Frau Renninger, eine grundsätzliche Frage zu Beginn: Warum sollte ich mich als gesunder junger Mensch mit dem Tod beschäftigen?
Suzann-Viola Renninger Sollen müssen Sie nicht. Das Leben wird früher oder später eh dafür sorgen, dass Sie es tun. Meine Erfahrung ist, dass die Auseinandersetzung mit dem Sterben hilft, gut zu leben. Schreiben Sie das aber bitte nicht.
Wieso nicht?
Renninger Das klingt zu plattitüdenhaft.
Der Tod als Lebendigmacher, das ist doch ein schöner Gedanke.
Renninger Je älter ich werde, desto mehr betrifft mich meine Endlichkeit. Ich teile da ja die Erfahrung mit vielen: Als Kind sterben die Grosseltern, als Erwachsene die Eltern – und dann stehen wir selbst in der ersten Reihe. Als im vergangenen Jahr mein Vater und kurz darauf eine enge Freundin starb, traf mich das mit voller Wucht. Mein Vater starb daheim, begleitet von mir und anderen Familienmitgliedern. Meine Freundin mit der Sterbehilfeorganisation Exit. In den Wochen danach dachte ich oft an Werner Kriesi. Bereits vor Jahren hatten wir besprochen, ein Buch zu schreiben, das von seinen Erfahrungen als Freitodbegleiter ausgeht und auch die damit verbundenen gesellschaftlichen und philosophischen Fragen nicht zu kurz kommen lässt. Doch ich liess mich von zu viel anderem ablenken. Nun, nach dem Tod meines Vaters und meiner Freundin, wollte ich nicht länger zögern. Anfang Juni 2020 rief ich Werner Kriesi an und fragte: Wäre das nicht der Sommer für unser Buch?
Zum ersten Mal getroffen haben sich Werner Kriesi und Suzann-Viola Renninger vor vier Jahren auf einem Podium. Das Thema: Der assistierte Suizid. Sie moderierte, er war Gast. Im Anschluss kamen sie miteinander ins Gespräch, blieben im Kontakt. Nach weiteren gemeinsamen Veranstaltungen an der Volkshochschule Zürich reifte die Idee für das Buch. Suzann-Viola Renninger und Werner Kriesi sind im Wohnzimmer des Häuschens der Autorin nahe der Zürcher Langstrasse. Hier, genauer draussen auf dem Balkon, sassen sich die beiden einen Sommer lang fast jede Woche viele Stunden gegenüber. Dabei erzählte Werner Kriesi der Autorin die Geschichten von Sterbewilligen, aber auch von seinen eigenen moralischen Dilemmas. Die beiden wirken vertraut, was nicht heisst, dass sie sich gegenseitig mit Kritik schonen, wie sich später im Gespräch zeigen wird.

Werner Kriesi, Pfarrer und Exit-Sterbebegleiter
Werner Kriesi stammt aus Dübendorf ZH und wuchs freikirchlich auf. Er lernte Schreiner und liess sich zum evangelikalen Prediger ausbilden. Später studierte er Theologie an der Universität Basel und absolvierte das Vikariat. Er war acht Jahre Pfarrer in Basel und zwanzig Jahre in Thalwil ZH. Zwei Jahre nach seiner Pensionierung 1995 begann er für Exit als Sterbebegleiter zu arbeiten. Kriesi ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er lebt in Langnau am Albis ZH.
Herr Kriesi, Sie helfen Menschen, dass diese ihrem Leben ein Ende bereiten können. Sehen Sie sich eher als Sterbehelfer oder als Freitodbegleiter?
Werner Kriesi Als Freitodbegleiter. Der Begriff Sterbehelfer wird mehr von Ehrenamtlichen benutzt, die in Krankenhäusern und Pflegeheimen am Bett von Sterbenden sitzen und dafür sorgen, dass es ihnen im Rahmen des Möglichen gutgeht. Sie sprechen mit ihnen, feuchten die Zunge, kühlen die Stirn. Diesen Leuten ist es ein grosses Bedürfnis, sich von Personen wie mir abzugrenzen.
Warum?
Kriesi Eine Sterbehelferin sagte mir einmal, dass sie beim Sterben helfe, und nicht zum Sterben. Es bestand kein Zweifel, dass sie sich punkto Moralität mir überlegen fühlte. Klar ist, dass ich als Mitarbeiter von Exit beim assistierten Freitod helfe. Das heisst: Nach einer längeren Vorbereitung bringe ich einem sterbewilligen Menschen das Sterbemittel, damit er dieses selbständig einnehmen kann. Am Ende tritt der Tod ein.
Wie wurde aus dem Herrn Pfarrer eigentlich der Freitodbegleiter Werner Kriesi?
Kriesi Nach dem Gottesdienst wartete ein schwerkranker Mann aus der Gemeinde auf mich. Ich hatte ihn bereits seit vielen Jahren als Seelsorger begleitet. Er war Anfang 70 und litt an einer Verhärtung des Bindegewebes. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwer. Seine Frau pflegte ihn rund um die Uhr, er hatte unermessliche Schmerzen.
«Die Reformierten lassen Menschen, die selbstbestimmt aus dem Leben scheiden wollen, alleine.» Werner Kriesi, Pfarrer und Exit-Sterbebegleiter
Im Rollstuhl sitzend, informierte er mich, dass mit Exit schon alles organisiert sei. Nach einem kurzen Moment der Stille meinte er: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer, dann sind Sie dabei.» Das war Ende 1995, in meinem letzten Jahr vor der Pensionierung. Bis dahin kannte ich Exit nur vom Hörensagen.

Suzann-Viola Renninger, Philosophin
Suzann-Viola Renninger, geboren und aufgewachsen in Deutschland, promovierte nach einem Studium der Naturwissenschaften in Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie zog einen Sohn gross, gründete eine Softwarefirma, arbeitete auf der Redaktion der «Neuen Zürcher Zeitung», war Co-Herausgeberin sowie Redaktorin der Autorenzeitschrift «Schweizer Monatshefte» und Leiterin des Ressorts Philosophie an der Volkshochschule Zürich. Heute arbeitet sie als Philosophin an der Universität Zürich und lehrt dort vor allem Wissenschaftstheorie.
Frau Renninger, im Buch sind Sie als Gegenüber von Werner Kriesi sehr präsent. Am Ende war mir nicht klar: Befürworten Sie eigentlich das, was Werner Kriesi tut?
Renninger Als Autorin konzentrierte ich mich darauf, ihm genau zuzuhören. Was war ihm wichtig im Umgang mit Sterbewilligen und Angehörigen? Was ging in ihm vor, wenn er sich mit Behörden und Ärzten anlegte? Und warum zögerte er bei dem einen Freitodwunsch und setzte bei einem anderen alles daran, dass er so rasch wie möglich in Erfüllung ging? All das wollte ich verstehen. Was ich vermeiden wollte: vorschnell Bewertungen zu fällen.
«In vielen Stunden erzählte mir Werner Kriesi von seinen Freitodbegleitungen. Ob ich immer so wie er entschieden hätte? Ich weiss es nicht. Noch so intensives Zuhören ersetzt das eigene Erleben nicht.» Suzann-Viola Renninger, Philosophin
Dann frage ich anders : Sind Sie für oder gegen die Möglichkeit, selbstbestimmt zu sterben?
Renninger Zielt Ihre Frage darauf ab, dass ich das Recht habe, über das vorzeitige Ende meines Lebens zu bestimmen? Dann lautet die Antwort: Ja. Oder darauf, dass ich das Recht habe, dass mir unter allen Umständen dabei geholfen wird? Dann lautet die Antwort: Nein. Sie sehen, Ihre Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Das ist auch der Grund, weshalb ich kein Thesenbuch geschrieben habe, sondern von den Schicksalen der Betroffenen ausging.
Gab es Momente, in denen Sie Werner Kriesis Entscheidungen nicht nachvollziehen konnten, Menschen beim Sterben zu helfen?
Renninger Nachvollziehen schon, doch ob ich selber auch so gehandelt hätte, kann ich nicht sagen. Noch so intensives Zuhören ersetzt das eigene Erleben nicht.
Herr Kriesi, über all die Jahre haben Sie Hunderte Menschen in den Tod begleitet. Erschreckt Sie manchmal diese Anzahl?
Kriesi Erschrecken nicht. Aber es waren viele, das ist so.
«Ich wollte kein Thesenbuch über die Freitodhilfe schreiben und auch keine vorschnelle Bewertungen fällen. Ich wollte von den Schicksalen der Betroffenen ausgehen.» Suzann-Viola Renninger
Können Sie sich noch an alle erinnern?
Kriesi Nicht dass ich mich an jedes Gesicht erinnern kann. Was ich aber weiss: Von jeder Person ist etwas in mir zurückgeblieben. Viele Menschen können auf ein reiches Leben zurückblicken. Sie sind dankbar, dass ich sie auf dem letzten Wegstück begleite. Diese Begleitungen belasten mich nicht. Daher verblasst auch die Erinnerung.
Welche Sterbebegleitungen können Sie nicht vergessen?
Kriesi Vor allem die von jungen Menschen mitten im Leben. Also von Menschen mit Krebs im Endstadium, Tetraplegie oder psychischen Krankheiten.
«Die Vorstellung, eine junge Frau im Alter meiner Kinder in den Tod zu begleiten, belastete mich enorm.» Werner Kriesi
Haben Sie ein Beispiel?
Kriesi Ich begleitete über Jahre eine junge Frau, noch keine 35. Sie litt seit ihrem 16. Lebensjahr an einer Schizophrenie. Halluzinationen und Wahnvorstellungen machten ihr das Leben wortwörtlich zur Hölle. Ich hatte zugesagt, die Freitodbegleitung zu machen – dennoch fragte ich mich ständig: Kann ich da wirklich dahinterstehen? Die Vorstellung, eine Frau im Alter meiner Kinder in den Tod zu begleiten, belastete mich enorm.
Trotzdem haben Sie es getan. Warum?
Kriesi Weil mir klar wurde, dass ihr Sterbewunsch so überlegt und tief war, dass ich ihr die Hilfe nicht verweigern durfte. Denn nur weil eine Situation mich stark belastet, heisst das nicht, dass auch die Freitodbegleitung falsch ist. Meine Verunsicherung hatte einzig und allein mit mir zu tun.
Was hat Sie verunsichert?
Kriesi Da war eine tiefe Trauer in mir, dass es überhaupt solche Situationen gibt. Weiter war ich in einem Dilemma: Einerseits stand es mir nicht zu, den Sterbewunsch einer psychisch schwerkranken Frau in Frage zu stellen – daran änderte auch ihr Alter nichts. Andererseits wollte ich von Herzen gerne, dass sie noch länger wartete.
Wie konnten Sie sicher sein, dass keine Hoffnung auf Heilung besteht?
Kriesi Ein Freitod wird nicht heute geplant und morgen umgesetzt. Das ist ein Prozess, der in akuten Fällen Wochen, in der Regel Monate dauert. Im Falle dieser Frau waren es Jahre. Dabei wurden unzählige Abklärungen gemacht. Die Ethikkommission von Exit befasste sich damit, auch lagen zwei psychiatrische Gutachten vor. Von allen Seiten wurde bestätigt, dass die Prognose hoffnungslos sei. Nach menschlichem Ermessen schien eine Heilung undenkbar. Zu tief war die Erkrankung im Gehirn verankert.
In solchen Fällen ist auch von «austherapiert» die Rede. Ein Befund, der unter Fachleuten umstritten ist — bei chronischen Erkrankungen gäbe es immer Möglichkeiten.
Kriesi Über so viele Jahre wurde jede verfügbare Therapie ausprobiert, und keine brachte Linderung. Was es in der Zukunft für Behandlungsmöglichkeiten gibt, das weiss tatsächlich niemand. Was ich aber weiss: Diese Frau hatte über eine lange Zeit hinweg mehrfach und klar gesagt, dass sie sich absolut sicher sei, mit diesem Leid nicht mehr weiterleben zu können. Ich habe als Pfarrer weiss Gott viel Leid gesehen. Doch es gibt eine Kategorie von Leid und Schmerz, die sich ein halbwegs gesunder Mensch gar nicht vorstellen kann. Wer da nun kommt und sagt, die Patientin soll das aushalten oder auf künftige Therapien hoffen, der verharmlost das Leiden dieses Menschen.
Angenommen, Exit hätte es abgelehnt, die Frau zu begleiten. Was wäre passiert?
Kriesi Während unserer Begegnungen hatte sie mehrere Verzweiflungsausbrüche. Es kam mehrmals vor, dass sie sich vor meinen Augen aus dem Fenster stürzen wollte.
Ist das nicht Nötigung?
Kriesi Zuerst einmal war es die maximale Verzweiflung eines Menschen. Dass diese wiederum eine enorme Wirkung auf meine Hilfsbereitschaft hatte, ist unbestritten. Als Freitodbegleiter war ich im engen Austausch mit Fachleuten. In solch belastenden Fällen ist die Reflexion des eigenen Handelns unerlässlich.
«Wir müssen alles Mögliche dafür tun, dass Menschen mit psychischen Krankheiten wieder zurück ins Leben finden. Ich weiss aber auch: Es gibt Situationen, in denen Menschen einzig im Tod den Ausweg sehen.
Das auszuhalten ist unsagbar schwierig.» Werner Kriesi
Verstehen Sie Kritiker, die sich schwertun mit dem Gedanken, dass Exit junge Menschen wie diese Frau in den Tod begleitet?
Kriesi Und wie ich das verstehe! Wir müssen alles Mögliche dafür tun, dass solche Menschen wieder zurück zur Freude am Leben finden. Ich konnte als Pfarrer wie auch als Freitodbegleiter in sehr vielen Fällen mithelfen, dass dies gelang. Aber ich weiss eben auch: Es gibt Situationen, in denen Menschen einzig im Tod den Ausweg sehen. Das auszuhalten ist unsagbar schwierig.
In jüngerer Zeit kam Exit mehrfach in die Schlagzeilen. Es wurden Fälle publik, in denen sich Exit-Sterbebegleiter ruppig gegenüber Angehörigen verhielten und nicht genügend vorbereitet waren. Hat Sie diese Kritik überrascht?
Kriesi In allen grossen Organisationen passieren Fehler. Es ist aber kein Geheimnis, dass ich das starke Wachstum von Exit kritisch sehe. 2010 waren es noch 52 000 Mitglieder, heute sind es bereits 130 000.
Mit dem Wachstum kamen die Probleme?
Kriesi Erfolgt das Wachstum allzu stürmisch, dann macht sich dies früher oder später immer bemerkbar. Was lange Zeit gut ging, könnte jetzt mit den stark steigenden Mitgliederzahlen zu einem Problem werden. Bis heute ist Exit als Verein organisiert, dessen ehrenamtlicher Vorstand die Geschicke verantwortet. In Anbetracht der Grösse und der verantwortungsvollen Aufgabe wäre aber eine andere Organisation nötig. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Welche Anforderungen müsste ich erfüllen, um als Sterbebegleiter zu arbeiten?
Kriesi Eine stabile Persönlichkeit und umsichtige Umgangsformen sind unerlässlich, ebenso ein hohes Mass an Kommunikationskompetenz. Die Bedürfnisse von sterbewilligen Menschen sind sehr unterschiedlich, ebenso jene der Angehörigen – auf diese gilt es einzugehen. Weiter sollten Sie in der Lage sein, mit spirituellen Bedürfnissen umzugehen. Will jemand etwa über ein Leben nach dem Tod sprechen, dann müssen Sie darauf eingehen können.
Exit wurde 1982 gegründet und ist die älteste Sterbehilfeorganisation der Schweiz. Sie zählt 135 000 Mitglieder und begleitete im vergangenen Jahr 913 Menschen beim assistierten Suizid. Im Gegensatz zu anderen Sterbehilfeorganisationen können nur Personen mit Schweizer Bürgerrecht oder Wohnsitz in der Schweiz Mitglied werden. In jüngerer Zeit geriet Exit mehrfach in die Schlagzeilen. Der Vorwurf: Die Organisation würde bei den Sterbebegleitungen nicht die nötige Sorgfalt an den Tag legen. Ebenso kritisiert wurde das von der Organisation angehäufte Vermögen, das Ende 2018 rund 30 Millionen Franken betrug. Exit zahlt ihren Freitodbegleiterinnen und Freitodbegleitern eine Entschädigung von mehreren Hundert Franken pro Fall, unabhängig von der Vorbereitungszeit oder ob eine Person tatsächlich den Freitod wählt.
Erfüllt Ihrer Meinung nach das Gros der Sterbebegleiterinnen und Sterbebegleiter von Exit diese Anforderungen?
Kriesi Bitte fragen Sie das Exit.
Renninger Werner, bei allem Verständnis: Könntest du deine Kritik nicht deutlicher formulieren? Du hast fast 25 Jahre deines Lebens für Exit und die Überzeugung eingesetzt, dass Menschen Hilfe erhalten sollen, die sterben wollen. Deine Bedenken müssen Gehör finden.
Kriesi Was ich zu sagen habe, ist an den richtigen Stellen platziert. Dieses Gespräch ist nicht der Ort dafür.
Frau Renninger, wären Sie bereit, für Exit Sterbebegleitungen zu machen?
Renninger Nicht, solange ich eine Uhr trage.
Wie meinen Sie das?
Renninger Der Mensch, der den Tod sucht, muss den Takt vorgeben – und nicht eine Freitodbegleiterin, die besorgt ist, alles, was sie so zu erledigen hat, unter einen Hut zu bringen. Was ich sagen will: Diese Arbeit braucht viel Zeit, Einfühlungsvermögen, Sorgfalt. Und viel Kraft. Das geht nicht, wenn man, wie ich, mitten im Berufsleben steht. Abgesehen davon sollte eine Person nicht zu viele Begleitungen durchführen. Diese Arbeit ist belastend, wie die Schilderungen von Werner Kriesi zeigen.
Herr Kriesi, dann frage ich Sie: War Ihnen die Anzahl der Begleitungen zu hoch?
Kriesi Ich habe sie inzwischen stark reduziert. Heute sind es nur noch eine Handvoll im Jahr. Früher gab es jedoch schon Jahre mit über 25 Sterbewilligen. Da sind auch die dabei, die sich nach dem ersten Telefonat mit mir als Freitodbegleiter nicht mehr melden oder den letzten Schritt nicht gehen.
Renninger Dennoch, mir scheint das eine zu hohe Zahl zu sein. Für dich, für alle. Exit hätte dir da ein Limit setzen sollen.
Frau Renninger, bei Ihren Recherchen zeigte sich Exit nicht sonderlich auskunftsfreudig, als Sie mehr über die Finanzen wissen wollten. Warum war das so?
Renninger Das stammt wohl aus einer Zeit, als Exit heftigen Angriffen ausgesetzt war. Nur so kann ich mir das karge Kommunikationsverhalten erklären.
Ihr Vater starb palliativ betreut, Ihre enge Freundin mit der Hilfe von Exit. Welches Sterben haben Sie in besserer Erinnerung?
Renninger Leben enden so unterschiedlich, wie sie geführt werden. Da gibt es kein Besser oder Schlechter, über das ich als Tochter oder Freundin urteilen kann. Ich hatte den Eindruck, dass meine Freundin in ihrer letzten Lebensphase einen grösseren Freiraum hatte als mein Vater – und dass sie dadurch gelassener, gefasster schien. Das hat wohl auch damit zu tun, dass in der Schweiz freier mit dem Thema umgegangen wird. Dazu haben die Sterbehilfeorganisationen entscheidend beigetragen – auch wenn am Ende die wenigsten Mitglieder die Freitodhilfe in Anspruch nehmen.
«Komme ich mit meinen Freunden in Deutschland auf die Freitodhilfe zu sprechen, dann fehlen rasch die Worte. Anders in der Schweiz: Hier kennen fast alle eine Person, die mit Exit gegangen ist.» Suzann-Viola Renninger
In Deutschland sind die Bedenken gegenüber der Sterbehilfe ungleich grösser als in Ihrer Wahlheimat. Warum eigentlich?
Renninger Was in Deutschland im entferntesten an die Zeit des Nationalsozialismus und die Hitlerschen Euthanasieprogramme erinnert, ruft Abwehr hervor. Wenn ich mit meinen deutschen Freunden und Bekannten auf die Freitodhilfe zu sprechen komme, fehlen rasch die Worte. In Deutschland ist der Verweis auf das Dritte Reich ein Gesprächsstopper. Hier in der Schweiz ist die Gegenwart nicht in diesem Masse durch die Geschichte belastet.
Und so wird offener über das Sterben und die Möglichkeit der Freitodhilfe diskutiert. Mit wem ich in der Schweiz auch über das Thema spreche: Kaum jemand ist darunter, der nicht irgendeine Person kennt, die mit einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben geschieden ist. Hinzu kommt, dass die vielbeschworene Schweizer «Ja, aber»-«Vielleicht auch»-Kultur den Kompromiss sucht. Dabei bleibt vieles vage – was wiederum den Raum für neue Denkmöglichkeiten offenhält.
Herr Kriesi, im Kanton Zürich hat sich die Stimmbevölkerung über Jahrzehnte mehrfach für die Sterbehilfe ausgesprochen.
Kriesi Die Abstimmungen haben dafür gesorgt, dass sie immer wieder intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Parlamente, Parteien und Kirchen durften sich zwar äussern, mehr aber nicht. Am Ende entschied das Stimmvolk. Das hatte zur Folge, dass die heutige liberale Sterbehilfe-Praxis in der Bevölkerung breit abgestützt ist. Vom SBB-Kontrolleur bis zur Unternehmerin hatten alle die Möglichkeit, sich zu äussern. Und bei meinen Begleitungen hat mir immer imponiert, dass die Menschen aus allen Schichten kommen. In Deutschland ist der Sterbehilfe-Diskurs viel eher einer unter Akademikerinnen und Intellektuellen. Erst letztes Jahr hat das dortige Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der assistierte Suizid nicht strafbar ist.
Kommen wir nochmals zurück zu Ihrer Zeit bei Exit. Nach der Pensionierung waren Sie dort rasch ein gefragter Mann. Wie kam das?
Kriesi Ich war selbst überrascht, wie rasant das alles ging: Ich hatte erst zwei oder drei Sterbebegleitungen für Exit gemacht, als ich von der Generalversammlung mit der höchsten Stimmenzahl in den Vorstand gewählt und dort zum Teamleiter der Freitodbegleiter bestimmt wurde. Damals fragte ich mich schon: Was ist da los?
Ihre Antwort?
Kriesi Rückblickend weiss ich: Mein Pfarrtitel hatte Wirkung. Die Anwesenden dachten sich wohl: Wenn schon mal einer von der Kirche kommt – also jener Institution, die uns immer nur angreift und kritisiert –, dann wählen wir den jetzt auch. Kam bei Freitodbegleitungen das Gespräch auf meinen Beruf, dann waren die Reaktionen in den allermeisten Fällen positiv. Säkularisierung hin oder her: Viele Leute denken, dass ein Pfarrer versucht, sein Leben nach einer höheren Moral auszurichten, und dabei auf eine besondere Art und Weise mit Gott verbunden ist. Wenn nun ausgerechnet so einer beim Sterben hilft, dann kann es nicht ganz falsch sein, was sie tun.
Hat diese Überhöhung des Pfarrberufs Ihr Ego beflügelt?
Kriesi Gar nicht, oder zumindest nicht bewusst. Ich habe meinen Beruf nie hervorgekehrt und wollte auch nicht mit Herr Pfarrer angesprochen werden. Manchmal war er sogar nachteilig: Ein katholischer Priester zeigte sich beim telefonischen Erstkontakt alles andere als begeistert, von mir begleitet zu werden. Gleich zu Beginn liess er mich wissen, dass er hochallergisch auf jegliche Form christlicher Trösterei sei. Auch habe er keine Lust, sich vor einem Pfarrkollegen für seinen Sterbewunsch rechtfertigen zu müssen. Wir haben uns am Ende des Gesprächs aber gut gefunden.
Kirche und Exit, das ist bis heute eine schwierige Beziehung. Warum eigentlich?
Kriesi Zuerst eine Präzisierung: Die römisch-katholische Kirche lehnt den assistierten Suizid klar ab. Sie bezeichnet ihn als Sünde, ohne Wenn und Aber. Bei den Reformierten lassen sich zum assistierten Freitod alle Haltungen finden. Von völlig einverstanden über verständnisvoll bis wutentbrannt gibt es alles. Ein Zürcher Kirchenratspräsident war dem Thema gegenüber sehr offen, ein anderer mied mich ab dem Zeitpunkt, als er von meiner Tätigkeit bei Exit erfuhr. Trafen wir uns zufällig, war ihm das peinlich. Es war völlig klar, was er empfand.
Hat Sie das verletzt?
Kriesi Eher enttäuscht. Ich wusste von früher, dass er mich als Pfarrer hoch geschätzt hat. Dass ich nun Freitodbegleitungen machte, muss ihn getroffen haben. Anders kann ich mir sein Verhalten nicht erklären. Mich stört aber nicht so sehr die Befindlichkeit einzelner Kirchenvertreter. Ärgerlich ist, dass sich die Kirche einer Grundsatzdebatte verweigert. Unlängst gab die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz in Ihrem Magazin zu Protokoll, dass die Reformierten eine moderne Religionsgemeinschaft seien, deren Theologie Teil der Gesellschaft sein müsse. Da musste ich doch ziemlich staunen.
Warum?
Kriesi Weil es nicht stimmt. Auch die Reformierten lassen Menschen, die selbstbestimmt aus dem Leben scheiden wollen, alleine. Natürlich gibt es viele Pfarrerinnen und Pfarrer, die Sterbewillige bis zum Schluss begleiten und das auch sehr gut machen, keine Frage. Die kirchlichen Empfehlungen für den Umgang mit dem assistierten Freitod signalisieren jedoch immer auch, dass man den Sterbewunsch eines Menschen zwar respektiere, dieser aber halt doch irgendwie nicht so gut sei.
Eine Kirche darf doch Bedenken anmelden bei einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sie kritisch sieht?
Kriesi Natürlich darf sie das, aber wie wird die Meinung der reformierten Kirche gebildet? In dieser Frage wohl kaum an der Basis, denn dort sind die Menschen weiter. Vor einigen Jahren hatte mich ein Gemeindehelfer für ein Referat in seine Kirchgemeinde eingeladen. Das Zentrum war voll, das Interesse gross. So gross, dass der Pfarrer meinte, er müsse nun ostentativ die Rolle des Bedenkenträgers einnehmen. Irgendwann stand ein Gemeindemitglied sichtlich genervt auf und sagte ihm ins Gesicht, dass es nicht an ihm sei, für das richtige Denken im Saal zu sorgen. Jeder der Anwesenden sei durchaus fähig, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ebenso würde niemand dem Kriesi einfach aus der Hand fressen. Jedenfalls brachte der Abend das Problem der Kirche sehr gut auf den Punkt: Die Menschen wollen keine Einlassungen, weder von einem Theologen noch von einem Exit-Vertreter. Die Menschen wollen selber denken.
Was ich bei der kirchlichen Kritik an der Sterbehilfe nicht verstehe: Auch beim sogenannten Sterbefasten führt der Sterbende den Tod herbei, indem er auf Flüssigkeit und Nahrung verzichtet. Damit hat die Kirche kein Problem. Warum aber bei der assistierten Sterbehilfe?
Kriesi Hört ein Krebskranker im Endstadium mit Trinken und Essen auf, dann befindet er sich bereits in Todesnähe. Mit dieser Form von Sterbehilfe können die Kirchen leben. Anders der assistierte Freitod: Da suizidieren sich auch Menschen, die noch eine lange Lebenszeit vor sich haben könnten. Denken Sie an den Fall der psychisch kranken Frau. Die Freitodhilfe ist für viele Kirchenvertreter eine Hilfe zum «Selbstmord». Ein Begriff, den ich nie verwenden würde. In ihm sammelt sich aber all das, was die Kirche signalisiert: Wer Suizid begeht, lädt Schuld auf sich.
Frau Renninger, woher stammt diese Denkfolge?
Renninger Dafür müssen wir zurück in die Antike gehen. Dort wurde die Selbsttötung meist toleriert oder gutgeheissen. Die Stoiker sprachen etwa von der letzten Tür, die uns offenstehe, wenn alle anderen zugefallen sind oder auch nie geöffnet waren. Der Kirchengelehrte Augustinus – wir sind nun im 5. Jahrhundert nach Christus – lehnte die Selbsttötung entschieden ab. Er legte fest: Wer sich selbst töte, der sei ein Mörder.
Warum lud Augustinus den Suizid mit Sünde auf?
Kriesi Das hat theologische, vor allem aber politische Gründe. Diese sind mit grosser Wahrscheinlichkeit auch in der römischen Welt der Sklaven zu suchen. Deren Leben kann man sich gar nicht grässlich genug vorstellen. Massenhaft suizidierten sich diese Menschen – ganz zum Leidwesen der Grossgrundbesitzer. Für das Kapital waren tote Sklaven allerdings keine gute Sache, dementspechend wollte man der Selbsttötung Einhalt gebieten. Augustinus und seine Theologie kamen da gerade recht. Das muss man sich mal vorstellen: Diese Sklaven lebten in der reinsten Hölle, und dann kommt Augustinus und befördert sie nach ihrem Tod gleich wieder dorthin. Theologisch brutaler geht’s fast nicht. Umso schlimmer, dass die Essenz dieser Theologie bis heute wirkt, und das längst nicht nur bei Christen.
Wie meinen Sie das?
Kriesi Nicht ohne Grund gilt Augustinus als der bedeutendste Kirchenvater für den Westen. Sein Einfluss auf die Theologie und die Kirchengeschichte ist enorm. Das Augustinische
Nein zur Selbsttötung steckt als Gefühl tief in uns Menschen drin. Selbst in mir, der intellektuell eine ganz andere Position einnimmt.
«Das Leben als Geschenk Gottes und nur dieser könne es auch wieder nehmen? – Das ist hartherzige Schreibtischtheologie, weder zu Ende gedacht noch vom Leben verifiziert.» Werner Kriesi
Das Leben sei ein Geschenk Gottes und nur dieser könne es auch wieder nehmen. Was sagen Sie einer Person, die so denkt?
Kriesi Das ist hartherzige Schreibtischtheologie, weder zu Ende gedacht noch vom Leben verifiziert. Reden bringt da leider meist nicht viel. Dem Sklaven wäre es doch nie in den Sinn gekommen, sein Leben als ein Geschenk Gottes zu sehen. Mit dem Risiko, mich zu wiederholen: Solche Theologie, die auch bei den Reformierten da und dort noch zu finden ist, nimmt das schwere Leid von Menschen nicht ernst. Da können sie noch lange von Trost und Palliativmedizin reden.
Das stimmt so nicht. In einer Stellungnahme des Zürcher Kirchenrats zur Suizidhilfe aus dem Jahr 2010 steht ausdrücklich geschrieben, dass man bei schwer leidenden Menschen Suizid und Beihilfe nicht verurteilt.
Kriesi Dann wissen Sie sicher auch, dass im selben Papier geschrieben steht, dass aus Sicht der Kirche die Tötung keine Option sei, um Leiden zu lindern. Merken Sie etwas ? Da steckt viel Augustinus drin.
Ich kann darin vielmehr ein grosses Misstrauen gegenüber der organisierten Sterbehilfe erkennen. Der Kirchenrat unterscheidet, ob ein naher Bekannter einem Menschen in Not sterben hilft oder ob Exit dies tut.
Kriesi Exit wurde von einem reformierten Pfarrer mitgegründet. Im Kanton Zürich haben vier Theologen, drei davon mit Pfarrtitel, die Organisation massgeblich mitgeprägt. Das waren alles anerkannte Leute, auch in der Kirche. Dass die Kirche nun nichts mit Exit zu tun haben will, ist stossend. Seit zwanzig Jahren laufen Gesprächsangebote von mir ins Leere oder bleiben Briefe unbeantwortet, obschon die Empfänger mir liebe Pfarrkollegen waren.
Was würden Sie sich wünschen?
Kriesi Mit einem ehrlichen Interesse an der Arbeit von Exit wäre schon viel getan. Dieser Dialog wäre für alle gut, besonders aber für Reformierte mit Exit-Mitgliederausweis – und das sind nicht wenige.
Herr Kriesi, es ist wohl nicht sonderlich originell, gegen Ende des Gesprächs zu fragen, wie Sie einmal sterben möchten?
Kriesi Originell nicht, aber durchaus berechtigt. Im kommenden Jahr werde ich ja 90. Ich bin viel mit meiner Familie zusammen, ein beglückendes Gefühl. Auch geniesse ich es noch immer, lange Wanderungen in der Natur zu unternehmen. Aber ich spüre auch, dass ich müde bin von diesem Erdentheater. Ich werde immer dünnhäutiger.
Was wollen Sie damit sagen?
Kriesi Nicht das, was Sie wohl denken. Solange ich gut beeinander bin, bleibe ich gerne noch ein bisschen. Das lohnt sich nur schon wegen meiner Angehörigen, an denen ich sehr hänge. Ich werde aber nicht um jeden Preis bleiben. Medizinische Behandlungen, die mich mehr tot als lebendig ins Alterssiechtum führen, lasse ich nicht über mich ergehen. Ich will nicht gepflegt werden und auch sonst niemandem zur Last fallen. Die Stunde meines Sterbens möchte ich mit uneingeschränkter Denk- und Sprachkraft selber begehen können, damit ich in würdiger Form meinem Leben …
… dann gibt es also auch unwürdige Formen, um ein Leben zu beenden?
Kriesi Ich würde doch nie ein Werturteil über würdiges oder unwürdiges Leben und Sterben fällen. Das entspricht nicht meinem Wesen. Ebenso sage ich nicht, dass ein pflegebedürftiger Mensch eine Last ist. Wenn ich von Würde und Last spreche, dann ist das eine konsequent subjektive Wertung, die nur für mich gilt. Es macht mich traurig, dass ich in diesem Punkt fast schon vorsätzlich falsch verstanden werde.
Das war nicht meine Absicht. Frau Renninger, angenommen, Werner Kriesi würde Sie bitten, beim Sterben an seiner Seite zu sein. Was antworten Sie ihm?
Renninger Dass ich die nötige Kraft dafür finden werde, auch wenn mir schon allein die Vorstellung schwerfällt. Werner, ich kann dir doch keine Bitte ablehnen, die du anderen so oft erfüllt hast.
Kriesi Das bedeutet mir sehr viel, Viola.
Oliver Demont ist Redaktionsleiter bei bref.
Der Fotograf Michel Gilgen lebt in Zürich.
Suzann-Viola Renninger: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Werner Kriesi hilft sterben». Limmat, Zürich 2021; 256 Seiten; 35.90 Franken.