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Zeichnung: Temo Pogosiani
Freitag, 24. Juni 2016

Frau Forrer, stehen Sie mit der Familie in Kontakt?

Ich tausche mich regelmässig mit den beiden Töchtern, zehn und zwölf Jahre alt, per Whatsapp aus. Die Familie ist bei Verwandten in einer Stadt in der Nähe von Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, untergekommen.

Wie geht es ihr?

Nach fast fünf Jahren in der Schweiz ist die Situation in Tschetschenien kaum auszuhalten. Die Mädchen müssen Kopftuch und Rock tragen, auch können sie nicht in die Schule, da sie die Sprache kaum sprechen. Dabei sprechen sie fliessend Schweizerdeutsch und sind lernbegierig. Aus meiner gemeinsamen Zeit im Pfarrhaus weiss ich aber auch: Diese Familie kann sich gegenseitig stützen. Ihr Verhältnis untereinander ist sehr liebevoll.

Drei Mal urteilte das Bundesverwaltungsgericht, die Familie sei nach Tschetschenien auszuweisen. Warum wollten Sie dies nicht akzeptieren?

Ich bin nach ausführlichen Gesprächen zur Einsicht gekommen, dass diese Familie in grosser Not ist. Die Eltern haben Todesangst. Und jeder, der die Situation in Tschetschenien kennt, sagte mir, dass die Familie bei einer Rückkehr gefährdet sei. Sogar das Departement für auswärtige Angelegenheiten rät entschieden von Reisen nach Tschetschenien ab.

Was aber antworten Sie jenen, die auf den Rechtsstaat pochen?

Ich habe grossen Respekt vor dem Rechtsstaat und seinen Instanzen, die solche Urteile fällen müssen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass überall dort, wo Menschen arbeiten, Fehler geschehen.

Die Berichterstattung vermittelte den Eindruck, dass ganz Kilchberg geschlossen hinter der Aktion steht. War das tatsächlich so?

Nein, natürlich nicht. Es gab auch Leute, die uns mit dem Kirchenaustritt drohten. Sie fanden, dass wir uns nicht gegen den Rechtsstaat stellen dürfen.

Und, kam es zu Austritten?

Nein. Wir suchten das Gespräch. Es ist erstaunlich, wie Menschen ihre Ansichten ändern, wenn sie erfahren, was die Hintergründe sind. Und im Fall dieser Familie ist die Situation halt nicht so glasklar, wie sie auf den ersten Blick erscheint.

Inwiefern?

Die Familie hätte in einem halben Jahr – nach fünf Jahren in der Schweiz und bestens integriert – ein Härtefallgesuch stellen können. Irgendwie hofften wir, dass die Behörden diese Situation berücksichtigen würden.

Die Ausschaffung verlief in geordneten Bahnen. Kein Widerstand der Familie, keine Aktionen der Bevölkerung. Warum?

Weil es der ausdrückliche Wunsch der Eltern war, dass es – nach bereits zwei früheren Ausschaffungsversuchen unter Zwang – nicht nochmals zu solch einem aufwühlenden Ereignis kommt. Aber natürlich hab ich mir auch überlegt, Widerstand zu leisten, so dass die Polizei hätte das Pfarrhaus stürmen müssen. Zugleich weiss ich von den Kindern, wie sehr sie von den Ereignissen bei den zwei ersten Versuchen traumatisiert sind.

Wie äusserte sich das?

Wenn Kinder frühmorgens aus dem Bett geholt werden, hektisch packen müssen und unter falschem Vorwand an den Flughafen gelockt werden, um dann dort auf den Vater in Handschellen zu treffen, dann sind das traumatische Erfahrungen. Das zeigte sich auch, als bei uns vor dem Pfarrhaus nachts Autotüren zugeknallt wurden: Die Mädchen haben angefangen zu zittern und zu weinen. Die Angst davor, ihren Vater zu verlieren, war bei allen Kindern immer da.

Sie haben öffentlich den Zürcher Regierungsrat und Vorsteher des Sicherheitsdepartements, Mario Fehr, wegen angeblicher Untätigkeit kritisiert. Die Weltwoche warf Ihnen gar vor, dass Sie gegen den SP-Mann Fehr gehetzt hätten.

Von Hetze kann keine Rede sein. Mir ist sehr wohl klar, dass Mario Fehr einen Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts nicht kippen kann. Einzig bei einem Härtefallgesuch hätte er als zuständiger Regierungsrat Spielraum gehabt. Aber dafür fehlten der Familie die besagten fünf Monate.

Was haben Sie sich von Mario Fehr erhofft?

Ich hatte mir nichts Direktes von ihm erhofft, sondern generell von den Behörden. Mario Gattiker, der Chef des Staatssekretariats für Migration und somit verantwortlich für den Fall, hat uns immer das Gespräch verweigert. Es kam dann zu einem einzigen Treffen mit seinem Stellvertreter.

Mit welchem Resultat?

Rückblickend hatten der verantwortliche Kirchenpfleger Markus Vogel und ich das Gefühl, dass das Gespräch nur geführt wurde, damit wir ihnen helfen, dass die Familie freiwillig die Schweiz verlässt. Unsere Argumente für einen Verbleib haben sie nie gross interessiert. Das ist eine bittere Erkenntnis.

Waren Sie naiv?

Rückblickend lässt sich das leicht sagen. Aber ja, vielleicht waren wir naiv. Ich hoffte bis zum Augenblick, als die Familie vor dem Pfarrhaus in den Bus stieg, dass ich eine Meldung erhalten würde, dass sie bleiben können.

Verfolgten Sie eigentlich einen Plan, als Sie der Familie Kirchenasyl gewährten?

Wir erhofften uns einerseits, mit dem Kirchenasyl die Zeit bis zum Einreichen eines Härtefallgesuchs überbrücken zu können. Das andere Ziel war, um jeden Preis eine Zwangsausschaffung zu verhindern. Nun ist die Familie weg – und der Kirchenpfleger Markus Vogel erhielt eine Strafanzeige.

Warum?

Er soll gegen das Ausländergesetz verstossen haben. So hätten wir, als wir die Familie im Pfarrhaus aufnahmen, die Behörde nicht informiert, wo die Familie nun sei. Das ist absurd. In allen Medien haben wir klar gesagt, in welchem Pfarrhaus in Kilchberg sie leben.

Was würden Sie künftig anders machen?

Ich würde alles wieder gleich machen. Allerdings wäre ich den Behörden und ihren Signalen gegenüber sehr viel kritischer. Ich fühle mich als Pfarrerin dem Wächteramt verpflichtet. Es liegt in der Natur der Sache, dass das Evangelium unbequem ist. Mit unserem Handeln soll nicht vergessen gehen, welch immense Konsequenzen die Entscheide der Behörden für eine ganze Familie haben. So weiss ich vom ältesten Sohn, dass er Angst davor hat, sein Vater komme in Tschetschenien bald wieder ins Gefängnis – und er müsse dann für die Familie schauen. Alle Kinder werden in ihrer Entwicklung gestört. Dies sollten sich die Herren Gattiker, Fehr und wie sie alle heissen vergegenwärtigen. Unlängst schrieb mir eines der beiden Mädchen: «Mir ist alles so fremd hier.»

Mit Sibylle Forrer sprach Oliver Demont.