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Autorin: Charlotte Peter
Freitag, 18. Dezember 2020

Zum 90. Geburtstag: Notiz an mich

Juni 2014

Am 11. Juni dieses Jahres habe ich meinen 90. Geburtstag gefeiert. Für mich Anlass, Bilanz über mein Leben zu ziehen. Positiv: In einem Land ohne Krieg, Hungersnöte und Naturkatastrophen aufgewachsen zu sein; geordnete Familienverhältnisse, stets ein warmes Bett, sauberes Wasser und einen vollen Teller; durfte ein Studium absolvieren, konnte meinen Traumberuf Journalistin ergreifen und die ganze Welt bereisen; blieb von ernsthaften Krankheiten und schweren Unfällen verschont, fand viele Freunde und fühlte mich frei. Negativ: Kein hübsches Gesicht, keine Kinder, nie die ganz grosse Liebe erlebt. Fazit: Unter den bald sechs Milliarden Menschen habe ich ein gutes Los gezogen. Bleibt die Frage, wie viel ich von meinem Glück günstigen äusseren Umständen zu verdanken habe beziehungsweise wie viel ich mir selbst zuschreiben darf. Auf Grund meiner Erfahrungen in mehr als hundert Ländern schätze ich meine Eigenleistungen auf höchstens zwanzig Prozent.

Ich habe aus meinen Möglichkeiten das Beste gemacht. Mein kleines Schreibtalent reichte nicht für eine grosse Schriftstellerkarriere, doch für ein gutes Journalistinnenleben genügte es. Ich brachte es trotz grosser Fernostbegeisterung nicht zur ernsthaften Sinologin oder Sanskritgelehrten. Doch ich lernte in China und Indien manches. Zum Beispiel die buddhistische Weisheit, dass das Unglück dieser Welt drei Ursachen hat: die Bosheit, die Unwissenheit und die Gier. So bemühte ich mich darum, gutherzig zu sein, stetig zu lernen und vor allem nicht zu viel zu fordern.

Ich bin mit meinem Leben zufrieden und tue noch immer, was ich stets am liebsten gemacht habe: reisen und schreiben, habe noch immer einen ordentlich funktionierenden Kopf und gesunde Beine. Bin meinem Schicksal dankbar und wünsche allen anderen Menschen zumindest ebenso viel Glück.

Französisch-Polynesien, Südsee

Mai 2014

Seit Captain Cook und Paul Gauguin wissen wir es: Die Südsee ist das Paradies auf Erden. Ich hatte das Glück, wieder einmal dort zu sein, und stellte fest: Dank dem lieben Gott und einem tüchtigen Touristenminister ist Französisch-Polynesien – zumindest für Touristen – wirklich paradiesisch. Schon beim Anflug auf Papete leuchtet das Meer in Saphir- und Smaragdfarben, und zum Empfang der Air-France-Passagiere aus Paris tanzen Mädchen mit Frangipaniblüte hinter dem Ohr. Im Park des Méridien-Hotels wedeln Kokospalmen fotogen über dem weissen Sand, während am Pool strenge Rassentrennung herrscht: die Westerners zum Bräunen an der Sonne, die Japaner und Chinesen im Schatten (an der Bar mischen sich die Nationen wieder).

Das Paradies? Für mich kaum. Doch es geht bald weiter mit dem Fracht-Kreuzfahrtschiff «Aranui 3» nach Hiva Oa in den Marquesas, der Insel, auf der Gauguin manche seiner melancholisch-schönen Bilder gemalt hat. Und da sind sie schon wieder, die wedelnden Kokospalmen, die smaragdfarbenen Wellen, die Frangipaniblüten und die zu bizarren Türmen verwitterten Vulkane, ja sogar einige hüftenschwingende Mädchen samt Blumenketten hat der Agent spendiert (Südseereisen sind teuer). Zudem zeigt man uns einige vom Zahn der Zeit angenagte Tikis, jene mysteriösen Steinfiguren, die einst als Götter oder Ahnen verehrt wurden. Sie stehen etwas verloren im Dschungel herum, sind nur auf holprigen Pfaden zu erreichen und starren uns aus riesigen leeren Augen an. Gebetet und gesungen wird hier schon lange nicht mehr, das geschieht jetzt in den Kirchen. Die Tikis sind bloss noch Studienobjekte für die Ethnologen und Fotospass für die Touristen. Bald ist alles im Kasten, und es folgt ein opulentes Buffet, natürlich wieder unter Kokospalmen und wieder mit Tänzen, diesmal mit als Kriegern verkleideten Männern.

Das Paradies? Eigentlich habe ich mir vom Paradies mehr erhofft. Etwas weniger Disneyland und etwas mehr Himmelreich.

Shanghai, China

Januar 2014

Ich liebe Shanghai. Die Stadt des 21. Jahrhunderts ist jung, optimistisch, glitzernd-modern, weltoffen und auch ein wenig anmassend. Zu sehen gibt es viel, zum Beispiel den Tempel des Stadtgottes mitten in der City. Im Gegensatz zum hochberühmten Yü-Garten wird er von Westtouristen nur selten besucht. Beim Stadtgott bin ich ganz unter Chinesen, lasse mich von Weihrauch umwehen und denke nach.

Viele Städte stehen unter dem Schutz eines höheren Wesens, in Europa üblicherweise eines christlichen Heiligen. Anders in Ostasien. Der gute Gott von Bangkok wird als eine Art Erdgottheit verstanden. Wer ein Haus baut, stört die Geister der Erde und errichtet daher zur Versöhnung ein Geisterhäuschen. Für die Erdstörung, die der Bau einer Stadt mit sich bringt, braucht es dann logischerweise einen ganzen Tempel, wo der gute Gott in einem mächtigen Holzpfahl haust. In Shanghai werden Lao Zi als Schutzgott und Huo Guang, ein Held der Gegend, verehrt. Das entspricht der buddhistischen Gepflogenheit, Menschen, die auf irgendeinem Gebiet Grosses und für die Allgemeinheit Nützliches geleistet haben, zu Schutzgottheiten zu erheben.

Li Bing und sein Sohn Erlong liessen vor mehr als 2000 Jahren in der Nähe von Chengdu die Dujiangyan-Bewässerungsanlage bauen, dank der sich die Lage der Bevölkerung stark verbesserte und die noch immer funktioniert. So ist auch ihnen ein Tempel geweiht. Ich sehe mir den Stadtgott von Shanghai genauer an: Mächtig, gold-glänzend und etwas poppig passt er zur Boomstadt und ist offensichtlich bei jungen Bankern, Grossmüttern mit Enkel, gestylten Teenagern und Familien vom Land gleichermassen beliebt. Man verstehe das aber nicht falsch. Der Stadtgott duldet neben sich auch andere göttliche Wesen. Man spendet ihm Weihrauch und bummelt weiter zu: Buddha, Kungfutse, Laotse, vielleicht gar zum Propheten oder zu Jesus. Shanghai, eine wahrhaft weltoffene Stadt.

Irkutsk am Baikalsee, Russland

August 2015

In Irkutsk nahe dem Baikalsee lief zunächst alles wie in Putins Russland gewohnt. Die Reiseleiterin Elena, eine freundliche Babuschka, zeigte erst ein monumentales Denkmal mit ewiger Flamme, das an den Grossen vaterländischen Krieg und seine dreissig Millionen Tote erinnert. Es folgte eine neu renovierte Kathedrale mit goldstrotzender Ikonostase, einem Christus als Weltenherrscher – er ist in der orthodoxen Kirche beliebter als der Christus am Kreuz – und vielen ernst blickenden Madonnen. Dann eine Überraschung: Elena führte uns zu einem Freilichtmuseum, wo an einem knappen Dutzend Stellwänden die Bilder aller Zaren zu sehen sind. Besonders auffällig die Porträts der letzten Zaren­familie, die 1918 von den Sowjets erschossen wurde. Nikolai II., die Zarin und die Kinder tragen alle einen Heiligenschein und gleichen damit den Ikonen in der Kathedrale.

Die russische Reiseleiterin war begeistert, nannte die Namen und schwärmte von einer Romanov-Prinzessin, die in Spanien lebt, jedoch oft ins Land ihrer Väter kommt und da schon 200 Städte besucht haben soll. Dass sie auch von der hohen Geistlichkeit und von Putin empfangen wird, beweisen Fotos. Ich fragte Elena, ob sie statt Putin lieber wieder einen Zaren hätte, doch das ging ihr zu weit. Sie bewundert und liebt Putin und kann nicht verstehen, was die Westerners gegen ihn haben. Eine Touristin konterte: Warum denken die Russen noch immer so intensiv an den Zweiten Weltkrieg? Warum sind sie so übertrieben patriotisch, verehren sogar die Zaren? Warum kümmern sie sich weder um das Unrecht in der Ostukraine noch um jenes auf der Krim? Ich versuchte zu vermitteln. Vielleicht war der Vater Elenas vor Stalingrad gefallen. Vielleicht erinnert sie sich an die achtziger Jahre, als sie auf der damals russischen Krim die Ferien verbringen durfte. Vielleicht liebt sie ganz einfach ihr grosses schönes Land. Die Touristin verstand nicht, und ich stellte fest: Die Russen verstehen uns nicht, und wir verstehen die Russen nicht.

Papua-Neuguinea, Ozeanien

März 2012

Als der Reiseleiter in Papua-Neuguinea vorschlug, als erstes eine kleine Dorfkirche zu besichtigen, war ich wenig begeistert. Nach zwei Tagen und zwei Nächten mit Flugzeug, Lastwagen und Einbaum unterwegs an den Sepik River erwartete ich Tambaran-Geisterhäuser, Schamanen, Paradiesvögel und vor allem die wohl berühmteste Ethnokunst der Welt. Doch der Reiseleiter insistierte: Wir würden vom Priester erwartet, der sehr nett sei und zudem ein guter Freund. Also stieg ich wieder in den Einbaum, fuhr weiter auf dem Fluss, kletterte dann einen Hügel hoch, um vor einem kühnen Giebelbau zu stehen, den ich als Tambaran identifizieren zu können glaubte. Irrtum: Es war die Kirche. Oder vielleicht doch ein Tambaran? Ich bestaunte die Säulen mit den kühnen, höchst expressiven Schnitzereien, die Krokodile und Vögel, die deftige Nacktheit der Frauen- und Männerfiguren, die dramatischen Masken an der Wand, vor der eigentlich ein Altar hätte stehen müssen. «Wie gehen Sie mit den animistischen Bräuchen Ihrer Gemeinde um?» wollte ich vom Priester wissen. Sein dunkles Gesicht strahlte, als er fröhlich erklärte: «Viele unserer Traditionen sind gut: Respekt vor dem Alter, dankbares Gedenken an die Ahnen, Pflege der Kunst und vieles mehr. Wir ändern nur einige schlechte Dinge. So sind unter den Säulen der Kirche nicht mehr die abgeschlagenen Köpfe der Feinde begraben.» Wirklich ein Fortschritt.

Anschliessend zeigte mir der nette Priester noch seine Schule, übrigens die einzige, die ich auf meiner zwölftägigen Tour durchs ländliche Papua-Neuguinea zu sehen bekam. Warum, erfuhr ich aus der Zeitung in Port Moresby: In Papua gibt es 2000 Geisterschulen. Das sind Schulen, die nur auf dem Papier existieren. Sie werden von den Dörfern bei der Regierung gemeldet und beziehen dann zur Freude der Dorfältesten grosszügige Subventionen. Für den Priester gibt es da wohl noch viel Arbeit.

Philippinen

April 2015

Vor der Reise in die Philippinen wurde ich gewarnt: Im Jahr 2013 ein schweres Erdbeben, gefolgt vom Taifun des Jahrhunderts mit einer Million zerstörter Häuser und vier Millionen Obdachloser, dazu Unruhen in den Muslimgebieten in Mindanao. 2014 ein weiteres Erdbeben und ein weiterer Taifun. Ich flog trotzdem ins Reich der 7100 Inseln und stand bald am Fuss des Mayon. Die makellose Pyramide gilt als schönster Vulkan der Welt. Er sprühte weisse Dampfwolken in den Tropenhimmel. Ganz anders die nächste Attraktion. Von der grossartigen Cagsawa-Kathedrale, erbaut im 17. Jahrhundert von den Spaniern, haben nur die Fassade und der Glockenturm alle Erdbeben heil überlebt, weshalb man hier nicht von Kolonialbarock, sondern von Katastrophenbarock spricht.

Die zweite Warnung betraf die Muslime, die ganz im Süden auf Mindanao beheimatet sind. Wir besuchten die ruhige General Santos City und Cagayan de Oro. Dort sahen wir zahlreiche Iglesias ni Cristo, die einer Sekte gehören, wenige Frauen mit Kopftuch, wenige Moscheen, einen buddhistischen Tempel und ein China-Town. Man ist tolerant. Am Lugu-See dürfen animistische Familien ihre Toten in Tücher an den Bäumen aufhängen, damit ihre Seelen noch vor dem Begräbnis in den Himmel fliegen können. In derselben Gegend trafen wir eine 90jährige Traumweberin, die aus Bananenfasern kunstvolle Stoffe herstellt. Muster benutzt sie nicht, sie folgt allein der Inspiration, die ihr gute Geister im Schlaf spenden. Übrigens wurde sie als muslimische Prinzessin geboren, ärgerte sich über die in ihrem Clan übliche Polygamie, wurde Christin, kämpft nun für die Rechte der Frauen und hat damit einige Berühmtheit erlangt.

Ich war froh, wieder einmal auf den Philippinen gewesen zu sein, und bedauerte einmal mehr, dass sich so viele Menschen von einer Zeitungsnotiz verunsichern lassen. In einem Hundertmillionenvolk kommt es immer wieder zu schlimmen Ereignissen, doch deshalb gebe ich weder die Philippinen noch Indien noch China auf. Ich lebe glücklich auf dieser Welt.

Eritrea, Ostafrika

April 2013

Eritrea ist halb christlich, halb muslimisch. Aus Eritrea drängen mehr Flüchtlinge in die Schweiz als aus jedem anderen Land. Es ist das ärmste Land Afrikas. Bei der Beschneidung von Mädchen steht Eritrea zusammen mit Äthiopien und Somalia an der Weltspitze. Meine Erfahrungen vor Ort ergänzen das Bild eines Landes auf der historischen Schattenseite: In einer Woche nur eine einzige lauwarme Dusche, zum Silvesterdinner Rührei mit Brot, aber ohne Gabel (in Afrika isst man mit den Fingern), Besuch von Museen nur mit speziellem Permit, Touristen unerwünscht.

Und doch hat sich die Reise gelohnt. Auf den Märkten scheint die Zeit seit Jahrhunderten stillzustehen. Bei den Schmieden wird fast nur Altmetall verarbeitet, dies nach dem Credo: jedes Ding hat zwei Leben, also Recycling in Perfektion. Durchs grandiose Bergland ziehen noch immer Kamelkarawanen, in den Basargassen brauchen wir uns nicht vor Taschendieben zu fürchten, und niemals werden wir von Souvenirhändlern bedrängt.

Was aber ist geschehen? Unser Reiseleiter schwärmt von den italienischen Kolonialherren (1885 bis 1941). Diese bauten am Meer Massawa, ein architektonisches Juwel, sowie in der Hauptstadt Asmara Dutzende von wunderschönen Art-déco-Häusern. Dann ein folgenschwerer Fehlentscheid: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die italienische Ex-Kolonie von den Siegermächten dem äthiopischen Kaiser Haile Selassie zugeschlagen, es kam zu einem dreissigjährigen Unabhängigkeitskrieg und schliesslich zur totalen Isolation Eritreas. Ein Land im Schatten, ein Land aber auch, in dem Kopten, Katholiken, Protestanten, Muslime und sechs Juden dicht nebeneinander und ganz friedlich für eine bessere Zukunft beten. Ganz problemlos ist jedoch auch das nicht. Bekennende Menschen jeder Religion sind dem Regime verdächtig und werden oft verfolgt. Auch das ein eritreischer Rekord: Ob Moschee oder Kirche, wir standen stets vor verschlossenen Türen.

Mission und Bibelschmuggel

Februar 2013

In einer Fernsehsendung wurde über die steigende Zahl von Christenverfolgungen in Westafrika und weiten Teilen Asiens berichtet: brennende Kirchen in Nigeria und im Norden von Mali; Flucht ganzer Christengemeinden aus ihren angestammten Dörfern in Syrien und im Irak; zahllose Schikanen und Einschränkungen in Saudi. Mich aber interessierten vor allem die Vorkommnisse in Nordkorea, denn da will ich demnächst mit einer Gruppe hin. Es soll schlimm sein.

Schon der Besitz einer Bibel könne mit Gefängnis geahndet werden, für die Missionierung drohe gar die Todesstrafe. Um religiösen Fanatismus kann es dabei nicht gehen, sondern allein um Politik. Im streng kommunistischen Staat misstraut man den Religionen, auch dem Buddhismus. Auf meinen früheren Reisen habe ich nur gerade einen einzigen Tempel besuchen können und natürlich nirgends eine Kirche gesehen.

Bleibt die Frage, wie man den verfolgten Christen helfen könne. Der TV-Experte empfahl dreierlei: Spenden für ein Flüchtlingsheim in China, Unterstützung heimlich tätiger Hilfswerke und Schmuggeln von Bibeln. Ich erschrak, denn ich kenne mich dank eigenen Erfahrungen aus. In Ländern, in denen Missionierung verboten ist, tarnen sich Missionare oft als Entwicklungshelfer – und das kann schiefgehen.

In Peshawar, Pakistan, wurde mir gesagt: «Halte dich fern vom freundlichen Lehrer, der dich im Hotel kontaktiert hat. Er singt mit seinen Schülern Kirchenlieder und macht sich damit schuldig.» Leidtragend sind in solchen Fällen die Kinder und deren Eltern. Der ausländische Lehrer wird allenfalls ausgewiesen. Ebenso heikel die Verteilung von Bibeln: Zur Zeit der Sowjetunion erlebte ich, wie ein Mitglied meiner Gruppe wegen einiger russischer Bibeln vom Moskauer Flughafen gleich wieder ins Flugzeug zurück in die Schweiz gesetzt wurde. Daher mein dringlicher Rat: Schmuggeln Sie keine Bibeln nach Nordkorea! Die Einreise kann verwehrt werden. Noch schlimmer aber noch: Die Beschenkten können im Gefängnis landen.

Bhutan, Südasien

Mai 2013

Alle lieben Bhutan. Das bilderbuchhübsche Land im Himalaya, dessen König verkündet, das Bruttosozialglück sei wichtiger als das Bruttosozialprodukt, erfreut jedes Touristenherz. Da gibt es Schneeberge, Orchideen und Yaks, freundliche Menschen in attraktiven Trachten, Bauernhäuser, die man auf eine Opernbühne stellen könnte, lächelnde Buddhas, gemütliche Hotels und zu allem auch noch einen liebenswürdigen, tüchtigen König samt bollywoodschöner Königin. Was will man mehr? Ich frage unseren Führer Lungten, ob er glücklich sei. Er bestätigt die offizielle Staatsphilosophie und fügt bei, der Mensch solle nicht zu gierig sein, innere Zufriedenheit sei wichtiger als materieller Reichtum. Das alles ist natürlich nicht neu.

Schon Buddha hat vor 2600 Jahren gelehrt, das Unheil der Welt rühre von der Gier, der Bosheit und der Unwissenheit her, in Tibet symbolisiert durch einen Hahn, eine Schlange und ein Schwein. Ich aber bin neugierig. Wie nur funktioniert eine idea­listische Staatsphilosophie in einem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt? Wir sehen Frauen, die am Strassenrand Steine klopfen, Bauern, die steilen Berghängen ein wenig Mais oder Kartoffeln abringen, wir rechnen nach, wie lächerlich wenig die berühmten Handweberinnen in der Gegend von Mongar verdienen, wir hören von Collegeabsolventen, die keinen Job finden – doch es werden keine Klagen laut.

Wenigstens hat jeder Bhutaner genügend zu essen, ein Dach über dem Kopf und einen Tempel voller gütiger Gottheiten. Die nationalen Einkünfte aber kommen, ausser vom Elektrizitäts- und Obstexport, zu 70 Prozent von Spenden aus Indien sowie aus Europa und Amerika. Was wohl entscheidender ist für das Glück? Die Rupien aus Delhi, die Staatsphilosophie des Königs oder der Segen Buddhas? Ich wage nicht zu entscheiden.

Äthiopien im Grossmünster in Zürich

Mai 2012

An einem 11. September, dem Regulatag, waren im Grossmünster äthiopische Christen zu Gast und nervten mit ihren Trommeln, Sistren und ausgelassenen Tanzschritten eine energische Zürcherin: zu viel Lärm, zu viel Trillern und Klatschen. Unverschämt sei das.

Doch jetzt sind wir in Äthiopien, und da sind sie wieder, die exotischen Urchristen mit ihrer lauten Frömmigkeit. In der wundersam ausgemalten Debre Berham Selaissie in Gondar hat sich ein Männerchor versammelt, alle in weisse Tücher gehüllt und mit einem Gebetsstock in der Hand. Dieser dient zur Begleitung der rituellen Tänze als Stütze. Bei einem Dreifaltigkeitsgottesdienst, der von drei Uhr in der Frühe bis drei Uhr nachmittags dauert, wohl kein übertriebener Luxus.

Etwas verlegen stehen wir zwischen Diakonen, betendem Volk, Trommlern und bunt leuchtenden Fresken. Dürfen wir überhaupt da sein? Doch keine Sorge, der Priester lässt freundlich lächelnd eine Bank für uns räumen. So können wir in Ruhe den ungewohnten Melodien lauschen, uns forttragen lassen in eine andere Welt. Die Bilder erzählen lebensfroh und mit einer unbändigen Lust am Fabulieren von Maria und Jesus. Da wählt Maria den jungen Josef zum Bräutigam, worauf sich eine weisse Taube auf seinen Gebetsstock setzt. Da rettet der Schatten der Jungfrau die Seele des Menschenfressers Belay, und da ist auch Yareb, der im 6. Jahrhundert die äthiopische Kirchenmusik samt komplizierter Notenschrift geschaffen haben soll. Die drei hübschen Paradiesvögel, die ihn begleiten, sind von Gott gesandt, damit sie dem frommen Mann die himmlischen Melodien vorpfeifen können. Dann plötzlichen donnernde Trommelwirbel und wahre Freudentänze, vollführt von den Musikanten und begleitet von Klatschen, Rasseln der Sistren und Trillern der Frauen.

Es ist ein Fest himmlischer Lust, eine Harmonie von Fresken, Gesang, Gebet und Tanz. Unsere Gruppe ist tief berührt, und auch die energische Zürcherin hat sich versöhnt: Wunderbar ist das, die dürfen wieder ins Grossmünster kommen.

Dorf Esso, Halbinsel Kamtschatka im fernen Osten Russlands

Juli 2013

Vladislav Kevenok ist russisch-orthodoxer Pope in Esso-Kam­tschatka , gelegen im fernsten Osten Russlands unweit von Alaska. Er besitzt die knackige Gestalt eines Leistungssportlers, ist fröhlich, offen, unkompliziert und freut sich über die Schweizer Schokolade, die ich für seine sieben Kinder mitgebracht habe. Doch Vater Vladislav, wie er hier genannt wird, hat einige sehr spezielle Probleme. «Als ich von Petropavlovsk, der Hauptstadt von Kamtschatka, hierher versetzt wurde, musste ich mir erst einen Schlitten und Hunde besorgen», erzählt er. Seine Gemeinde erstreckt sich über einen Umkreis von 250 Kilometern. «Viele Familien kann ich im Winter nur mit Snowmobil oder Hundeschlitten erreichen, im Sommer nur mit dem Helikopter, denn es gibt praktisch keine Strassen. Es kann daher schon vorkommen, dass ein junges Paar sechs Monate lang auf die kirchliche Trauung warten muss.» Im weiteren erfahre ich, dass Vladislav jeweils mit grossem Erfolg an der Beringia, dem längsten Schlittenhundrennen der Welt teilnimmt und, was ihm besonders wichtig ist, an jeder Station eine Messe liest.

Ungewöhnlich auch die Karriere des Popen. Aufgewachsen zur Sowjetzeit, wurde er zuerst Matrose und diente später als strammer Sozialist in der Roten Armee. Als im Jahr 1998 in Petropavlovsk ein Priesterseminar eröffnet wurde, ergriff er die Chance und wechselte gleichsam im Flug von Lenin zu Jesus. Nun ist er Priester mit Leib und Seele, hat jedoch auch viel Verständnis für die Ewans, Koryans, Itelmens und die anderen Stammesangehörigen. «Sie haben ihre alten Schamanen nicht ganz vergessen, rennen nach der Taufe gelegentlich direkt zu einem Feuerritual», lacht Pater Vladislav. Er ist zufrieden mit seinen 27 Hunden, der neuen Holzkirche, die ein Holzhändler gestiftet hat, der bunt zusammengewürfelten, nicht immer sehr bibelfesten Gemeinde, der kinderreichen Familie, dem einsamen Leben im Land der 300 Vulkane, seinen Heiligen und seinem Schicksal.

Kanbul, Tibet

November 2012

Laut klingt das Klagelied: In Tibet stirbt die Kultur. Mönche werden verfolgt. Es gibt nur noch wenige Klöster. Der Lamaismus muss im Westen gerettet werden … Ich reise seit 1980 oft dorthin, war eben in Osttibet und erlebte ganz anderes. Wir starten in Labrang, einer ganzen Klosterstadt mit über 1500 Mönchen, einer Universität, hübschen Hofhäusern statt engen Zellen und mehreren wiedergeborenen Buddhas, nehmen teil an einem Ritual und fühlen uns ins Mittelalter zurückversetzt. Der Buddhismus lebt. Dann eine neue Überraschung. Im Dorf Kanbul leben fast ausschliesslich Künstler, die sich aufs Malen traditioneller Rollbilder spezialisiert haben und damit gute Geschäfte machen. In der Umgebung gibt es 36 Klöster, die einen riesigen Bedarf haben. Der erfolgreichste Maler verdient so gut, dass er seinem Dorf eine Malschule stiften konnte.

Die nächste Station ist Madoi, wo gerade eine Kalachakra-Zeremonie stattfindet. Sie wird von einem Rinpotsche, einem verdienten Lehrer, unter freiem Himmel zelebriert und hat mehr Zulauf als jedes Popkonzert. Weniger spektakulär das Kloster des weissen Pferdes mit nur 150 Mönchen, darunter ein guter Freund unseres Reiseleiters. Wir dürfen ihn in seinem Bungalow, in dem weder Fernseher noch PC fehlen, besuchen und werden bewirtet. Ein Stück weiter eine Convention mit 60 Rinpotsches und über 100 Geshes, das sind Doktoren der buddhistischen Lehre. Gestiftet wurde der Anlass von einem Geschäftsmann, der durch den Handel mit Raupenpilzen reich geworden ist. Er scheint nicht allein vom Wunderpilz zu profitieren; ein Grossteil der Besucher ist in Brokat gekleidet und mit Schmuck behängt. Unmöglich, all die weiteren Klöster aufzuzählen, die wir besuchen: den Tempel der Tang-Prinzessin Wenchen, ein noch im Bau befindliches Nyingmapa-Kloster, das Xia-Quigang-Kloster, den Rakya Gompa, bekannt als grösstes Kloster von Amdo. Ach ja, wie war das nur mit der tibetischen Kultur? Ihre Rettung können wir getrost den Tibetern überlassen und uns vermehrt um die eigenen Klöster kümmern.

Delhi, Indien

Dezember 2013

In unserer herrlichen neuen Zeit ist Delhi eigentlich gar nicht weit weg: acht bescheidene Flugstunden, im Imperial Hotel an den Wänden die Queen und auf dem Frühstücksbuffet Birchermüesli. Wirklich nur ein Katzensprung. Oder doch nicht? Im Basar entdeckt mein Grüppchen eine vielarmige Statuette in grellbuntem Glitzerkleid. Es ist die Göttin Durga, die grosse Mutter und Zerstörerin. Hier so innig verehrt wie im Westen die Maria, nur eben anders. Eine Göttin als Zerstörerin, für meine Leute ein Kulturschock, für die Inder Logik. Wo Geburt ist, ist auch Tod, wo Schöpfung, auch Zerstörung – und beides ist göttlich.

Die Zugfahrt in den Süden wieder vertraut, es könnte der TGV sein. Doch dann ein nächster Kulturschock. In einem Tempel Gott Vishnu in Gestalt eines Ebers. Ich versuche zu erklären. Denkt an Darwin. Die Inder haben die Entstehung der Arten einige Jahrtausende früher begriffen und in einen grossartigen Mythos gefasst: die acht Erscheinungsformen von Vishnu.

Die Entwicklung beginnt bei einem niederen Lebewesen, dem Fisch, führt über die Schildkröte, den Eber, den Löwenmenschen, den Zwerg und den Kämpfer Rama zum religiösen Lehrer Krishna und schliesslich zu Gott Vishnu. Eine Dame ist empört: Aber du glaubst doch nicht, dass wir vom Affen abstammen! Ich vertröste sie mit der Bar und dem Pool im Hotel. Und ahne Ungutes für den Besuch von Uijain, einem der sieben heiligen Stätten des Hinduismus, wo ein von der Natur geformter Lingam – oder Phallus – von Millionen verehrt wird. Er befindet sich in einem Tempel an einem Flussufer, an dem, ähnlich wie in Varanasi, Tote verbrannt werden. Pornografie, befindet die Dame. Doch man kann es auch anders sehen: Der Lingam ist ein uraltes, allgemeinverständliches Symbol des Schöpfergottes Shiva, der Naturkraft, des Lebens.

Ich denke nach. Die Technik brachte uns Indien nah, in einigen Köpfen aber ist Indien noch immer so weit weg wie vor der Entdeckung des Seeweges durch Vasco da Gama. Da sollte sich wohl etwas ändern.

Japan

November 2013

Meine Lieblingslektüre sind Berichte über fremde Länder und Kulturen. Ich freute mich daher sehr über ein Buch von Nobuhiro Abiko mit dem überraschenden Titel «Japan No Logik!», das mir kürzlich geschenkt wurde. Darin erklärt ein japanischer Banker die Kulturunterschiede zwischen Ost und West – illustriert durch manche persönlichen Erfahrungen. Ich war sofort fasziniert. Nobuhiro Abiko hat seinen Kulturschock vor dreissig Jahren in der Schweiz erfahren, ich erlebte meinen vor sechzig Jahren in Japan und kann einiges nachfühlen.

Da war zunächst die Sprache. Mit Mühe hatte ich einige Brocken Japanisch gelernt, kam damit jedoch schlecht an. Wenn ich eine Tasse Tee verlangte, kicherten die Kellnerinnen verlegen, denn ich brauchte die Männersprache, was sehr ungehörig ist. Anders das Sprachproblem des Japaners. Er hätte seiner kleinen Tochter gerne Japanisch gelehrt, konnte das aber nicht, denn er darf nicht die Frauensprache reden. – Und dann die auf Millimeter bemessene fernöstliche Höflichkeit. Zur Begrüssung eine Verbeugung im exakt richtigen Winkel, dies je nach Rang und Alter des Gegenübers. Ich konnte nur alles falsch machen. Wie ich mit den Verbeugungen hatte Nobuhiro Probleme mit dem für ihn ungewohnten Händedruck. Oder die Tatsache, dass meine Gastgeber in Tokio ihre Katze mit Frau Katze ansprachen, während sich der Japaner überwinden musste, seinen Schweizer Schwiegervater schlicht Heinz zu nennen.

Ein weiterer Schock war die Begegnung mit der anderen Religion. Über den Anblick des gekreuzigten Christus schreibt Nobuhiro Abiko: «Es war ein fürchterlicher Anblick für mich, die Dornenkrone auf dem Kopf, der Körper nackt, zerschlagen, mit Nägeln an Händen und Füssen, aus denen Blut rann.» Leicht zu verstehen, dass der Kulturschock bei meiner ersten Begegnung mit Buddha sanfter ausfiel.

Cuzco, Peru

Juni 2012

Vor dem Sonnentempel in Cuzco in Peru sollen Maiskolben, Lamas, Schlangen und Kondore aus purem Gold gestanden haben. Jetzt schmückt das Gold die zahlreichen Kirchen, wo ich geblendet vor all den kostbar funkelnden Altären, Säulen, Balustraden, Heiligen und Engeln stehe. Von den Inkatempeln dagegen sind fast nur kahle Mauern geblieben; die Altäre stehen verlassen, durch die Ruinen weht kühler Bergwind. Sind die alten Götter tot?

Der peruanische Reiseleiter weiss es besser. Die dem Sonnengott Inti und der Erdgöttin Panchamama gewidmeten Kulte sind nicht mehr verboten. Mehr noch: Vor den Festungsmauern von Saquaywamans wird wieder ganz offiziell Inti Rayumi gefeiert, dies, wie ein Video zeigt, mit Teilnahme aller Bevölkerungsschichten inklusive der Regierungsspitze. Doch auch im privaten Kreis erleben die Riten der Inkas vielerorts eine Renaissance.

«Warum bringt ihr Panchamama Opfergaben dar, ihr seid doch moderne Christen?» frage ich daher einen in Cuzco tätigen Hotelier schweizerischer Abstammung. Die Antwort klingt fröhlich: «Klar sind wir moderne Christen, klar haben wir elektrisches Licht. Doch der Strom kann einmal ausfallen, weshalb wir auch Kerzen im Haus haben. Ähnlich halten wir es mit der Religion. Wir sind Christen, doch wenn der liebe Gott einmal Pause macht, hoffen wir auf die alten Götter.» So haben sich in den Andenstaaten die Religionen verschmolzen.

Am Pago de la Tierra, einer Art Erntedankfest, werden nach traditionellem Brauch Cocablätter getauscht. Die Madonna kann die indianischen Züge von Panchamama annehmen, und oft ist nicht klar, wer nun eigentlich für eine gute Kartoffelernte zuständig ist, die sanfte Madonna oder die mächtige Mutter Erde. Mit dem neu erwachenden Stolz der indigenen Bevölkerung sind in den Anden die alten Götter zurückgekehrt.

Manali, Indien

Dezember 2012

Die Statistik weiss es: Für fast die meisten Schweizer bedeuten Ferien Sonne, Sand und Meer. Ganz anders in Indien. Sonne, Sand und Meer haben die 180 Millionen Inder, die sich einen Urlaub leisten können, zwar im eigenen Land im Überfluss. Trotzdem wollen sie zumeist nicht an einer Beach grillieren. Einen hübsch-braunen Teint haben sie schliesslich von Natur aus, also weg aus den glühend heissen Städten, hinaus ins Grüne, zu den kühlen Schneebergen des Himalaja, zum Beispiel nach Manali. Die typische Hill Station liegt zwei Tagesreisen nördlich von Delhi und hat sich in den letzten Jahren zu einer wahren Feriengrossstadt entwickelt. Über Dutzende von Kilometern sind die Berghänge mit Gästehäusern, Hotels und Resorts übersät. Zudem haben sich viele Bauernhäuser in Home-Stays oder Familienpensionen verwandelt. Was glücklicherweise noch fehlt, sind die riesigen Bettenburgen. – Bleibt die Frage, was die Inder in den Ferien tun. Die Antwort ist einfach: genau wie die Schweizer nur sehr wenig. Sie spazieren in Parks, trinken Tee, unterhalten sich mit der Familie, besuchen einen Aussichtspunkt, natürlich stets mit Tempel, und gehen im Stadtzentrum einkaufen. Ganz neu entdecke ich dort eine grosse Kaffeebar sowie einen Durgatempel auf einer kleinen Terrasse, beide Orte gleich gern frequentiert.

Populär auch eine Gruppe von Heiligtümern, die in einem üppigen Park liegen und verschiedenen Gottheiten geweiht sind. Aus einem der Tempelhöfe gelangt man direkt zu den von einer heissen Quelle gespeisten Bädern, was natürlich sehr praktisch ist. Noch grösserer Andrang im Basar, wo vor allem Punjabi-Kleider und Götterbilder zu haben sind.

Zu einem besonders schönen Krishna erklärte der Reise­leiter: Krishna hat 16 000 Gopis, also Hirtenmädchen, die ihn lieben und verehren. Doch eine Gopi kann jedermann sein, auch ein Mann, denn alle wollen mit Krishna tanzen. Grossartig, dieses Indien, wo die Menschen mit ihrem Gott tanzen dürfen.

Taschkent, Usbekistan

August 2012

«Jesus war ein Sufi, ein sehr guter Sufi», erklärt der grosse Sufi-Meister Scheich Nursafardiy meiner kleinen Gruppe in Taschkent in Usbekistan. Wir sitzen an einem Flüsschen im Garten seines Zentrums, wo viele Disziplinen gelehrt werden: Philosophie, Heilkunst, Kampfsport, Kalligrafie, Tanz, Meditation und einiges mehr, wir erfrischen uns an einem starken Kräutertrank, hören und staunen. Der Scheich hat fünf Frauen und zwanzig Kinder, er lebte drei Jahre in einem tibetischen Kloster, erlernte in Shaoling chinesische Kampfkunst, beschäftigte sich in Mumbay mit Hindu-Philosophie und hielt in Paris Vorlesungen an der Sorbonne – ein wahrhaft globaler Mensch. Doch wie geht das alles zusammen mit der im Westen gängigen Definition des Sufismus als islamische Mystik? «Falsch», sagt der ganz in Grün gekleidete Patriarch, «Sufismus gehört zu keiner Religion, Sufismus zeigt den unmittelbaren Weg zu Gott, Sufismus ist frei.»

So gab und gibt es Sufis allüberall. Neben Jesus war auch Moses ein Sufi, ebenso Puschkin, Tolstoi sowie die meisten der grossen persischen Dichter, Buddha natürlich, Laotse, Gandhi, der Dalai Lama … Nur Mohamed gehört nicht in den erlauchten Kreis, denn er hat mit Waffen gekämpft. Zwiespältig die Situa-tion der Sufis in unserer Zeit. Vielerorts wurden sie verfolgt, so unter Atatürk und in der Sowjetunion, weshalb der Scheich fliehen musste. Doch nun erobert der Sufismus dank Weltoffenheit, Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter und vielseitigem Angebot an Disziplinen Anhänger in Ost und West. In den fünf Nursafardiya-Zentren in Usbekistan studieren Westerners Heilkunst, Gymnastik und Philosophie, und der Scheich hat überall Freunde. Allein die drehenden Derwische, die in den Restaurants von Istanbul die Touristen unterhalten, mag er nicht.

Die Gruppe ist beeindruckt, nur eine fromme Frau hat das mit Jesus als Sufi falsch verstanden und zitiert Johannes 16: «Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.» Sicher, auch Jesus war ein Sufi, aber nicht der einzige. Und zu Gott kommen können Sufis auf vielen Wegen.

Disentis, Schweiz

April 2014

Disentis hat einen neuen Priester, der Changeth (Georg) Geevarghese heisst und aus Kerala in Südindien stammt. Ob das gut geht? Meine Bündner Freundin Margrith beruhigt: Georg ist im Dorf beliebt, spricht gut Deutsch, lernt sogar Romanisch und sieht blendend aus. Neugierig geworden, beschliesse ich, den exotischen Priester zu besuchen, und treffe einen wahren Bilderbuch-Inder, den man in Bollywood für eine Prinzenrolle brauchen könnte. Doch Pater Georgs Karriere nahm einen völlig anderen Weg. Er studierte erst in Trivandrum Philosophie, dann Theologie und wurde im Dezember 2000 zum Priester geweiht. Es folgten einige Jahre missionarischer Tätigkeit, wobei Georg betont, er habe immer nur Leute getauft, die aus eigenem Antrieb kamen. Und das hat seinen Grund: In Indien ist Missionieren verboten oder zumindest nicht gern gesehen, Missionare tarnen sich daher öfters als Sozialarbeiter. Ironie der Geschichte: In Kerala gab es früher Christen als bei uns, denn dort soll schon anno 79 der Apostel Thomas eine Kirche gegründet haben.

Im Jahre 2005 übersiedelte Pater Georg nach Rom, studierte Moraltheologie und dissertierte über das Thema «Die Bedeutung der Sexualität im Leben eines zölibatären Priesters». Gleichzeitig amtete er mehrmals als Ferienvertretung in der Schweiz, bis er von seinem Bischof nach Disentis vermittelt wurde. Dort hat er sich schnell eingelebt. Er pflegt freundschaftliche Kontakte mit den Klosterbrüdern, kocht gern, verbessert seine Sprachkenntnisse und bemüht sich um persönliche Kontakte.

Predigen macht Georg keinerlei Mühe, Inder können nun einmal besonders farbenfroh und kenntnisreich von Gott reden. Sein einziges Problem: Kinder und Jugendliche haben in Disentis oft wenig Kontakt zur Kirche, Religion ist für sie nicht wichtig. So mag sich der christliche Gott gedacht haben: Schicken wir den lieben Georg in ein Land, wo der dringend gebraucht wird. In Indien gibt’s ohnehin genug Religion.

BILD : ETH-BIBLIOTHEK ZÜRICH, BILDARCHIV/STIFTUNG LUFTBILD SCHWEIZ /
FOTOGRAF: SWISSAIR / LBS_SR04-033873 / CC BY-SA 4.0