In meiner Arbeit als Journalistin zweifle ich ständig. Ich berichte über Machtmissbrauch, oft über sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt. Ein gesellschaftlich sehr aufgeladenes Thema. In Diskussionsrunden werde ich deshalb oft gefragt, wie ich weiss, ob etwas wahr ist. Mich überrascht diese Frage immer wieder. In jüngster Zeit bin ich dazu übergangen, etwas provokant zu sagen: Wahrheit interessiert mich nicht.
Was ich damit ausdrücken will: In meiner Arbeit geht es selten um einen absoluten und damit zwangsläufig naiven Begriff von Wahrheit. Bei einem Fall von sexualisierter Gewalt etwa muss ich mich in einen Raum begeben, in dem es keine überprüfbare Wirklichkeit gibt. Bei dem, was sich zwischen den Beteiligten abgespielt hat, war ich nicht dabei, und fast immer gibt es unterschiedliche Versionen davon. Ich kann mich den Geschehnissen lediglich annähern und auf Basis eines begründeten Verdachts darüber berichten. Deshalb nennt man diese Art von Journalismus auch Verdachtsberichterstattung.
Elementar dafür ist der Zweifel, das permanente Hinterfragen: Habe ich ausreichend Belege gefunden, um einen Verdacht zu begründen, oder muss ich ihn aufgeben? Wie gewichte ich welche Aussage? Welche Versuche, an eine Information zu kommen, habe ich noch nicht bedacht? Habe ich alle Seiten gehört? Und was weiss ich nicht?
Zweifeln ist hier weniger ein Hinarbeiten auf Wahrheit als ein Rekapitulieren der bisherigen Schritte. Und dann: ein zögerliches Vorarbeiten. Ein Tasten. Auch die Veröffentlichung ist in diesem Prozess nicht das Ende, nicht die Wahrheit, sondern nur eine Momentaufnahme. Das mit bestem Gewissen aufgeschriebene Wissen, das ich mir bis Redaktionsschluss aneignen konnte.
Selig sind die Glaubenden
Ich treffe immer wieder auf Menschen, die überrascht oder gar wütend sind, dass die journalistische Arbeit unvollkommen bleibt, eine Annäherung an etwas, das niemals greifbar sein wird. Von Objektivität wird dann oft gesprochen. Oder in diffamierender Abgrenzung dazu: von Aktivismus. Im Grunde zeigt sich hier, dass im Alltag häufig mit einem völlig überhöhten Wahrheitsbegriff hantiert wird, der der Tatsache nicht Rechnung trägt, dass menschliche Erkenntnis immer unvollständig bleiben muss. Ich glaube: dass dieser Wahrheitsbegriff fortbesteht, hat auch etwas damit zu tun, welche Geschichten wir uns entscheiden über Zweifel, Wahrheit und Scheitern zu erzählen.
Im Koran gibt es die Geschichte von einem Mann, der ein Leben nach dem Tod bezweifelt. Allah lässt ihn sterben und erweckt ihn nach hundert Jahren wieder zum Leben, um ihn glauben zu machen. Auch in der Bibel gibt es viele Zweifelnde. Der vielleicht bekannteste unter ihnen ist der ungläubige Thomas. Die Erzählung über ihn geht so: Jesus erscheint nach der Auferstehung seinen Jüngern. Doch Thomas ist in diesem Moment nicht dabei. Als die anderen ihm von der Auferstehung berichten, kann er nicht glauben, dass Jesus lebt. Erst als dieser sich die Zeit nimmt, auf seinen Zweifel einzugehen, Thomas die Wundmale von Jesus berühren darf, ändert sich seine Haltung. Die Male beweisen, dass es wirklich der Mann ist, den er am Kreuz hat sterben sehen, und erst jetzt kann auch Thomas an die Auferstehung glauben. Die Verfasser dieser Bibelstelle lassen Jesus daraufhin etwas Entscheidendes antworten. Nämlich: «Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.»
Die Anekdote vom Zweifler Thomas bekommt so ein negatives Ende. Auch wenn sich Jesus ihm zuwendet, ihn nicht etwa bestraft, hebt er doch das Zweifeln als Makel hervor. Mehr Hindernis und bestenfalls Zwischenstation zu höherer Erkenntnis, zu einem besseren Sein. Der Zweifel ist ein Zustand, den es zu überwinden gilt.
Zwang zum Glücklichsein
Dieses Narrativ ist noch immer aktuell. Gegenwärtig wird der Zweifel in die kapitalistische Erzählung eingebettet – nämlich als Teil einer Story ultimativen Erfolgs. Die Protagonistin, die auf ihrem Weg nach oben kurz stehen bleibt, nachdenkt, eine Schleife dreht, am Ende den Zweifel überwindet und reüssiert. Das Scheitern verkommt so zum blossen dramaturgischen Kniff. Ein Grossteil medialer Geschichten funktioniert bis heute nach diesem uralten Schema. Erzähltechnisch sind wir damit seit zweitausend Jahren nicht weitergekommen, auch wenn wir alle wissen, dass diese Geschichten nicht repräsentativ sind für menschliches Erleben.
Die Soziologin und Genderforscherin Franziska Schutzbach sagt in einem Interview zu ihrem Buch «Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit» dazu: «Sogenannte negative Emotionen haben eine Entwertung erfahren und sollen unter Verschluss gehalten werden, gleichzeitig gibt es den Zwang zum positiven Denken, ja zum Glücklichsein.
Krisen, Zweifel und das Scheitern sind nur dann erlaubt, wenn daraus irgendwann ein Nutzen gezogen werden kann.
Krisen, Zweifel und das Scheitern sind nur dann erlaubt, wenn daraus irgendwann ein Nutzen gezogen werden kann.» Schutzbach kritisiert, dass vermeintlich negative Erfahrungen nicht stehengelassen werden. Eine Mutter von kleinen Kindern beispielsweise darf nicht einfach erledigt sein, sondern muss diese Erschöpfung umdeuten in eine Bereicherung. Sie muss sie als etwas erzählen, an dem sie gewachsen ist – vor sich selbst wie vor anderen.
Wurde in der Bibel der Zweifel als Sprungbrett zu religiöser Erkenntnis beschrieben, so wird er in der kapitalistischen Erzählung als Vehikel für Selbstoptimierung und Selbst- oder Fremdausbeutung missbraucht: Nur wer stets alles und am allermeisten sich selbst hinterfragt, kann Grosses schaffen. «Man findet auf jeder Ebene Menschen, deren Leistung hervorsticht – eben weil sie ständig nach Möglichkeiten suchen, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu optimieren», heisst es in einem Essay in der «Süddeutschen Zeitung» über Zweifel als angeblichen Motor für Innovation. Hier wird lediglich dem antreibenden, dem produktiven Aspekt von Zweifel Tribut gezollt. Es geht um Verbesserung, um höher, schneller, weiter.
Das unproduktive Moment des Zweifels wird eingehegt in eine Gesamtnarration, die ihn letztlich besiegt, besiegen muss. Getreu dem Motto: Ein bisschen Zweifel darf sich jede auf ihre Kosten leisten, solange am Ende das Ergebnis stimmt. Diese Sichtweise unterwirft den Zweifel einer reinen Verwertungslogik. Sie lässt keinen Raum für ein längeres Verharren, ein wochenlanges Haareraufen, ein langanhaltendes Erstarren, ein kollektives Zaudern. Für etwas, das im neoliberalen Sinne maximal unproduktiv ist, weil es keinerlei praktischen Anwendungsfall gibt. Schon gar nicht lässt sie zu, dass jemand wie Albert Einstein 25 Jahre am Newtonschen Gravitationsgesetz zweifelte, bis er die allgemeine Relativitätstheorie fand – die ihrerseits durch die Entwicklung der Quantenmechanik sofort wieder in Zweifel gezogen wurde.
Denkt man den Zweifel als eine Bewegung, ist diese im Grunde immer dieselbe: Der Zweifel dient als initiales Ereignis, das hinführt zu einem neuen Plateau der Erkenntnis. Es geht um: Position, Zweifel, Position. Stop.
Denkt man den Zweifel als eine Bewegung, ist diese in Religionen und Ideologien, aber auch in vielen medialen Geschichten im Grunde dieselbe: Der Zweifel dient als initiales Ereignis, das hinführt zu einem neuen Plateau der Erkenntnis, das als sinnvoller, wahrer, richtiger als das vorherige wahrgenommen wird. Es geht um: Position, Zweifel, Position. Stop. Dieses Verständnis ist problematisch. Denn es verkürzt den Zweifel und beschneidet damit sein Potenzial. Einmal am vermeintlich richtigen Ort angekommen, macht es sich die ehemals Zweifelnde gemütlich und stellt möglicherweise die einmal eingenommene Position nicht mehr in Frage.
Das lässt sich bestens an einer bestimmten Gruppe von Zweiflern illustrieren, die derzeit die öffentliche Debatte dominieren. Es sind Menschen, die pauschal bezweifeln, dass Schulmedizin wirkt, und stattdessen nur noch an selbsterwählte, alternative Heilmethoden glauben. Impfgegner, welche die Existenz des Coronavirus leugnen, die bezweifeln, dass die Medien ihnen die Wahrheit sagen, oder die pauschal die Ehrlichkeit von Politikerinnen hinterfragen. Manche von ihnen glauben nicht an die Landung von Menschen auf dem Mond oder daran, dass die Erde rund ist. Stattdessen glauben sie an geheime Eliten, an Ernährung durch Licht, Chemtrails, an gross angelegte Experimente mit Biowaffen, oder sie verteidigen vehement die Haltung, dass 9/11 kein Terroranschlag gewesen sei.
Während der Coronapandemie gewannen viele solcher Haltungen an Popularität. Eine Umfrage der deutschen Hans-Böckler-Stiftung ergab, dass 18 Prozent der Erwerbspersonen in Deutschland im Sommer 2021 in hohem Ausmass Verschwörungsmythen rund um die Coronapandemie zugestimmt haben. Die deutsche Publizistin Carolin Emcke sagt in ihren Gesprächen mit Thomas Strässle («Im Zweifel für den Zweifel») dazu: «Die antidemokratische Gefahr geht von jenen aus, die komplett frei von jedem Bezug zu einer gemeinsamen geteilten, überprüfbaren Wirklichkeit agieren.»
An diesem Satz bin ich lange hängengeblieben. Denn in vielerlei Hinsicht ist auch das, worüber ich berichte, Gegenstand einer Auseinandersetzung über zwei getrennte Wirklichkeiten, deren Wahrheitsgehalt nicht letztlich überprüfbar ist. Was also unterscheidet mich von Menschen, die für sich entschieden haben, dass das Coronavirus nicht existiert? Und stehen diese Menschen dann nicht gerade für das, wonach ich mich sehne – ein andauerndes Zweifeln? Mehr Ausharren statt Weiterkommen?
Entscheidend ist ein zweiter Satz von Emcke in diesem Zusammenhang. So sagt sie, es gehe um wissenschaftliche Methodik. «Es geht um die Rechtfertigung von Überzeugungen mit möglichst guten Gründen.» Um den Versuch einer Wahrheitsannäherung anhand von Methoden, auf die wir uns als Gesellschaft verständigen können. Es gehe darum, bei jeder Argumentation einen Zweifel mitzuführen, dabei aber gleichzeitig neue Erkenntnisse aufzunehmen. Nichts anderes ist Verdachtsberichterstattung: der faktenbasierte Verweis auf das unvollständige Bild.
Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynmann warnte eindringlich davor, die Möglichkeit zu zweifeln, wenn sie einmal errungen wurde, zu vergessen und sich einer vermeintlich gefestigten Wahrheit hinzugeben. Feynmann schreibt: «Unsere Freiheit zu zweifeln entstand aus dem Kampf gegen die Autorität in den frühen Tagen der Wissenschaft. Es war ein sehr tiefer und starker Kampf: uns zu erlauben, zu hinterfragen – zu zweifeln – nicht sicher zu sein. Ich denke, dass es wichtig ist, dass wir diesen Kampf nicht vergessen und dadurch vielleicht verlieren, was wir gewonnen haben.»
Wer zweifelt, hat sich bereits in Bewegung gesetzt. Das ist nicht immer angenehm, es kostet Kraft.
Wer zweifelt, hat sich bereits in Bewegung gesetzt. Das ist nicht immer angenehm, es kostet Kraft. Es ist verständlich, dass man deshalb möglichst bald ankommen will, in einer Position, in der man sich ausruhen kann. Doch was, wenn die Bewegung nicht hinführt zum ersehnten Plateau? Wenn der Zweifel hinführt zu einem Ort zwischen den Positionen?
Dann gibt es dort eine Welt zu entdecken: die Überzeugung, dass Überzeugungen sich ändern müssen und werden. Dass der Blick, den wir auf die Welt haben, zwangsläufig unvollständig bleibt. Im Zwischenraum erhalten wir das Recht auf Scheitern, auf unproduktiven Stillstand. Auf Sabotage. Die Möglichkeit, nicht dauerhaft anzukommen an einem besseren, sicheren Standpunkt. Und die Möglichkeit, dass individuelle und kollektive Gewissheiten durch neue Informationen immer wieder neu bewertet werden müssen.
In einer Gesellschaft, in der Erzählungen vom Scheitern häufig nur dazu dienen, den auf den Zweifel folgenden Erfolg zu illustrieren, ist diese Art von Zweifel nicht nur unpopulär, sondern auch systemgefährdend. Denn sie verweist auf die Nähe des Zweifels zur Verzweiflung.
Von der zersetzenden Wirkung des Zweifels schreibt Luise Meyer in ihrem Buch «MRX Machine». Als Beispiel zieht sie den «Ausfall A. Reiter» heran. A. Reiter ist eine Figur aus der Erzählung «Der Schweisser» von Ingeborg Bachmann, und wie der Titel schon sagt, ist er Schweisser. Dieser Mann nun «erkrankt», was sich dadurch auszeichnet, dass er nicht mehr arbeiten geht. Er vernachlässigt erst seinen Job, dann seine Familie und geht am Ende selbst zugrunde. Auch ein Arzt kann ihn nicht wieder mit seinem Arbeitsgerät versöhnen. Luise Meyer schreibt hierzu: «Die lohnarbeitsmässige und patriarchale, also pragmatische Anbindung des Erkrankten ans System scheitert an der philosophischen Infektion durch den Zweifel, der schliesslich den stärkeren Sog erzeugt. Hier liegt das dreckige Geschirr in der Ecke und einer weiss nicht, ob er daran glaubt.»
Ist das also das konsequent zu Ende gedachte, das radikale Zweifeln? Die Vernichtung meiner Selbst? Die absolute Verweigerung? Luise Meyer gibt noch eine andere Aussicht: die Kameradschaft der «Versehrten», wie sie sie nennt. Man könnte auch sagen: die Kameradschaft der Zweifelnden. Es gibt nämlich einen Arzt, der A. Reiter behandelt. Als seine Behandlung fehlschlägt und weil sie fehlschlägt, so Meyer, wird er dadurch gleichsam infiziert mit dem Zweifel.
Diese Betrachtung des Zweifels beschäftigt sich mit Produktivität versus Unproduktivität und sieht in dem Verharren, der Sabotage, einen radikalen Akt. Doch man kann noch mehr finden, wenn man sich in den Zwischenraum des Zweifels hineinbeugt.
Wahrheit als Konstruktion
Zweifeln kommt von «in zwei falten». Die Zwei beinhaltet automatisch den Unterschied dazwischen, den «negative space». Das hat der Zweifel mit der – auch politischen – Liebe gemein, wie der französische Philosoph Alain Badiou sie beschreibt. Badiou lehrt uns, «dass man die Welt vom Unterschied aus erfahren kann, und nicht nur von der Identität aus»: Für ihn ist die Liebe eine «Bühne der Zwei», die im Annehmen und Aushalten der Unterschiedlichkeit der Liebenden entsteht. Sie ist ein Wahrheitsverfahren zwischen den Zweien (oder Dreien oder Vieren, wem die Zwei zu binär ist).
Ihr grösster Feind ist entsprechend der Egoismus, der Geltungsdrang des einzelnen Ichs. Badiou erweitert dies schliesslich auch auf die Politik und spricht von Politik als Wahrheitsverfahren, das nicht die Zwei, sondern die Gemeinschaft betrifft: «[…] die politische Aktion bringt das zur Wahrheit, wozu eine Gemeinschaft fähig ist. Zum Beispiel: Ist sie zur Gleichheit fähig?»
Ich finde diese Gedanken von Badiou so schön und relevant, dass sie mich seit Jahren nicht mehr loslassen. Ich sehe sie überall, auch im Zweifel. Ein gemeinsames gesellschaftliches Wahrheitsverfahren entsteht nicht durch das Aufeinanderprallen der Positionen wie in einer Fernseh-Talkshow. Sondern im ungeklärten, diffusen Raum, der sich ergibt, wenn die Zwei, die Drei, die Vier aufeinandertreffen. Eine unfassbare Form, ein sich ständig wandelndes Etwas, das auf der Bühne derer, die zusammentreffen, entsteht und gleich wieder zerfällt. Es ist auch bei Badiou, wo ich die einzig brauchbare Definition von Wahrheit für mich gefunden habe: nämlich eine Wahrheit, die sich aufbaut, die immer Konstruktion bleibt zwischen denen, die sie miteinander konstruieren, wie ein Spinnennetz. Und die zerfällt, ab dem Moment, wo jene nicht weiter gemeinsam an ihr arbeiten.