Israel Defense Forces. Sie ist dort Sprecherin für arabische Medien. Die Soldaten nennen sie «Captain Ella».
Die meisten jüdischen Israeli treten im Alter von 18 Jahren ihren Wehrdienst an, Männer für drei, Frauen für zwei Jahre. Befreit davon sind ultraorthodoxe Juden, die ihr Leben dem Religionsstudium widmen, ausserdem muslimische und christliche Araber, die 21 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen. Viele Muslime sehen die Palästinenser jenseits der Grenze als ihre Brüder und Schwestern. Das israelische Militär ist für sie eine Besatzungsarmee.
Und doch melden manche Muslime sich freiwillig zum Wehrdienst – und nie waren es so viele wie im vergangenen Jahr. Genaue Zahlen gibt die Armee nicht heraus, doch bis 2019 hatte sie von «Hunderten» muslimischer Soldaten gesprochen. 2020 dagegen hätten sich erstmals über tausend gemeldet. Ella Waweya erklärt die plötzliche Beliebtheit des israelischen Militärs unter Muslimen mit dem Einsatz der Soldatinnen und Soldaten bei der Pandemiebekämpfung: Das Militär hilft in Corona-Testzentren und Impfstationen aus und verteilt während der Ausgangssperren Essenspakete in bedürftigen Gemeinden, auch in arabischen Städten.
«Aktionen zur Pandemiebekämpfung haben den arabischen Einwohnern die positive, menschliche Seite der Armee gezeigt.» Ella Waweya, Muslimin und Angehörige der israelischen Armee
«Diese Aktionen haben den arabischen Einwohnern die positive, menschliche Seite der Armee gezeigt», sagt sie. Der Sozialwissenschaftler Arik Rudnitzky dagegen betrachtet diese Entwicklung als Teil eines breiteren Trends. «Vor zehn Jahren gab es einen Wendepunkt», sagt Rudnitzky, der am Israel Democracy Institute in Jerusalem, einem liberalen Think-Tank, zu Israels arabischer Minderheit forscht.
Die Aufstände in der arabischen Welt, die mancherorts in Anarchie und Bürgerkrieg mündeten, hätten bewiesen, «dass es keine schlechte Option ist, israelischer Staatsbürger zu sein». Die Spaltung in die Fatah im Westjordanland und die islamistische Hamas im Gazastreifen trübe darüber hinaus die Attraktivität der palästinensischen Nationalbewegung.
Manche muslimischen Bürgerinnen und Bürger aus bescheidenen Verhältnissen sehen im israelischen Armeedienst zudem die Chance auf ein besseres Leben. Zu ihnen zählt der 39jährige Ibrahim Elhushalala, der aus einem Beduinendorf in der Negevwüste stammt. Er wuchs in einem Zelt auf, ohne Strom und fliessendes Wasser, zur weiterführenden Schule ritt er auf einem Esel. «Die Umstände waren nicht leicht», sagt er. «Aber wir haben überlebt.»
Während er von seiner Kindheit erzählt, sitzt Elhushalala auf einer Anhöhe neben der nordöstlichen Grenze zu Gaza, ein kräftiger, braungebrannter Mann in der olivgrünen Uniform der israelischen Streitkräfte. Er dient als Hauptmann einer Pfadfindereinheit, seine Soldaten sind Beduinen wie er. Von dem Hügel aus reicht der Blick hinein in den Gazastreifen, mit dessen Herrschern, der Hamas, das Militär in den vergangenen Jahren mehrere blutige Konflikte ausgefochten hat.
Als Berufssoldat nahm Elhushalala daran teil. «Das da sind Wassertürme», sagt er und zeigt auf zwei rostrote Zylinder, die auf der anderen Seite des Grenzzauns in die Höhe ragen, «und da drüben liegt ein Industriegebiet.» Zu seinen Aufgaben gehört es, die Grenze vor Eindringlingen aus Gaza zu schützen. Mit den Menschen, die dort leben, verbinde ihn wenig, sagt er. «Ich bin ein Kind der Negevwüste.»
Geschlossene Gesellschaft
Unter den Beduinen im Negev ist der Militärdienst weiter verbreitet als unter den Arabern im Norden des Landes. Schon vor der Staatsgründung hätten viele Männer seines Stammes als Arbeiter in jüdischen Dörfern angeheuert, erzählt Elhushalala. Bereits sein Grossvater diente im israelischen Militär. Er selbst hat sieben Kinder, fünf Söhne, zwei Töchter. Der älteste Sohn ist bereits Soldat, einen anderen will er zur Polizei schicken. «Ich will, dass sie im Sicherheitsbereich arbeiten, damit sie sich zugehörig fühlen», sagt er. «Es ist wichtig, sie auf die richtige Art in die Gesellschaft einzuführen.»
«Die Gesellschaft», das ist die jüdische Mehrheitsgesellschaft, mit der viele Beduinen und Araber selten in Berührung kommen. 90 Prozent von ihnen leben in homogen arabischen Dörfern und Städten, wie der Politikwissenschaftler Asad Ghanem von der Haifa-Universität im Norden Israels schreibt. Die meisten besuchen arabischsprachige Schulen, in denen Hebräisch oft nur rudimentär vermittelt wird. Er selbst habe vor seinem Armeedienst «kein Wort» Hebräisch gesprochen, bekennt Elhushalala. Ella Waweya erzählt, sie habe in ihrer Kindheit kaum Juden gekannt.

Ibrahim Elhushalala ist Beduine – so wie die Soldaten, die er befehligt. Der Hauptmann möchte, dass auch seine Kinder «im Sicherheitsbereich» arbeiten. Nur so werden sie Teil der jüdischen Gesellschaft.
Viele junge Araber verlassen ihre Gemeinden erst mit dem Studium – und finden sich an der Universität als ethnische, religiöse und sprachliche Minderheit wieder. Die meisten ihrer jüdischen Kommilitonen haben den Wehrdienst schon hinter sich. In der Armee knüpfen sie wichtige Kontakte, und manche durchlaufen dort eine Ausbildung, etwa in einer der technischen Aufklärungseinheiten, die viele erfolgreiche Hightech-Entrepreneure hervorbringen.
Glaubensschwester als Verräterin
Von diesen Ressourcen, die über Karrieren entscheiden können, bleiben Araber ausgeschlossen – es sei denn, sie dienen freiwillig. «Junge Araber, die zum Militär gehen, haben einen grossen Vorteil gegenüber denen, die es nicht tun», sagt der Sozialwissenschaftler Arik Rudnitzky. «Auf dem Arbeitsmarkt wird der Dienst wertgeschätzt.» Doch viele dieser Soldaten zahlen für ihren Dienst einen Preis. Manche Muslime betrachten ihre Glaubensbrüder in Uniform als Verräter an der palästinensischen Sache. Es ist nicht leicht, muslimische Soldaten zu finden, die bereit sind, mit Klarnamen in die Öffentlichkeit zu treten.
Die arabische Politikerin Haneen Zoabi sagte einmal über arabische Soldaten im israelischen Militär, es handele sich «um eine kleine, marginalisierte Gruppe», deren Mitglieder «eine patriotische rote Linie überschreiten». Ella Waweya erzählt, sie sehe sich stets um, bevor sie in ihr Auto steige. «Man kann nie wissen, aus welcher Richtung die Rache kommt. In Qalansuwa gibt es Leute, die sich als Palästinenser identifizieren. Deshalb muss ich vorsichtig sein.» Sie und Ibrahim Elhushalala definieren sich dagegen als arabische Israeli, eine Bezeichnung, die laut Studien mehr und mehr Anhänger findet.
In einer Umfrage des Jewish People Policy Institute etwa, eines Think-Tanks in Jerusalem, bezeichneten sich im vergangenen Jahr 51 Prozent der arabischen Bürger als «israelisch-arabisch» – und nur 7 Prozent als Palästinenser. Im Vorjahr waren es noch 18 Prozent. Allerdings zeichnen die Untersuchungen ein widersprüchliches Bild. In einer Umfrage der Haifa-Universität aus dem Jahr 2017 gaben nur 59 Prozent der Araber an, Israels Existenzrecht anzuerkennen, weniger als in den Jahren zuvor.
Die widersprüchlichen Ergebnisse dürften die Identitätskrise vieler arabischer Bürger widerspiegeln, die mit Zurückweisung von beiden Seiten rechnen müssen: Manche Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen halten die Araber innerhalb der israelischen Grenzen für Opportunisten, wenn nicht für Verräter, die im Land des Feindes ein bequemes Leben führen.
Unter jüdischen Israeli wiederum betrachten manche ihre arabischen Mitbürger mit Misstrauen oder Herablassung: Nur 61 Prozent von ihnen sehen Araber als vollständige Mitglieder der Gesellschaft, heisst es in der Studie der Universität Haifa.
«Und dann ist da noch die Tatsache, dass Israel sich nach ethnonationalistischen Gesichtspunkten definiert, die die arabische Minderheit ausschliessen», schreibt der arabische Politikwissenschaftler As’ad Ghanem, «von einer Nationalhymne, die die Sehnsucht einer jüdischen Seele nach einem Heimatland in Zion beschreibt, bis zu einer Flagge, die einen Davidstern zeigt.»
«Israelisch, arabisch, palästinensisch, muslimisch? Lange habe ich nicht verstanden, was ich bin. Heute weiss ich: Ich bin israelisch.» Ella Waweya, Offizierin
Als aktive Soldaten dürfen Ella Waweya und Ibrahim Elhushalala sich nicht öffentlich zu politischen Fragen äussern. Beide sagen aber, sie sähen keinen Widerspruch zwischen ihrem eigenen Patriotismus und dem jüdischen Charakter des Staates. «Als ich zur Armee gegangen bin, habe ich gespürt, dass ich Bürger des israelischen Staates bin», sagt Elhushalala. «In der Armee sind wir alle Brüder.»
Früher, in ihrer Jugend, rang Ella Waweya mit ihrer Identität. «Ich habe nicht verstanden, was ich bin», sagt sie, «israelisch, arabisch, palästinensisch, muslimisch?» Der Ausweis, den sie im Alter von 16 Jahren bekam, löste die Frage für sie. «Da habe ich begriffen: Ich bin israelisch, und darüber diskutiere ich mit niemandem mehr.»

Ella Waweya in ihrem Büro der israelischen Verteidigungsstreitkräfte in Tel Aviv.
Im Alter von 24 Jahren meldete sie sich zum Militärdienst. «Ich dachte, wenn ich Israelin bin, sollte ich auch etwas dafür tun.» Ihrer Familie verschwieg sie ihre Entscheidung zunächst. Nachdem es durch einen Zufall herauskam, war eine ihrer Schwestern so wütend, dass die beiden monatelang kein Wort miteinander sprachen. Ihre Mutter wiederum erzählte Fremden, Ella arbeite als Journalistin, so sehr schämte sie sich für den wahren Beruf ihrer Tochter.
Im Laufe der Jahre jedoch begann die Familie umzudenken. «Sie haben verstanden, dass ich meinen Weg gehe, egal, was sie sagen», sagt Ella Waweya. «Ausserdem sehen sie, dass es mir gut geht, dass meine Kommandeure mich respektieren und die Menschen mich wertschätzen.»
2015 qualifizierte sie sich für den «Soldatenpreis des Präsidenten», eine Auszeichnung, die Israels Staatspräsident jedes Jahr am israelischen Unabhängigkeitstag herausragenden Soldaten verleiht. Ihre Mutter kam zur Zeremonie nach Jerusalem. «Danach hat sie mir die neue Dienstmarke angeheftet», erzählt Ella Waweya. Ihr Tonfall, sonst resolut und selbstbewusst, wird einen Moment lang weich. «Ich hätte nie geglaubt, dass meine Familie einmal so stolz auf mich sein würde.»