Im Gebäude der Messer GmbH liegen Tod und Alltag nur wenige Meter auseinander. Im Parterre des traditionellen Berner Giebelhauses ist die Schreinerei einquartiert, Fenster, Stühle, Bettgestelle entstehen dort. Im ersten Stock dagegen befindet sich das Büro von Daniel Messer, in dem er ordnerweise Muster für Traueranzeigen aufbewahrt, mit Behörden, Floristinnen oder Polizisten telefoniert. Ab und zu führt er ein Trauergespräch an dem runden Holztisch, der sich in eine der Ecken drängt.
Messer ist 42 Jahre alt und von Beruf Bestatter. Er hat einen Partner, lebt aber alleine in einer der beiden Wohnungen, die sich direkt neben dem Büro befinden. Seine Mutter Brigitta Messer wohnt in der anderen. Von dort dringt nun das aufgeregte Kläffen eines Hundes in das enge, vollgestellte Arbeitszimmer. «Jaja, ist gut, du darfst herkommen», ruft Daniel Messer, und gleich darauf erscheint ein schwarzgefleckter Cockapoo, eine Mischung aus Pudel und Spaniel. Ihm auf dem Fusse folgt eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren.
«Setz dich doch dazu», sagt Daniel Messer, an seine Mutter gewandt.
«Ich habe meinem verstorbenen Mann viel bei der Arbeit geholfen», sagt sie, nachdem sie sich in den Bürostuhl hat fallen lassen.
«Du hilfst auch mir noch ganz oft», sagt er, die Hand auf ihrer Armlehne. Der Hund streicht schwanzwedelnd um die Beine der beiden.
In der Familie Messer gehen Arbeit und Privatleben ineinander über. Gegessen wird oft gemeinsam, etwa einmal die Woche kommt eine Nachbarin dazu, die eine Gärtnerei betreibt und hin und wieder Blumenschmuck für Daniel Messer liefert. Doch während vier Generationen von Messers gleichzeitig Möbel zimmerten und Bestattungen durchführten – eine historisch gesehen nicht unübliche Kombination –, hat die fünfte Generation die beiden Aufgabengebiete unter sich aufgeteilt: Daniel Messer hat das Bestattungsgeschäft 2014 von seinem Vater übernommen, sein Bruder die Schreinerei schon ein paar Jahre zuvor.
«Daniel hat sich immer für diese Arbeit interessiert», sagt Brigitta Messer jetzt. «Er hat als Kind sogar auf der Laube tote Fliegen kremiert.»
«Das stimmt nicht», sagt er, «nur in Zündholzschachteln beerdigt.»
«Und mit Lego-Toggeli Friedhöfe gebaut», sagt sie.
«Ja», sagt er und lächelt, als sei ihm das unangenehm – das Thema, oder vielleicht auch nur die Aufmerksamkeit. Über die Frage, warum er sich ausgerechnet diesen Beruf ausgesucht hat, muss er kurz nachdenken. Dann antwortet er schlicht: «Ich wusste einfach, dass ich das machen wollte.»
«Horror, diese Bilder»
Das Sterben ist in der Schweiz wie so vieles kantonal geregelt. In einigen Kantonen werden Todesfälle über das Bestattungs- oder das Zivilstandsamt abgewickelt, in anderen dagegen gibt es dafür private Anbieter. Für den Kanton Bern finden sich im Online-Telefonbuch über fünfzig entsprechende Einträge.
Die Bestatter übernehmen eine Reihe von Aufgaben. In einem ersten Schritt führen sie Gespräche, um die Wünsche der Verstorbenen und ihrer Angehörigen auszuloten. Sie fragen nach der Art der Bestattung, nach dem Blumenschmuck oder dem Ort, an dem die Trauerfeier stattfinden soll. Sie übernehmen das Einsargen, das auch bei einer Kremation notwendig ist, und den Transport der sterblichen Überreste. Gibt es eine Aufbahrung, richten sie zudem den Leichnam her, ziehen ihn an oder schminken ihn. Auf Wunsch sind sie auch an der Trauerfeier dabei und sammeln im Anschluss etwa die Kärtchen für die Familie ein.
Meist werden die Bestatterinnen von den Angehörigen gerufen, wenn zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung jemand gestorben ist. Manchmal müssen sie aber auch bei Unfällen oder Suiziden anrücken. Verdächtigen Todesfällen begegnen sie zwar weit weniger oft als in der bekannten TV-Serie mit Mike Müller. Doch auch in der Realität sehen Bestatter oft Dinge, die schwer zu verdauen sind.
Auf grosse Fragen antwortet Daniel Messer oft, indem er die Hände zusammenschlägt – eine Geste, die hilflos wirkt und gleichzeitig alles ausdrückt.
Einmal, erzählt Daniel Messer, habe er in einem anonymen Wohnblock eine Leiche einsargen müssen, die schon mehrere Tage dort gelegen habe. Das sei grauenhaft gewesen – nicht nur wegen der Gerüche und der Insekten, die sich schon eingefunden hatten. Sondern auch, weil niemand von den Nachbarn etwas bemerkt hatte. Ein andermal sei er von der Polizei angerufen worden, weil ganz in der Nähe ein Kind unter einen Lastwagen gekommen war. Er habe gedacht, dass er das Kind wahrscheinlich kennen würde. Und gleichzeitig gewusst, dass er nicht mehr würde sehen können, wer das kleine Wesen war.
«Horror», sagt Daniel Messer dazu. «Solche Bilder.»
Wie geht man als Bestatter damit um?
«Es klingt blöd, aber: Kopf ausschalten. Einfach machen.»
Daniel Messer ist kein Freund vieler Worte. Auf grosse Fragen antwortet er oft, indem er die Hände zusammenschlägt – eine Geste, die hilflos wirkt und gleichzeitig alles ausdrückt. Denn was will man auch sagen angesichts von Tod und Trauer, von Kindern, die im Beisein der Eltern verunglücken oder von Jugendlichen, die sich vor einen Zug werfen?
Ihm helfe es, nach so einem Erlebnis etwas Schönes zu machen, sagt Messer. Mit dem Neffen in den Tierpark oder etwas Gutes essen. Der Austausch mit Kolleginnen. Manchmal spreche er auch mit einem Pfarrer, zu dem er ein gutes Verhältnis habe. Gleichzeitig müsse er die schlimmen Bilder bewusst wegpacken – das sei Teil der Profession.
Mit dem Tod aufgewachsen
Daniel Messer begleitete seine Eltern schon im Kindergartenalter bei der Arbeit. Am Anfang musste er jeweils vor der Tür warten, bis die verstorbene Person im Sarg lag. Dann durfte er ins Zimmer und Blumen in den Sarg legen. Als er zum ersten Mal einen Toten berührte, war er elf Jahre alt. Das kühle Gefühl sei speziell gewesen, sagt er. Gleichzeitig sei der Umgang mit dem Tod damals schon normal für ihn gewesen. «Ich bin ja damit aufgewachsen.»
Bis Messer in den elterlichen Betrieb einstieg, vergingen allerdings ein paar Jahre. Seinem Vater war wichtig, dass er zunächst einen anderen Beruf lernen sollte. «‹Erst musst du fremdes Brot essen›, hat er gesagt.» Also machte der Sohn eine Ausbildung zum Gärtner und arbeitete insgesamt sechzehn Jahre in dem Beruf. Auch in dieser Zeit half er seinen Eltern, nahm einmal im Jahr Ferien, damit sie sich eine Auszeit gönnen konnten. Als er dann die Leitung des Bestattungsgeschäfts übernahm, blieben sein Vater und seine Mutter weiter involviert.
Im ersten Jahr sei er richtiggehend geprüft worden, erinnert sich Daniel Messer. Da habe er alles erlebt, was der Beruf an Furchtbarem mit sich bringen kann – von toten Babys bis hin zu blutigen Unfällen. «Danach wusste ich: Ich bin bereit.»
Ob er den Entscheid je bereut hat?
«Nein, nie.»
Warum er den Job trotz allem gerne macht?
«Wegen der Menschen.»
«Ich weiss nicht, was nach dem Tod kommt. Aber ich glaube, irgendetwas ist da.» Daniel Messer
Andere würden vielleicht von einer Art Berufung sprechen. Von einem Dienst an den Menschen und von der Erkenntnis, dass man – im Gegensatz zu vielen anderen – die Fähigkeiten hat, diesen Dienst zu verrichten. Daniel Messer bleibt da bodenständiger. «Ein toter Mensch ist immer noch ein Mensch», sagt er. Niemand könne wissen, was die Toten alles mitbekämen – schliesslich sei noch keiner zurückgekommen, um davon zu berichten.
Über die Nachfrage, ob er selber glaube, dass die Jenseitigen noch etwas vom Diesseitigen spürten, denkt Messer kurz nach, schlägt die Hände zusammen. «Ich weiss nicht, was nach dem Tod kommt. Aber ich glaube, irgendetwas ist da.» Nur so könne er sich einige Dinge erklären, die er in seinem Beruf erlebe.
Welche Dinge?
«Etwa dass ein krankes Kind an Heiligabend stirbt, genau in dem Moment, in dem sich die Familie zum Essen hinsetzt. Oder dass eine Frau die Treppe runterstürzt und stirbt, zwei Tage vor der Beisetzung ihres Mannes.»
Brigitta Messer nickt bei diesen Worten. Dann erzählt sie, wie ihr Mann an einem Tag Ende Dezember 2018 tot im Bett lag, ohne dass es Anzeichen für eine Krankheit gegeben hatte. Am Abend zuvor hatten sie noch mit Freunden gefeiert. Am Morgen holte Daniel Messer einen seiner Särge aus dem Lager auf der anderen Strassenseite. Er legte seinen Vater hinein und trug ihn aus dem Haus. Wir wissen nie, was morgen ist, hätten sie beim Fest mit ihren Freunden gesagt, erzählt Brigitta Messer. Jetzt, fünf Jahre später im kleinen Büro ihres Sohnes, klingt es wie eine Ermahnung.
Immer im Dienst
Ein paar Stunden nach diesem Gespräch hat Daniel Messer einen Termin auf dem Friedhof von Köniz. Dick eingepackt und mit hochgezogenen Schultern steht dort eine Handvoll Menschen neben der Abdankungshalle, drei Generationen, die Abschied nehmen von der Ältesten der Familie: der Mutter, Grossmutter, Urgrossmutter.
Messer übergibt die Urne an den Friedhofsgärtner. Dann begibt sich die kleine Schar langsam zum Urnenfeld, in dessen Mitte sich ein Loch befindet, eingefasst von einem Kranz aus roten und weissen Blumen. Daniel Messer nimmt einen Korb mit Blütenblättern in die Hand und stellt sich etwas abseits. Wenn der Moment gekommen ist, wird er den Korb den Trauernden reichen, sie werden hineingreifen und mit ein paar zerpflückten Rosen nach vorne treten. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
«Es kann auch mir passieren, dass mir bei einer Bestattung die Tränen kommen», sagt Messer.
Wie er damit umgeht?
«Einfach zulassen. Ich bin ja auch nur ein Mensch.»
Messer sagt von sich, er sei «relativ feinfühlig». Jemand, der ihn von früher kennt, beschreibt ihn als «butterweich innendrin». Brigitta Messer sagt, in der Familie hätten alle ein Helfer-Gen.
So richtig geheuer sind Messer die ruhigen Tage nicht. Einmal habe er sich selbst auf dem Handy angerufen, um zu sehen, ob es noch funktioniere.
Vielleicht wäre der Job ohne ein solches Gen gar nicht zu schaffen. Nicht allein wegen der grausigen Bilder oder der ständigen Konfrontation mit dem Lebensende. Sondern auch, weil die Arbeit im Alltag so viel Raum einnimmt. Daniel Messer ist ständig im Dienst. Jedes Telefongespräch nimmt er an, selbst wenn er dafür auf dem Weg zu einer Bestattung kurz aus dem Auto steigen muss. Ein freies Wochenende erlaubt er sich nur einmal im Monat, wenn er den Pikettdienst an einen Kollegen abtritt.
Einmal meldete sich eine Frau bei Messer, die sich nach einer neuen Bestattungsart erkundigte, einem Sarg aus Pilzsporen, die sich besonders schnell zersetzen. In der Schweiz gibt es diesen Sarg nicht, in Österreich dagegen schon. Also verbrachten Daniel Messer und sein Partner einen Tag ihrer ohnehin geplanten Wien-Ferien auf dem Zentralfriedhof, um sich dort über diese Bestattungsart zu informieren. Der Partner habe es locker genommen, sagt Daniel Messer lachend. «Er ist das mittlerweile gewohnt.»
Dann wiederum gibt es Tage, an denen Messer kaum etwas zu tun hat, das Telefon stumm bleibt. In solchen Phasen widmet sich der Bestatter seinen Hobbys, dem Hornussen und dem Volkstanz. Er ist Mitglied einer Trachtengruppe und Fan des Berner Fussballclubs Young Boys – hauptsächlich wegen dessen Talentscout Stéphane Chapuisat, den Messer seit Kindertagen gut findet. So richtig geheuer sind ihm die ruhigen Tage allerdings nicht. Einmal habe er sich selbst auf dem Handy angerufen, um zu sehen, ob es noch funktioniere, sagt er halb ironisch, halb ernst.
Zurück ins Leben
Auf dem Rückweg von Köniz nach Gümligen fährt Messer bei der Französischen Kirche im Stadtzentrum von Bern vorbei. Hier wird später die Trauerfeier für die Frau stattfinden, deren Urne am Vormittag beigesetzt wurde. Messer stellt eine Fotografie der Verstorbenen auf ein Stativ, platziert ein grosses Blumengesteck auf dem Taufstein und je sieben Windlichter darum herum. Ein Mann und eine Frau üben an der Orgel, ein paar Touristen schiessen Fotos.
Über seine eigene Bestattung mag Daniel Messer nicht so richtig reden. Er wolle kremiert werden, sagt er nur; die Vorstellung, so lange im feuchten Lehm zu liegen, sei ihm unangenehm.
Ob er Angst hat vor dem Tod?
«Manchmal ja, manchmal nein.» Ein Händeklatschen. Man wisse ja «gottlob» nie, was komme; wenn es so weit sei, dann sei es eben so weit. «Oder wie ich jeweils sage: Wenn der Pflock eingeschlagen ist, kommst du nicht mehr drumrum.»
Dann nimmt Messer das Portrait der verstorbenen Frau, stellt das Stativ auf die andere Seite des Taufsteins, tritt einen Schritt zurück und betrachtet das korrigierte Arrangement. Ein Blick zu den Kirchenbänken, wo später die Angehörigen sitzen werden, und ins Dach, wo genau über dem Foto ein Spot angebracht ist.
«Schön so?»
Schön so.
Daniel Messer nimmt seine Tasche und geht zum Auto, das er dank einer Spezialbewilligung direkt vor der Französischen Kirche parken konnte. Er steigt ein und fährt zurück nach Hause. Dort wird der Cockapoo aufgeregt kläffen, sobald im Parterre die Tür aufgeht. Und Brigitta Messer wird Salat und Risotto servieren, später Kaffee mit Guetsli.