Es gibt kaum eine Frage, die Christoph Sigrist noch nicht gestellt wurde. Und es gibt, so scheint es, kaum eine Frage, die ihn in Verlegenheit bringt. Hört man sich in Pfarrkreisen nach Meinungen über Christoph Sigrist um, ist er jener Pfarrer, der «überall auftritt», der «überall Kontakte hat» und «jedes Interview annimmt».
Als Pfarrer des Zürcher Grossmünsters, jener Kirche, von deren Kanzel auch schon Reformator Huldrych Zwingli predigte, obliegt Christoph Sigrist die Verantwortung für die Öffentlichkeitsarbeit. Kaum eine Schweizer Kirche ist so berühmt und von solch weltgeschichtlicher Relevanz, wie es das Grossmünster ist. Sigrist nutzt dieses Prestige mitunter für politische Anliegen. So fand am Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine am 24. Februar 2023 im Grossmünster eine Gedenkfeier statt. Hunderte Menschen, die davor in den Strassen von Zürich für den Frieden demonstriert hatten, nahmen teil. Im Anschluss war es Christoph Sigrist, der in der «Tagesschau» zu Wort kam und seine Betroffenheit ausdrückte.
Durch seine Auftritte hat er die öffentliche Rolle der Kirche in den vergangenen 20 Jahren weit über Zürich hinaus geprägt. Sigrist kennt sie alle, die Grandes Dames und die Grandseigneurs der Schweizer Politik- und Kulturszene, die Chefs und Chefinnen von Polizei und Feuerwehr und die Redaktionen der führenden Schweizer Medienhäuser. Seine Effizienz und sein Netzwerk machen ihn zu einem begehrten Projektpartner. Gleichzeitig bringt ihm das Kritik ein. Er überfordert, polarisiert und eckt an – stets im Namen der Diakonie und des kirchlichen Auftrags.
«Den Kindern erzählte er so lebendig aus der Bibel, als hätte Gott selbst auf den Hügeln des Toggenburg gewohnt.» Matthias Müller-Kuhn, langjähriger Pfarrkollege
An diesem Januarmorgen geht eine rote Sonne über der Zürcher Altstadt auf. Während draussen die Trams und Fahrräder die Hektik einer neuen Arbeitswoche herbeiklingeln, steht Christoph Sigrist vor den Chorfenstern im Grossmünster, die im beginnenden Tageslicht rot und blau leuchten. «Schön, diese Fenster, nicht?» sagt er, fast als würde er sie zum ersten Mal sehen.
Sigrist trägt Jeans und Pullover. Er ist gross, mit breiten Schultern, das ergrauende Haar zur Seite gescheitelt und der Bart gerade lang genug, dass er schon als Bart durchgeht, aber noch etwas verwegen Unrasiertes an sich hat. Sigrist ist einer, der von einem Termin zum nächsten eilt und die Pausen dazwischen nutzt, um Dinge in Gang zu setzen. Zeit für Eitelkeiten hat er nicht – bisher zumindest.
Denn im Herbst 2022 kündigte Christoph Sigrist überraschend an, 2024 von seiner Arbeit am Grossmünster zurückzutreten. Aber kann einer, der sich selbst in Zwinglis Fussstapfen sieht, wirklich Abschied nehmen? Was wird er tun, wenn er nicht mehr für Flüchtlinge weibelt und Literaten zu Gesprächsabenden in die Kirche lädt? Und welches Erbe hinterlässt Christoph Sigrist seiner Nachfolge am Grossmünster?
Im Schlafsack neben der Orgel
Der Wunsch, Pfarrer zu werden, sagt Sigrist, sei eine Berufung gewesen. Dann erzählt er eine Anekdote, die eher nach Zufall klingt.
Christoph Sigrist ist das jüngste von drei Kindern. Im Alter von fünf Jahren kann er bereits lesen, sein Lieblingsbuch: «Paddington», die Geschichte eines vorwitzigen Londoner Bärs, der immer ein Marmeladenbrot unter seiner Regenmütze versteckt hat. Eines Morgens, es ist das Jahr 1968, probiert Christoph Sigrist das auch.
Sigrist erzählt, dass die Kindergärtnerin in Ohnmacht gefallen sei, als ihm plötzlich ein rotes Rinnsal über das Gesicht gelaufen sei, er mit dem Finger über die Flüssigkeit gewischt und diesen genüsslich abgeschleckt habe. Die Spur auf seiner Wange: kein Blut aus einer unter der Schirmmütze versteckten Kopfwunde, sondern bloss Himbeermarmelade.
Die erboste Kindergärtnerin ruft seine Mutter an, die ihren Sohn abholt und ausschimpft. Der Sohn weint, und durch den Schleier seiner Tränen, erzählt er 55 Jahre später, habe er zuhause durch das Küchenfenster einen Hut vorbeischweben sehen. Das sei der Herr Pfarrer, erklärt ihm die Mutter.
«Ich will auch einen solchen Hut!»
«Dann musst du Pfarrer werden.»
Gut 20 Jahre später tritt Sigrist, 25 Jahre alt, seine erste Pfarrstelle in Stein im Toggenburg an. Er lächelt, als er von der «kleinsten Berggemeinde St. Gallens» erzählt, und wirkt ein bisschen stolz auf den Superlativ. Der «Züri-Bueb», wie Sigrist sich gerne selber nennt, hilft den Bauern beim Heuen und wälzt sich mit dem späteren Schwingerkönig Nöldi Forrer, den er 1994 konfirmiert, im Sägemehl. Sigrists langjähriger Pfarrkollege Matthias Müller-Kuhn, der heute bei der Zürcher Kirche Pfarrer der Gehörlosengemeinde ist, erinnert sich: «Den Kindern, die barfuss von den Höfen in den Gottesdienst kamen, erzählte er so lebendig aus der Bibel, als hätte Gott selbst auf den Hügeln des Toggenburg gewohnt.»

Handshake mit dem Dalai Lama anlässlich der Friedensgebete 2016 im Grossmünster. (Bild: Ennio Leanza/Keystone)
1995 wechselt Sigrist an die Stadtkirche St. Laurenzen in St. Gallen. Nebenher arbeitet er als Armeeseelsorger und Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Nach und nach bringt er sich zudem in verschiedene diakonische Stiftungen ein. 2003 tritt Sigrist schliesslich als 33. Nachfolger Zwinglis das Amt des Grossmünsterpfarrers an. Eine 60-Prozent-Stelle, nur so bleibt ihm Zeit für seine vielen anderen Projekte und die Familie, die er und seine Frau in dieser Zeit gegründet haben.
Das intensive Arbeitspensum hat seinen Preis. Seine Familie bleibt im Zürcher Unterland wohnen. Sigrist pendelt, aber oft muss er den Tag früh beginnen und hat bis spätabends mit Sitzungen und Kirchengeschäften zu tun. Er übernachtet deshalb in seinem Büro hoch oben über den Dächern von Zürich. Während der Monate, wo er wegen Renovationsarbeiten in der Sakristei des Grossmünster sein Büro hat, nimmt er oft den Schlafsack und schläft neben der Orgel auf der Empore, wenn er mal wieder den letzten Zug nach Hause verpasst.
Ausgerechnet er, der als unkonventioneller Pfarrer gilt, entscheidet sich mit seiner Frau für ein konservatives Familienmodell, in dem seine Arbeit immer etwas mehr Zeit einnimmt, als es die Familie tut. Sein Lohn, sagt er, gehe auf das Konto seiner Frau, die ihm ein Taschengeld auszahle.
Schlüsselmomente
Sigrist hat sich mittlerweile von den farbigen Kirchenfenstern gelöst und ist in die Sakristei gegangen. Er setzt sich an den grossen Holztisch, hinter ihm an der Wand ein Portrait von Zwingli, das streng auf die Besucher hinunterblickt. Der Raum ist für ihn ein Ort der Ruhe und Besinnung. Ein letztes Mal durchatmen, bevor er in den vollen Kirchenraum tritt, mit nichts als seinen Worten. An der Wand neben der Tür steht der Satz geschrieben: «Tut um Gottes willen etwas Tapferes.» Für Christoph Sigrist ein Leitmotiv seines Lebens. «Wenn ich hier zum Gottesdienst rausgehe», sagt er, sehe ich immer diesen Satz. Und dann sage ich mir: ‹Alles, was jetzt passiert, muss sein.›» Seit 35 Jahren habe er «ein Zittern und Zagen», wenn er auf die Kanzel steige.
Sein Vater, ein frommer Mann, sagte auf dem Sterbebett: «Stöffi, ich kann nicht mehr glauben. Du musst jetzt stellvertretend für mich glauben.»
Es habe zwei Schlüsselmomente in seinem Leben gegeben, sagt er an diesem Morgen. Der erste: der Tod des Vaters, als Sigrist 17 war. Der Vater, ein frommer Mann, habe auf dem Sterbebett zu ihm gesagt: «Stöffi, ich kann nicht mehr glauben. Du musst jetzt stellvertretend für mich glauben.» Sigrist nimmt sich diesen Auftrag als Leitsatz für seine Arbeit. Es gehe nicht darum, alleine auf Gott zu vertrauen. Auch für ihn gebe es Momente, in denen er zweifle und sich fürchte. «Dann brauche ich Menschen, die das Glauben stellvertretend für mich übernehmen.»
Das zweite Schlüsselerlebnis: Bei einer Skitour im Berninagebiet 1999 fällt Sigrist in eine Gletscherspalte, der Ski verhängt sich an der engsten Stelle. Oben ist Licht, unten nur Schwärze. Eine Dreiviertelstunde steckt Sigrist fest, umgeben von einer betäubenden Stille. Für eine kurze Zeit, sagt er, sei er aus dem Leben getreten.
Dann auf einmal der Bergführer, der von oben in die Gletscherspalte ruft: «Läbsch no?» – «Lebst du noch?» Die Stimme holt ihn schlagartig ins Leben zurück. Ein Sinnbild für die Auferstehung, den Sieg des Lebens über den Tod. «Alles, was ich seit 1999 erlebe, ist mir vom lieben Gott geschenkt», sagt Sigrist. «In der Katastrophe können wir zum Glauben finden, das durfte ich an dem Tag erleben.»
Sigrists Erzählungen sind oft geschmückt mit Anekdoten und kleinen Scherzen. Er verwendet lange Sätze, schweift vielfach aus, bevor er auf einen Punkt kommt. An diesem Morgen in der Sakristei spricht er nicht nur über Berufung und Schlüsselerlebnisse, sondern auch ausgedehnt über Resonanzen, den Kirchenraum und wie er ihn in Schwingung bringen will. Es ist nicht immer eine klare Sprache, die Sigrist spricht, aber paradoxerweise eine, der man gerne zuhört.
Drei Minuten, dann geht es weiter
Sigrist, von Freunden und Konfirmanden oft «Sigi» genannt, gilt in der reformierten Szene als Macher. Als im März 2003 die USA in den Irak einmarschierten, organisierte er eine Friedensfeier. Im Dezember 2020, mitten im ersten Winter der Pandemie, ein Hoffnungsfeuer, das während des ganzen Monats auf einem Floss auf der Limmat brannte und von der lokalen Feuerwehr überwacht wurde. Sigrist rief die Aktion innerhalb weniger Tage ins Leben, seine persönlichen Kontakte öffneten ihm Türen, ohne dass er den Umweg über die Bürokratie zu gehen brauchte.

Zusammen mit Stadträtin Karin Rykart entzündet Christoph Sigrist zum 1. Advent 2020 ein Hoffnungsfeuer auf der Limmat. (Bild: Ennio Leanza/Keystone)
Weitherum bekannt sind auch seine Konfirmations- und Herbstlager in Süditalien, die einst von Sigrists ehemaliger Kollegin am Grossmünster, Käthi La Roche, eingeführt wurden. Zweimal im Jahr fährt Christoph Sigrist mit Jugendlichen nach Scoglitti, ein Fischerdorf im Südosten von Sizilien. Weil er will, dass seine Konfirmanden den weiten Weg spüren, führt er die Reisen mit Zug und Schiff durch. 24 Stunden, schwärmt er, hätten sie oft unterwegs verbracht.
Er besucht mit den Jugendlichen lokale reformierte Gemeinden und Flüchtlingsheime, setzt sich mit ihnen über Minderheiten und Geflüchtete auseinander und darüber, was es bedeutet, Schwellen zu überwinden. Die Reisen hätten einen guten Ruf, meint Sigrist, die Jugendlichen kämen nicht nur aus der Gemeinde Grossmünster, sondern aus dem ganzen Kanton. «Für mich sind diese Lager das Glanzstück meiner Arbeit.»
Die Lager haben aber auch eine strategische Funktion: Christoph Sigrist bindet ehemalige Konfirmanden in die Planung ein und schafft es so, dass junge Menschen sich in der Gemeinde engagieren. Es sei, sagt er, «ein Hotspot für nachhaltigen Gemeindeaufbau».
Auch ein Jugendtreff, der von ehemaligen Konfirmandinnen betreut wird und einen Nährboden für enge Freundschaften geschaffen hat, geht auf seine Initiative zurück. Dass ihm das Projekt am Herzen liegt, zeigt er, indem er am Feierabend vorbeischaut, ein paar Worte wechselt. «Er gab uns das Gefühl, dass wir ihm wichtig sind und er sich für unseren Raum einsetzt», sagt Duncan Guggenbühl, der 2012 im Grossmünster konfirmiert wurde und später als Kirchenpfleger tätig war.
Christoph Sigrist ist umtriebig in allen Belangen. «Er fragt nie: ‹Haben wir Zeit?›» sagt Stefan Thurnherr, seit 2019 Präsident der Kirchenkreiskommission. «Er verspricht und veranlasst sofort. Er ist gnadenlos in seinem diakonischen Auftrag.»
Aber die Folgen davon spüren auch jene Menschen, die die Zusammenarbeit mit ihm über alle Masse loben. Er habe selten Zeit für lange Gespräche, sagt Stefan Thurnherr. Schon damals nicht, als sich die beiden Männer 2010 kennenlernten. Drei Minuten seien an manchen Tagen alles, was ihm bleibt – ausser bei der Seelsorge, da stehe der Mensch für ihn im Mittelpunkt. «Hätte er nur ein, zwei Sachen weniger am Hut», meint auch Duncan Guggenbühl, «könnte er sich den Projekten richtig widmen.»
Für die Ohnmächtigen
Oft ist in den Zeitungen von leeren Kirchen die Rede, gemeint sind in der Regel die spärlich besuchten Gottesdienste am Sonntagmorgen. Sigrist ist überzeugt: Der Gottesdienst muss für die immer diverser werdende Gemeinde in verschiedenen Formen stattfinden. Er lädt Politiker und Schriftstellerinnen zu Gesprächen in die Kirche ein, bietet interreligiöse Gebete an und führt Leute nachts durch die Kirche. Zum Taizé-Gebet im November 2022 erschienen 800 Menschen. «Der Kirchenraum ist nicht nur für den Sonntagmorgen gebaut», betont Sigrist. «Er steht 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Der Sonntagmorgen geht nicht verloren, sondern er transformiert sich.»
Von 2016 bis 2019 war Christoph Sigrist einer von zwei Schweizer Botschaftern des Reformationsjubiläums. 500 Jahre waren es, seit Martin Luther seine Thesen an die Tore der Schlosskirche zu Wittenberg schlug und Zwingli als Leutpriester ans Grossmünster kam.
Als dessen Nachfolger musste sich Sigrist auch mit der Geschichte auseinandersetzen, die diese bekannte Kirche geprägt hat: Das Grossmünster ist nicht nur der Ausgangspunkt der Schweizer Reformationsgeschichte, sondern auch jener Ort, an dem der Zürcher Stadtrat im 16. Jahrhundert die Vertreibung und Hinrichtung der Täufer beschloss.

Mit Böögg-Bauer Lukas Meier im Jahr 2019 auf dem Sechseläutenplatz in Zürich. (Bild: Aladin Klieber/PPR/Keystone)
«Täufer und Amish people reisen aus der ganzen Welt nach Zürich, um ihrer Geschichte auf den Grund zu gehen», sagt Sigrist. Einmal sei ein Mann ins Grossmünster gekommen, in seiner Tasche ein vergilbter Stadtplan. An der Stelle, wo das Grossmünster hätte sein sollen, war ein Loch. «Der Mann, ein Täufer, hatte von seinen Eltern gelernt, dass hier der Teufel wohnte.» Sigrist lud ihn zum gemeinsamen Gebet ein. Der Mann zeichnete daraufhin zum Segen mit dem Finger ein Kreuz auf Sigrists Stirn. «Als reformierter Züri-Bueb repräsentiere ich die Geschichte des Verfolgers», sagt Sigrist. «Und dieser Mann, wie so viele andere, kommt mit der Geschichte des Verfolgten.» An dieser Versöhnung zu arbeiten sei der Auftrag der Reformation im 21. Jahrhundert.
Sigrist führt dafür regelmässig interkonfessionelle und religiöse Andachten durch, bringt orthodoxe Gemeinden zusammen, feiert mit Täufern und Katholikinnen, mit Russen und Ukrainerinnen. Die Essenz seines Berufs sei der Kontakt mit den Menschen und die Botschaft des Friedens nach aussen zu tragen sein wichtigstes Ziel.
«Im Kirchenraum Grossmünster ist jeder gleich wichtig», betont Sigrist. Ihm wird gern die Nähe zu Politikern und Promis vorgeworfen. Dem hält er entgegen: «Ich mache ein Staatsbegräbnis für Köbi Kuhn und wenige Tage später ein Staatsbegräbnis für Emil aus der Herberge. Dem Menschen im Sarg kann keine Öffentlichkeit mehr Bedeutung zusprechen, sondern nur noch der liebe Gott.»
Es ist vielleicht diese Liebe zu den Menschen – zu allen Menschen – die für das Verständnis von Sigrists Wirken am zentralsten ist. Denn egal, ob er nun im Gottesdienst predigt, in der SRF-«Arena» über Flüchtlingspolitik debattiert oder sich in der «NZZ» für Konzernverantwortung starkmacht: Es geht ihm dabei um diejenigen, die sonst kaum eine Stimme haben. «Ich bin ein Sprachrohr», sagt Sigrist. «Mein wichtigstes Instrument ist das Zuhören. Das ist paradox, denn die meisten Leute erleben mich nur als Redenden.» Er könne nur Pfarrer sein, wenn er den Menschen gern habe, sagt Christoph Sigrist. Und er könne nur auf der Kanzel stehen, wenn er auch auf der Gasse präsent sei.

Mit Sigrist (ganz rechts) posieren von links der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller, die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch, der damalige Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Regierungsrätin Jacqueline Fehr sowie der damalige Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, Gottfried Locher. (Bild: Walter Bieri/Keystone)
Es ist die Umtriebigkeit, die Hartnäckigkeit, mit der er auch politische Ziele verfolgt, die vielen ein Dorn im Auge ist, so heisst es in Gesprächen immer wieder. So richtig öffentlich dazu äussern mag sich allerdings niemand. «Kann man ihm seine Originalität übelnehmen?» fragt Sigrists Kollege Matthias Müller-Kuhn. «Darf man in der Landeskirche nicht herausragen? Darf man nicht poltern und schimpfen von der Kanzel herab, wie es auch Luther getan hat? So gesehen ist er vielleicht den Reformatoren manchmal auch nahegekommen.»
Und auch Stefan Thurnherr meint: «Wer ihn nicht kennt, beschreibt ihn schnell als ‹Schaumschläger›. Aber er nutzt die mediale Inszenierung für seine diakonische Arbeit. Die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit aufzutreten, ist ein Riesengefährt, sofern man damit umgehen kann. Und Christoph Sigrist kann es.»
Was bleibt
Im Frühling 2024 wird Christoph Sigrist sein Pfarramt am Grossmünster nach über 20 Jahren abgeben. «Die Kirche wird zusammenbrechen», sagt Stefan Thurnherr, halb lachend, halb auch irgendwie ernst. Was kommt, wenn Sigrist geht? Und: Was bleibt?
Sigrist sei wie eine alte Eiche im Wald, sagt Thurnherr. Ein Zufluchtsort für Nahrung und Geborgenheit, an dessen Stelle nun ein leerer Platz entstehe. Er habe aber auch eine starke Kirchgemeinde mit einer tragfähigen Struktur inspiriert. Jetzt könne an seiner Stelle etwas Neues nachwachsen. «Der Kreis 1 wird an Dynamik und Flexibilität verlieren», befürchtet dagegen Duncan Guggenbühl, der ehemalige Konfirmand. «So schnell und impulsiv wie Sigi es war, wird sicher keiner mehr.»
«Die Macht, die mir zugespielt wurde, möchte ich für die Ohnmächtigen einsetzen. Das ist meine wahre Berufung.» Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster
Sigrist selbst beschäftigt sich weniger mit der Frage, was er zurücklässt. «Die Bibel ist voller Gleichnisse vom Loslassen: ‹Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen›, heisst es bei Lukas 9,24. Ich kann nicht auf der Kanzel predigen, wenn ich das Gesagte nicht auch einlöse.» Gerungen hat er vielmehr damit, was er von nun an machen will. Sein Coach in der Supervision, sagt er, habe ihn zwei Jahre damit bedrängt. «Ich möchte helfen», habe er darauf geantwortet.
Sigrist hat in den vergangenen 20 Jahren gelernt, die Medien für seine diakonische Arbeit zu nutzen und auf Projekte aufmerksam zu machen. Die Plattform des Grossmünsters hat Sigrist zu einer Prominenz verholfen, die ihm so schnell nicht abhanden kommen wird. «Die Macht, die mir zugespielt wurde, möchte ich für die Ohnmächtigen einsetzen», sagt er. «Das ist meine wahre Berufung.»
Zwei Stunden Zeit hatte Sigrist für das Gespräch in der Sakristei. Zwei Stunden, bevor er zum nächsten Termin weitereilen muss. Nun ist die Zeit abgelaufen. Als er aufsteht und einen letzten Blick auf den Schriftzug bei der Tür wirft, strafft er kurz seine Schultern und atmet ein. In der Kirche ist es ruhig, von der morgendlichen Geschäftigkeit ist nichts zu spüren. Sigrist blickt noch einmal auf die Chorfenster, blinzelt den leuchtenden Farben entgegen. «Schön, nicht?» sagt er zum zweiten Mal an diesem Vormittag. Freude schleicht sich auf sein Gesicht und er sagt: «Ich weiss nicht, was als nächstes kommt. Ich werde wieder ein Lernender sein.»


