Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autorin: Johanna Wedl
Freitag, 17. Mai 2024

Frau Matter, als Historikerin haben Sie zu Schweizer Sexualstraftätern im 18. Jahrhundert geforscht. Dabei sind Sie auf Akten eines Hexenprozesses gestossen. Was haben Sie erfahren?

Ich bin Barbeli Senn begegnet, 1721 war sie zehn Jahre alt. Das Mädchen kam aus einer Familie, die am Rande der Gesellschaft lebte. Sie zog zwischen Bern und Zürich hin und her und galt als «auffällig». Eines Tages sang eines der älteren Geschwister in der Schule ein Lied, das als so gotteslästerlich galt, dass der Zettel, auf dem das Lied stand, verbrannt wurde, die Asche in ein Kästchen kam und das Kästchen tief in der Erde vergraben werden musste – so schlimm war der Inhalt. Die Familie wurde getrennt. Die älteren Kinder kamen ins Waisenhaus, die zweitjüngste Schwester und Barbeli als Jüngste wurden verdingt. Barbeli wurde von einer Familie zur nächsten weitergereicht. Irgendwann behauptete sie, schwarze Vögel zaubern zu können.

Was löste das aus?

Die Familie rief den Pfarrer zu Hilfe. Der war nach einem Verhör überzeugt, eine Hexe vor sich zu haben. Er brachte das Mädchen in die Stadt Zürich zum Antistes Nüscheler, einem Nachfolger Zwinglis und äquivalent zu der Person, die heute die reformierte Kirchenratspräsidentin ist. Barbeli wurde der Hexerei bezichtigt und ausgepeitscht. Dann wurde erneut ein Geistlicher beigezogen. Diesem gelang es, sie zu einem Widerruf zu bringen und alle Beteiligten davon zu überzeugen, dass es nicht wahr sei, was das Kind sage. Zürich ist haarscharf an einem Kinder-Hexenprozess vorbeigeschrammt. Bezeichnend ist, dass die angeblichen Hexen nicht über ihr Äusseres erkennbar waren, sondern nur an ihren Taten.

Das müssen Sie erklären.

Als Hexen galten Personen, denen magische Kräfte oder übersinnliche Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Ihnen gab man die Schuld an Unheil. Oftmals ging es aber auch darum, unliebsame Personen loszuwerden. Nehmen wir zum Beispiel Elsbetha Bünzli. Auch sie lebte wie Barbeli Senn in Zürich. Bünzli hatte ein uneheliches Kind, das angeblich bei einer Affäre entstanden war; ihren Angaben nach war es eine Vergewaltigung. Jedenfalls lebten sie und ihr Sohn in einem kleinen Häuschen im Wald, das ein Sturm zerstörte. Daraufhin musste sie zu ihrer Schwester in die Stadt ziehen. Dort kam es zu sozialen Friktionen. Es gab heftige Streitigkeiten, wahrscheinlich auch, weil beide Frauen Alkoholikerinnen waren. Natürlich waren die zwei nicht die nettesten Nachbarinnen. Aber Elsbetha wurde nicht nur als Randständige ausgegrenzt, sie wurde hingerichtet. Menschen wie sie waren gesellschaftlich nicht geduldet und störten.

Sylvie Fee Matter arbeitete nach der Matur als Verkäuferin im Detailhandel, bevor sie Geschichte studierte. Sie liess sich zur Lehrerin ausbilden und unterrichtet heute an Gymnasien Geschichte und Philosophie. Nebenberuflich arbeitet sie als Fotografin. Zudem ist Matter seit ihrer Jugend aktive Politikerin. Sie war in der Juso und ist seit über zwanzig Jahren SP-Mitglied. Matter war anderthalb Jahre Stadtzürcher Gemeinderätin, seit bald zehn Jahren sitzt sie im Zürcher Kantonsrat. Noch bis im Frühsommer ist sie Zürcher Kantonsratspräsidentin. Die 42jährige wohnt in der Stadt Zürich und ist Mutter zweier Töchter.

Waren alle Menschen, die der Hexerei bezichtigt wurden, randständig?

Nein. Eine Ausnahme ist etwa Agatha Studler. Sie war die reichste Frau Zürichs. Studler war mehrfach verheiratet, mehrfach versuchten Männer erfolglos, sie um Geld oder Ruhm zu bringen. Sie war Chorherrentochter und zählte zum obersten Stand. Heinrich Bullinger bezeichnet sie in einem Brief als «wahre Hexe». Ihr «Verbrechen» war einzig und allein, sehr eigenständig zu sein, extravagante Kleider zu tragen und viel Geld zu besitzen. Studler war zu mächtig, deshalb wollte man sie loswerden. Als sie im Prozess merkte, nicht lebend davonzukommen, gestand sie Hexerei. Sie war fünfzig Jahre alt, als sie 1546 in der Limmat ertränkt wurde.

Vor welchem Hintergrund spielten sich diese Prozesse ab?

Interessant ist, dass sich zu jener Zeit die Epoche wandelte: Aus europäischer Sicht wurde ein neuer Kontinent entdeckt, gleichzeitig veränderte sich das Klima. Es kam zur kleinen Eiszeit. Starkregen zerstörte Ernten, Menschen hungerten. Geld wurde enorm entwertet, die Armut war sehr hoch. Die Leute suchten nach Erklärungen für Phänomene, die sie nicht verstanden. Es ist viel einfacher, eine Person des Unheils zu bezichtigen und sie loszuwerden, als wissenschaftliche Ursachen zu eruieren. Das gilt auch heute noch.

«Wir tun diese Menschen gern als Spinner ab. Das ist einfach. Es ist aber auch gefährlich.»

Wie meinen Sie das?

Wir sind zwar weit weg von einer Krisenzeit, wie sie die Menschen um 1500 erlebten. Aber auch wir sind konfrontiert mit einer Klimaerwärmung, die in einigen Ländern Hunger oder lebensbedrohliche Wasserknappheit auslöst. Wir leben in einer komplexen Welt. Ereignisse wie die Corona-Pandemie sind schwer zu verstehen. Dennoch suchen wir nach einer Erklärung und ziehen einzelne Personen als Sündenböcke heran – zum Beispiel Bill Gates. Ich sehe Parallelen zwischen den heutigen Verschwörungstheoretikern und den früheren Hexenverfolgungen.

Welche?

Die Stereotype, die Hexen angelastet worden sind, wiederholen sich bis in die Gegenwart. Dabei werden Vorwürfe konstruiert und immer wieder verbreitet, obwohl sie real nicht existieren. Etwa das mit den Kindstötungen: Beim sogenannten Pizzagate, hinter dem die Gruppe QAnon steht, ist der damaligen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton im US-Wahlkampf vorgeworfen worden, sie gehöre zu einer Elite, die im Keller einer Washingtoner Pizzeria Kinder festhalte und foltere. Ihr angebliches Ziel: durch Blutabzapfen ein Stoffwechselprodukt gewinnen, das dem Alterungsprozess entgegenwirkt. Wir tun diese Menschen gern als Spinner ab. Das ist einfach. Es ist aber auch gefährlich.

Wir sollten Verschwörungstheoretiker also ernst nehmen?

Die Theorien dieser Menschen nehme ich nicht ernst, wohl aber ihre Ängste. Viele davon sind irreal. Wir sollten versuchen, sie aufzulösen. Als meine Tochter drei war, sagte sie mir vollen Ernstes, sie fürchte sich davor, dass nachts ein Zombie durch das Fenster in ihr Zimmer gelange. Auch wenn ich als Erwachsene weiss, es wird keiner kommen, muss ich ihre Angst ernst nehmen und Vertrauen schaffen. Zu sagen: «Das gibt es nicht», hilft nichts. Wir haben dann Zombie-Abwehr-Fenster «eingebaut», die es auch dort gab, wo sie auswärts übernachtete. Sie brauchte den Schutz in dieser Form.

Bei Kindern helfen solche Tricks. Gegen die irrationalen Ängste Erwachsener anzukommen ist weitaus schwieriger.

Trotzdem sollten wir dagegenhalten, wenn jemand im Bekanntenkreis oder in der Verwandtschaft mit wirren Theorien beginnt. Diese Diskussionen sind anstrengend, und es ist echt mühsam, zu widersprechen und aufzuklären. Neunzig Prozent der Gespräche sind frustrierend, weil die Leute mir nicht glauben. Es wäre einfacher, den Kontakt zu diesen Menschen abzubrechen. Aber das ist keine Lösung, weil es zu mehr gesellschaftlichem Ausschluss führen würde.

Was sagen Sie in solchen Diskussionen konkret?

Zunächst recht simpel: «Nein. Das stimmt nicht. Es gibt keine Verschwörung der Elite. Es werden keine Kinder im Untergrund festgehalten, um ihr Blut abzuzapfen.» Ich habe die Hoffnung, irgendwann zu diesen Menschen durchzudringen, wenn ich etwas entgegne. Zudem finde ich es zentral zu sagen: «Deine Ansicht ist eine totale Katastrophe, aber du als Mensch bist mir wichtig. Ich biete dir Hand, die Richtung zu wechseln.» Ich erinnere an die alkoholkranken Schwestern: Sie störten, und ihr Umfeld wollte sie deshalb loswerden. Das ist bequemer und einfacher als zuzugeben, die haben ein Alkoholproblem und wir als Gesellschaft haben darin versagt, ihnen zu helfen. Unbequeme Menschen schliessen wir gerne aus. Ich finde: Wir dürfen solche Menschen nicht aufgeben, sondern müssen wieder mehr Solidargemeinschaft werden, einander mehr helfen und stärker füreinander einstehen.

«Wir stellen gern Denkmäler auf, aber mit Mahnmälern tun wir uns schwer.»

Wer sind — im übertragenen Sinn — die heutigen Hexen?

Das ist schwierig zu beantworten. Es können Impfgegner genauso sein wie Menschen, die sich als queer bezeichnen. Kürzlich las ich einen Beitrag in einem sozialen Netzwerk. Darin stand, Männer hätten ein sehr viel höheres Suizidrisiko und Schuld daran sei der «woke Gender-Gaga-Wahn». Der Fakt an sich ist tragisch. Schuld daran ist aber der Umstand, dass Männer weniger lernen, Gefühle zu zeigen und darüber zu sprechen. Als Zürcher Kantonsparlamentarierin beobachte ich kritisch, wie Exponenten politischer Parteien miteinander umgehen.

Wie denn?

Man macht sich ständig ein bisschen fertig und ist ein bisschen fies zueinander. «Es ist als Witz gemeint», wird nach einem blöden Spruch locker gesagt, aber das Erlebnis kommt trotzdem vor dem Einschlafen wieder – und sicher nicht als etwas Positives. Das tut unserer Seele nicht gut. Und weil mich dieser Umgang stört, spreche ich das an. Oft kommt im nachhinein jemand auf mich zu und sagt: «Stimmt, das ist toxisch.» Es geht um ein Verhalten, das auch den Männern nicht guttut.

Sie sind nicht nur Politikerin, sondern auch Präsidentin von Pro Mahnmal, einem Verein, der sich dafür einsetzt, dass in der Stadt Zürich ein Mahnmal für die Opfer des Hexenwahns geschaffen wird. Was hat es damit auf sich?

Wir stellen gern Denkmäler auf, aber mit Mahnmälern tun wir uns schwer – weshalb? Als ich Stadtzürcher Gemeinderätin war, habe ich gemeinsam mit Esther Straub, der jetzigen reformierten Zürcher Kirchenratspräsidentin und damals auch Gemeinderätin, einen Vorstoss eingereicht. Wir wollen, dass die 84 Menschen, die in Zürich Hexenprozessen zum Opfer gefallen sind, nicht vergessen gehen. Wir wollen auch, dass so etwas nie mehr passiert.

Der Mensch ist des Menschen Teufel

Gefoltert, enthauptet, verbrannt: Der Hexenwahn hat viele Mens...

April 2022
Andreas Unger
Christine Rösch

Das liesse sich auch für viele andere Vergehen fordern.

Absolut. An dem Haus, in dem die erste Zürcher Synagoge war, ist eine Plakette. Darauf steht, dass es einst angezündet worden ist. Es gehörte einer jüdischen Familie. Was übrigens nicht vermerkt ist: Rudolf Brun, Zürichs erster grosser Bürgermeister, konnte es günstig kaufen. Auch für die Täufer gibt es Plaketten. Aber die Frauen, die während der Hexenprozesse umgebracht worden sind, die lässt man weg. Zürich will die Stadt «entmöbeln», das heisst, es sollen neue Arten der Erinnerung entstehen. Für mich muss eine Person nicht als Reiter auf einen Sockel gestellt werden. In den USA kennt man «Counter-Monuments», das ist ein Mahnmal im Raum, das eine Irritation auslöst. Es kann auch ein Erlebnisrundgang sein. Eine wunderbare Variante finde ich etwa Stolpersteine, die an die Ermordung jüdischer Menschen erinnern. Man stolpert darüber und sieht, wie Leute aus der Mitte der Gesellschaft gerissen worden sind. Man muss sich verneigen, um sie zu betrachten. Mahnmäler leisten zudem einen Beitrag dazu, dass die Forschung nicht stillsteht, sondern weitergeht. Das hilft uns, aus Vergangenem zu lernen.

Falls es kein Hexen-Mahnmal gibt, welche Erinnerungskultur wünschen Sie sich?

Die Personen, die hingerichtet worden sind, sollen nicht zu etwas gemacht werden, was sie nicht waren. Die sogenannten Hexen waren keine Hüterinnen einer alten, germanischen Religion, die sich verschworen hatten und sich gegen die Kirche auflehnten. Die Nationalsozialisten zum Beispiel haben sie zu urdeutschen Rassenmüttern stilisiert. Das ist ein Missbrauch. Dadurch erfahren die Opfer ein zweites Mal Leid.