Die Zeit der Predigt ist vorbei. Der Protestantismus ist mit seiner bleibenden Fixierung auf den Sermon heute mehr seiner Tradition verpflichtet als den religiös suchenden oder glaubenden Menschen. Doch niemand traut sich, ihr den Randplatz zuzuweisen, der ihr im 21. Jahrhundert zukommen sollte. Es wird um der Predigt willen gepredigt. Die religiöse Rede, allsonntäglich und allenthalben, scheint alternativlos zu sein. Zumindest für die, die dafür verantwortlich sind, dass in jeder Dorfkirche und jedem Münster mindestens einmal die Woche eine Predigt zu hören ist. Doch meist gibt sie Antworten auf Fragen, die kaum einer stellt, und will ein Bedürfnis befriedigen, das in dieser unserer Mediengesellschaft kaum noch einer zu haben scheint: Toll, endlich mal wieder in Ruhe fünfzehn Minuten dasitzen und eine abgelesene Rede hören!
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Das war jahrhundertelang anders. Die Kultur, in der das Christentum entstand, war eine mündliche. Die Gleichnisse und Reden Jesu wurden über Jahrzehnte weitererzählt, bis sie verschriftlicht wurden. Vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu erfuhren die ersten Christen durch die Predigt. Anders als heute hörten Menschen in Predigten also etwas für sie völlig Neues. Was in der Predigt gesagt wurde, war von existenzieller, lebensverändernder Bedeutung. Eine durch und durch christliche Gesellschaft zu erneuern war wiederum das Ziel der Predigtbewegungen des Mittelalters. Auf einige Reformbewegungen folgte die Reformation und rückte die Predigt in der Landessprache ins Zentrum des Gottesdienstes. Da steht sie – weithin unhinterfragt – fünfhundert Jahre später noch immer. Eine Predigt dauerte damals richtig lange, meist über eine Stunde. Dass sie nicht langweilte, lag auch an der allgemeinen Informationsarmut der einfachen Bevölkerung. In der Reformationszeit war die Predigt am Sonntag das mit Abstand Interessanteste und Elaborierteste, was eine Magd in der ganzen Woche zu hören bekam. Während der Aufklärung unterrichteten Pfarrer von der Kanzel die Landbevölkerung auch in Viehzucht oder Hygiene. Heute braucht niemand mehr die Predigt, um unterhalten oder informiert zu werden. Und wer unbedingt wissen will, was Paulus zu Speisegeboten sagt, der googelt das halt. Eine Frage, die heute viele Christen wach liegen lässt, ist das aber nicht mehr. Ist die entsprechende Stelle jedoch der vorgegebene Predigttext, sehen sich etliche Prediger in der Situation, ein Problem formulieren zu müssen, das keiner hat, um darauf Antworten zu finden, nach denen niemand fragt.
Nun kommen der Predigt heutzutage noch weitere Aufgaben zu: Sie soll Glauben wecken und erweitern, einen Geschmack fürs Unendliche kultivieren. Predigt könnte Anleitung zum guten Leben geben und sollte vor allem eins: von der Sorge befreien, vor Gott, mir und den anderen nicht gut genug zu sein. Wenn dies in der Predigt nicht geschieht, muss sie anderen Formen weichen. Das Prinzip «form follows function» sollte nicht nur für das Design von Haushaltsgeräten und Häusern gelten, sondern auch für die Gestaltung kirchlichen Lebens. Und die Form der Predigt ist nun einmal passé. Ähnlich wie beim Klimawandel gilt: Je früher wir das als Kirche einsehen, desto mehr (religiöses Leben) können wir retten.
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