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Freitag, 06. Oktober 2023

Wenn um das Jahr 1770 in der damals noch kleinen Stadt Boston jemand gestorben war, standen die Chancen gut, dass die Trauernden mit einem Gedicht getröstet wurden. Die Bostoner waren fromme Protestanten und durch ihre Kirchgemeinden eng miteinander verbunden. Ob es um ein Neugeborenes ging, einen Bürger aus der Mitte des Lebens oder den Pfarrer einer der Kirchen: Das Leid wollte geteilt und artikuliert sein. Und Boston hatte das Glück, dass oft sehr rasch nach Bekanntwerden eines Todesfalls handschriftliche Verse zirkulierten, die individuell auf den Verstorbenen eingingen.

Beim Tod eines angesehenen Kirchenmitglieds oder Pfarrers folgte der poetische Klageruf, die sogenannte Elegie, einer bestimmten Dramaturgie. Zunächst wurde die «Flucht» des Verstorbenen aus den irdischen Sphären beklagt und sein frommes Leben und seine gute Taten gelobt. Dann wurde beteuert, dass seine Seele gewiss bereits auf dem Weg in ihr künftiges seliges Zuhause im Himmel ist.

Daraus folgte, dass im Grunde gar keine Trauer und Wehmut angezeigt seien, sondern vielmehr Freude für den glücklichen «Heimgebrachten», der den Lohn für sein tugendhaftes Leben bezog. Am Ende stand eine Ermahnung an die Hinterbliebenen: Man folge dem Beispiel des frommen Menschen, um dereinst mit den gleichguten Heilsaussichten zu sterben.

Die poetische Stimme, welche die Trauergemeinde auf diese kleine meditative Reise durch Trauer, Lob, Erbauung und Ermahnung mitnahm, wusste nicht nur, welche liturgischen Knöpfe sie drücken musste. Sie vermochte ihre Botschaft auch virtuos in elegante und feierlich voranschreitende Reimpaare zu kleiden, in die sogenannten Heroic Couplets. Diese waren der belesenen Gesellschaft etwa von der Lektüre von Alexander Popes Ilias-Übersetzung bekannt.

Später formulierten Intellektuelle Vorwürfe gegen Wheatley: Wieso redet, dichtet, betet und predigt sie in der Sprache ihrer Besitzer und eignet sich deren Tradition und Religion an?

Wer kann so etwas, wer hat das Talent und die Bildung, wer hat die Zeit und Musse? Man müsste eine Person aus gutem Haus vermuten, die ehrgeizige Tochter eines respektablen Bostoner Bürgers etwa. Doch in Boston war der aussergewöhnliche Umstand längst allseits bekannt: Die Elegikerin war Phillis Wheatley, die brillante schwarze Haussklavin der Familie Wheatley in der King Street. Erst wenige Jahre zuvor war sie als Achtjährige auf einem Sklavenschiff aus Westafrika angekommen.

Bereits im frühen Teenageralter las sie antike Epen und schrieb Verse im Stil der britischen Dichter der Zeit. Die Wheatleys liessen Phillis nicht nur ihren Lektüren und Studien nachgehen, sondern nahmen sie auch auf Besuche mit, auf denen das schwarze Mädchen tadellos mit den Geistlichen und Gelehrten konversierte, jedoch stets in bescheidener Zurückhaltung und nur auf ausdrückliche Aufforderung.

Eine Sklavin nutzte ihre Chance

Diese ein wenig märchenhafte Geschichte von Phillis Wheatleys Aufstieg hat späteren Generationen von schwarzen Dichtern und Intellektuellen im Lauf der Zeit immer schlechter ins Weltbild gepasst. Hat diese schwarze Frau ihre Brüder und Schwestern und ihre afrikanische Herkunftskultur denn ganz vergessen? Wieso begehrt sie nicht auf gegen ihre Unterdrücker? Wieso redet, dichtet, betet und predigt sie in der Sprache ihrer Besitzer und eignet sich deren Tradition und Religion an?

Diese Vorwürfe, die in den 1960er Jahren von Anhängern des Black Arts Movement besonders aggressiv formuliert wurden, haben ihre Berechtigung und sind im historischen Kontext durchaus verständlich. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Benachteiligung durch die weisse Herrschaftskultur und aufgrund der Frustration über ausbleibende Fortschritte wollten schwarze Künstler radikal eigene Wege gehen. Alles Weisse lehnten sie ab.

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200 Jahre zuvor hatte Phillis Wheatley diese Möglichkeit jedoch nicht. Als Sklavin in einer weissen Gesellschaft hatte sie wenige Optionen. Ihre eine Chance ergriff sie. Dadurch dass sie scheinbar zustimmend in die Gesellschaft, ihre Religion und ihre Tradition einrückte, konnte sie überhaupt ihre literarische Stimme erheben. Sie spielte ihre Rolle so gut, dass sie den Support der weissen Familie Wheatley und deren grossen, bis nach England reichenden Netzwerks gewann.

Zu Berühmtheit weit über Boston hinaus kam Wheatley, als sie 1770 eine Trauerelegie auf den Methodistenprediger George Whitefield schrieb, die als Einblattdruck veröffentlicht wurde. Als der britische Missionar, dessen emotionale Predigten auch in Amerika grossen Anklang fanden, in Massachusetts überraschend verstarb, nutzte Wheatley die Gelegenheit.

Sie betrauerte und würdigte den Missionar, und sie flocht eine Beileidsbekundung an die englische Gräfin von Huntingdon ein, eine enge Vertraute Whitefields und einflussreiche Philanthropin. Huntingdons Unterstützung sollte drei Jahre später entscheidend dazu beitragen, dass Wheatleys epochaler Gedichtband «Poems» in London publiziert werden konnte.

In der Elegie auf Whitefield zeigt sich Wheatley als mutige, eigenständige Dichterin, die keineswegs bloss ihrem weissen Umfeld nach dem Mund redet. Sie fokussiert ganz auf den Umstand, dass Whitefield seine Predigten ausdrücklich für Menschen aller Schichten und Herkünfte hielt. Zunächst schreibt sie ihm den Wunsch zu, alle Menschen in Amerika mögen Gottes Gnade empfangen:

Er bat, dass jedes Herz die Gnade trage,
Auf dass Amerika einst überrage;
Dass jede Gnade mög in hellem Schein
Im Handeln seiner Jugend sichtbar sein.

Jedes Herz sei für die Gnade empfänglich, ob es nun in einem weissen oder in einem schwarzen Körper schlage. Schliesslich schlüpft die Dichterin gleichsam selbst in die Rolle des berühmten Predigers und spricht aus seinem Mund zu den Menschen über Jesus Christus:

Nehmt ihn allein, ihr Sünder in der Not,
Nehmt ihn, ihr Hungernden, als euer Brot;
Ihr Durstenden, kommt hin zum Lebensgrund,
Ihr Prediger, macht ihn zur frohen Kund;
Liebe Amerikaner, nehmt ihn nur,
Sprach er, und tragt ihm eure Klagen vor:
Nehmt, Afrikaner, euer harrt sein Heil,
Er heisst der Heiland ohne Vorurteil:
Vom Urquell seines Bluts erlöst und rein,
Sollt ihr Sohn, König, Priester Gottes sein.

Phillis Wheatley wirft alles in die Waagschale, um deutlich zu machen, dass die «Afrikaner» die gleichen Heilsansprüche und Heilsaussichten haben wie die Weissen. Den Heiland der Weissen macht sie zum Heiland aller und gibt ihm kurzerhand einen neuen Titel, den «Heiland ohne Vorurteil».

Wenn Wheatley im Anschluss «wir» sagt, dann spricht sie sowohl als Amerikanerin wie auch als Afrikanerin. Es ist die Geburtsstunde der afroamerikanischen Identität, für die es noch kein Wort gibt. Sie ist aufs engste verknüpft mit dem «Heiland ohne Vorurteil» und mit dem Zugang der Schwarzen zur Religion.

Die zwiespältige Rolle der Religion

Die Teilhabe am religiösen Leben ebnete Phillis Wheatley den Weg zur Teilhabe am intellektuellen und literarischen Leben. Sie erlaubte ihr, sich zu artikulieren und künstlerisch zu entfalten. Ihr Buch «Poems on Various Subjects, Religious and Moral» sollte das erste grosse literarische Kunstwerk eines schwarzen Menschen werden. Es widerlegte das weitverbreitete rassistische Vorurteil, dass afrikanischstämmige Menschen nicht zu intellektuellen und künstlerischen Leistungen in der Lage seien, die jenen der europäischstämmigen ebenbürtig sind.

Der Band war ein Meilenstein im Kampf gegen die Abwertung und Ausbeutung von nichtweissen Menschen und wurde zu einem zentralen Dokument in der Debatte um die Abschaffung der Sklaverei. So zitierte der führende englische Sklavereigegner Thomas Clarkson ausgiebig aus Wheatleys «Poems». Und Voltaire erwähnte sie als Beispiel, um die These zu entkräften, es gebe keine schwarzen Dichter.

Freilich liessen die Befürworter einer rassistischen Gesellschaftsordnung nichts unversucht, um Wheatleys Leistung herunterzuspielen. Ausgerechnet Thomas Jefferson, der Verfasser der US-Unabhängigkeitserklärung, bezeichnete ihre Lyrik als «unter der Würde der Kritik» – eine Verunglimpfung, die lange nachhallen sollte.

Der Zugang der Schwarzen zur christlichen Religion war der allmählichen Überwindung der Sklaverei also förderlich; zumindest mit Blick auf die Literarisierung, Bildung und Teilnahme an öffentlichen Debatten. Indessen war die Rolle des Christentums zwiespältig. Denn weit verbreitet war auch der Standpunkt, dass die Christianisierung der von Afrika nach Amerika verschleppten Menschen die Sklaverei legitimiere – dass die Sklaverei sozusagen ein Instrument der Mission sei.

Wheatley selbst brachte immer wieder ihre Dankbarkeit über die «Gnade Gottes» zum Ausdruck, die sie aus ihrer Sicht aus der heidnischen Finsternis Afrikas in die christliche Erleuchtung Amerikas gebracht hatte. In ihrem berühmtesten und umstrittensten kurzen Gedicht «Über die Verschleppung von Afrika nach Amerika» bringt sie die problematischen Thesen in eine prägnante Form:

Gnade entriss mich meinem Heidenland
Und lehrte meine tumbe Seel Verstand:
Es ist ein Gott, es ist ein Retter gar.
Ich wusst zuvor nicht, was Erlösung war.
Wir Schwarzen werden meistens nur verhöhnt.
«In Teufelsfarb ist ihre Haut getönt.»
Vergesst nicht, Christen, Schwarze, schwarz wie Kain,
Können sich läutern, können Engel sein.

Wheatley hielt zeitlebens an der Überzeugung fest, dass es die göttliche Vorsehung war, die sie aus Afrika nach Amerika und vom Heidentum zum Christentum geführt habe. Das äusserte sie auch in privaten Briefen.

Ob aber der spirituelle Gewinn der Verschleppten die Verschleppung rechtfertigt? Ob die Mission die Sklaverei legitimiert? Mit diesen Fragen konnte auch die weisse Familie Wheatley nicht leicht fertigwerden. Susanna Wheatley engagierte sich in der Mission und galt als eine äusserst fromme und wohltätige Frau. Ihre ausserordentliche Behandlung und Förderung von Phillis legt nahe, dass sie auch ihren Umgang mit ihrer Sklavin in einem missionarischen Zusammenhang sah. Was sie über die Legitimität ihres Sklavenbesitzes dachte, wissen wir nicht. Als Phillis nach Susannas Tod freigelassen wurde, soll dies auch auf ihren Wunsch geschehen sein.

Man sieht: Wheatleys Gedicht als blosse Selbsterniedrigung eines Opfers zu lesen wird ihm in keiner Weise gerecht.

«Über die Verschleppung von Afrika nach Amerika» sagt nichts explizit über die Sklaverei. Aber die zweite Hälfte des Gedichts zwingt zur Reflexion eines weiteren pseudo-theologischen Arguments, das damals gängig war: dass die schwarze Haut der Afrikaner sichtbares Zeichen ihrer metaphorischen Schwärze, ihrer Sündhaftigkeit sein sollte. Damit ist die Strategie angesprochen, die Sklaverei durch das rassistische Argument der moralischen Minderwertigkeit der Schwarzen zu legitimieren.

Doch auf diese in direkter Rede zitierte Niederträchtigkeit folgt eine Erinnerung. Zunächst liest sie sich wie die Botschaft der Whitefield-Elegie: Die Schwarzen können ebenso erlöst werden wie die Weissen, sie sind also spirituell gleichwertig. Sanft gegen den Strich gelesen, lassen sich die beiden Schlusszeilen jedoch auch so verstehen: Christen, ob nun schwarze oder weisse, sind allesamt sündig und erlösungsbedürftig. Damit ist man näher bei einer plausiblen calvinistischen Position: Alle Menschen sind Sünder. Und jeder von ihnen kann erlöst werden – aber jeder von ihnen könnte auch verdammt werden.

So liest sich das zunächst so dankbar und demütig scheinende Gedicht plötzlich als eine Ermahnung, ja eine eigentliche Predigt, die zur Besinnung aufruft: Wer wird wohl unter den Geretteten sein? Etwa jene, welche die Schwarzen verhöhnen und verteufeln? Die ihre Brüder versklaven? Man sieht: Wheatleys Gedicht als blosse Selbsterniedrigung eines Opfers zu lesen wird ihm in keiner Weise gerecht.

Vielmehr zeigt es in aller Prägnanz, wie es Phillis Wheatley gelang, mitten in einer weissen Gesellschaft mit Hilfe von Religion und Bildung ihre kritische schwarze Stimme zu erheben und den Grundstein für eine intellektuelle afroamerikanische Identität zu legen. Es ist ein Kunststück, das ihr dank ausserordentlichem Talent und grosser Entschlossenheit glückte – einer Entschlossenheit, die vielleicht ohne ein tiefes Gefühl der Gnade nicht denkbar gewesen wäre.

Phillis Wheatley: «Nie mehr, Amerika! Gedichte und Briefe.» Herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Florian Bissig. Friedenauer Presse, 2023; 188 Seiten; 30 Franken.

Das Titelbild zeigt das Portrait von Phillis Wheatley (1753–1784), wie es in ihrem Buch «Poems on Various Subjects, Religious and Moral» gedruckt wurde. (Keystone / Science Photo Library)