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Autorin: Erika Burri
Freitag, 03. März 2017

Der Aufstieg Südkoreas ist ein Wunder, ein Wirtschaftswunder zumindest. Vor wenigen Jahrzehnten war da noch Krieg. Zuerst zwischen den Alliierten und den japanischen Besatzern, dann um die Ideologie: Kommunismus gegen liberales Gedankengut, Norden gegen Süden. Die Spaltung des Landes entlang des 38. Breitengrads wurde durch das Ende des Koreakriegs 1953 zementiert. Heute gehört Südkorea zu den fünfzehn stärksten Volkswirtschaften der Welt. Dominiert wird das Land von wenigen Firmenkonglomeraten, die unter anderem Autos und Elektronik für die ganze Welt produzieren.

Mit der Trennung wurde auch Chung Meehyuns Familie auseinandergerissen. Die Grossmutter lebte mit der Mutter im Süden, Grossvater und Onkel blieben im Norden, woher die Familie ursprünglich stammt. Ihren Grossvater und ihren Onkel hat Chung Meehyun, die 1963 zur Welt kam, deshalb nie kennengelernt. «Meine Grossmutter hat unter der Trennung stark gelitten. In jedem Bettler, der an die Tür klopfte, und in jedem kriegsversehrten Mann auf der Strasse sah sie ihren eigenen Ehemann oder ihren Sohn», sagt Chung Meehyun heute in der Kantine des Basler Alterszentrums Ländliheim. Sie besucht hier eine Freundin, die sie kennengelernt hat, als sie selbst noch in der Schweiz lebte.

Zu Basel hat Chung Meehyun, Professorin für Systematische Theologie an der Universität Yonsei in Seoul, eine besondere Beziehung. Hierher kam sie, um über Karl Barth zu doktorieren, diesen «Kirchenvater des 20. Jahrhunderts», wie er oft genannt wird. Für die Arbeit erhielt sie 2006 den Karl-Barth-Preis. Nach dem Doktorat ging sie zurück nach Südkorea, wo sie elf Jahre als Dozentin an einer Frauenuniversität tätig war. 2005 kam sie erneut nach Basel, um bis 2013 als Genderbeauftragte für Mission 21 zu arbeiten. Die Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft, aber auch in der Kirche ist ihr ein grosses Anliegen.

Chung Meehyun sagt, sie sei ein Wunschkind gewesen: Nach zwei Knaben hätten die Eltern nun gerne ein Mädchen gehabt. Ein seltener Wunsch im Südkorea der sechziger Jahre, das damals noch zu den ärmsten Agrarländern der Welt gehörte und dessen Gesellschaft stark patriarchal geprägt war. Und wenn Chung Meehyun wie so oft kritisch auf ihr Land blickt, dann hat sich an letzterem auch nicht viel geändert, trotz all den Fortschritten. Obwohl Frauen in Korea ebenfalls Pfarrerinnen werden können, gibt es kaum eine Gemeinde, wo sie auch tatsächlich wirken.

Korea hat ein Problem

Chung Meehyun spricht leise, aber klar in einem sorgfältigen Deutsch. Nebst Theologie hat sie auch Germanistik studiert. Ihr ist wichtig, dass man sie versteht. Sie fragt nach, ob angekommen sei, was sie gemeint habe. Auf Gegenfragen wird sie selber meistens etwas expliziter als in ihren anfänglichen Aussagen. Sie ist keine Frau, die Missstände laut anprangert. Dennoch wird klar: Sie ist nicht einverstanden damit, wie die Christen in ihrem Heimatland oft die Augen vor dem verschliessen, was offensichtlich ist: Korea hat ein Problem. Wirtschaft und Politik sind verbandelt, nicht selten korrupt. Viele Protagonisten der Korruptionsskandale der letzten Jahre sind Christen. Diese machen zwar nur einen knappen Drittel der Bevölkerung im Land aus, stellen aber einen Grossteil der Eliten. Chung Meehyun wirft den Christen eine falsche Frömmigkeit vor. «Diese Leute», sagt Chung, «reden von Gott, aber nicht vom Handeln nach christlichen Werten.» Würden sie das tun, müsste ihnen auffallen, dass im Handeln ihrer Elite viel Eigennutz und nur wenig Nächstenliebe zu finden ist.

Chung Meehyun sagt das, wenige Tage bevor der Erbe des Samsung-Imperiums Lee Jae Yong verhaftet wird. Vor einem Monat lehnte das Gericht einen Antrag auf Haftbefehl noch ab. Nun scheinen sich die Beweise zu verdichten, dass auch er Teil ist des Korruptionsskandals rund um die Staatspräsidentin Park Geun Hye, die im Dezember bis auf weiteres des Amtes enthoben wurde (siehe Text rechts). Samsung ist mit Abstand die grösste Firmengruppe des Landes und Samsung Electronics mit weltweit 300 000 Mitarbeitern der grösste Konzern. Das deutsche Handelsblatt schreibt, etwas belustigt, dass fast alle Chefs der mächtigen südkoreanischen Firmenkonglomerate einen Teil ihrer Karriere wegen enger Verbindung von Politik und Wirtschaft im Gefängnis verbracht hätten.

Chung Meehyun

Christentum ohne Zwang

Chung Meehyun ist sich bewusst, dass sie etwas ausholen muss, damit Westler, die Korea nicht kennen, ihre Kritik an den Christen verstehen. So gibt es in ihrem Land keine christliche Landeskirche. Alle Religionen sind gleichwertig: Buddhismus, Schamanismus, Christentum und der Islam, den türkische UN-Soldaten nach Korea brachten.

 

Das Christentum kam im 18. Jahrhundert zu den Koreanern, zuerst durch Katholiken, dann ein paar Jahrzehnte später mit den westlichen Expansionsmächten auch das reformierte Gedankengut. Die USA, Grossbritannien, Frankreich, Russland und Japan drängten das Land, bis 1910 von der Joseon-Dynastie regiert, zur Öffnung mit dem Ziel, ungehindert Handel treiben zu können.

Kolonialisiert wurde Südkorea dann allerdings von Japan, und nicht von einer der Expansionsmächte mit christlicher Prägung. Das Christentum wurde den Koreanern also nicht aufgezwungen. Eher konnten die Missionare die Bewohner für sich begeistern: Sie brachten Wissen und Medizin, gründeten Schulen und Universitäten. Als ein christlicher Missionar und Mediziner den Kaiser von einer schweren Krankheit heilen konnte, war das Grund genug, dass die Koreaner in dieser Religion Verheissung sahen. «Christ zu sein», sagt Chung Meehyun, «bedeutet auch heute noch, fortschrittlich zu sein.»

Als ein christlicher Missionar den Kaiser von einer schweren Krankheit heilen konnte, sahen die Koreaner in dieser Religion Verheissung. «Christ zu sein», sagt Chung Meehyun, «bedeutet auch heute noch, fortschrittlich zu sein.»

Chung selber wurde an einer christlichen Frauenuniversität ausgebildet. Heute lehrt sie an einer der führenden Universitäten des Landes, ebenfalls christlich geprägt, wie die meisten Eliteschulen. Doch die reformierten Christen, den Katholiken zahlenmässig weit überlegen, haben sich eingerichtet in der Gesellschaft, sie sind institutionalisiert, schützen und stützen die Eliten. Ein Grossteil ist deshalb auch für den Verbleib der Staatspräsidentin im Amt mit der Begründung: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Das treffe nicht auf alle zu, sagt Chung, aber auf die Mehrheit der Evangelikalen – und achtzig Prozent der Christen in Korea seien Evangelikale, eher konservativ im Glauben und oft noch patriarchalisch in der Gesinnung.

Stein ins Rollen bringen

Sie selber gehört zu den progressiven Christen, die das Wort Gottes leben wollen und die dazu beitragen möchten, dass die Überschüsse gerecht verteilt werden. In diesem Anliegen gleicht sie den Reformatoren, welche die herrschende katholische Kirche einer Sozialreform unterziehen wollten. Und in der Reformation kennt sich Chung Meehyun aus. Im Ländliheim erwähnt sie Zwingli und die Waldenser, die im 12. Jahrhundert vom reichen Kaufmann Petrus Valdes begründete vorreformatorische Bewegung. Valdes machte, so wird überliefert, die «Verweltlichung und die Unwürdigkeit des Klerus» für den Niedergang des religiösen Lebens verantwortlich. Auch Zwingli hatte die Korruption angeprangert und wirtschaftliche und soziale Reformen gefordert.

Chung Meehyun sieht hier durchaus Parallelen zur Situation im Südkorea von heute. Sie würde sich wünschen, es gäbe in ihrem Heimatland unter den Christen einen Zwingli oder einen Valdes, der den Reichtum aufgab, um sich auf Wesentliches zu konzentrieren. Das Verbandeltsein der Christen mit der Elite sollte benannt und hinterfragt werden. «Südkoreas Christen», sagt sie, «brauchen eine Reformation.»

An der Universität versucht sie, die Studentinnen für ein lebendiges Christentum zu begeistern. In ihrer Disziplin, der Systematischen Theologie, beschäftigt sie sich damit, Glaubensfragen in den kulturellen Kontext zu bringen, biblische Gedanken ins Heute zu übersetzen und auf die Herausforderungen einer hochdifferenzierten, multireligiösen Gesellschaft anzuwenden. Ihre Grossmutter, die sich erst spät zum Christentum bekannte, stellte sich Jesus noch als blonden, blauäugigen Jüngling vor. Da seien die jüngeren Generationen schon weiter, sagt Chung, die aber auch merkt, dass generell das Interesse am Christentum sinkt. Chung macht sich keine Illusionen: Die Reformation wird nicht plötzlich kommen. Doch indem sie mahnt und Missstände erwähnt, kann sie vielleicht ganz langsam einen Stein ins Rollen bringen.

Seit Monaten schwelt in Südkorea ein Korruptionsskandal, der bis in die obersten Etagen von Politik und Wirtschaft hineinreicht. Im Zentrum steht der Mega-Konzern Samsung, der nicht nur Elektronik und Autos produziert, sondern auch Krankenhäuser und Minen betreibt, Versicherungen verkauft und Vermögen verwaltet. Gemäss Medienberichten soll der Konzern Schmiergelder in der Höhe von 36 Millionen Dollar an verschiedene Organisationen gezahlt haben, die sich im Besitz von Choi Soon Sil und deren Familie befinden. Pikant daran: Choi ist eine enge Vertraute von Präsidentin Park Geun Hye und soll ihren politischen Einfluss genutzt haben, um eine umstrittene Fusion innerhalb des Samsung-Konglomerats zu ermöglichen.

Aufgrund der Vorwürfe wurde Park im Dezember 2016 vorübergehend des Amtes enthoben. Gegen sie laufen verschiedene Untersuchungen, unter anderem durch das Parlament sowie einen Sonderermittler. Wie die NZZ diese Woche berichtete, soll Park die Ermittlungen jedoch massiv behindern. Demnach soll sie sich weigern, ihre Aussagen aufzeichnen zu lassen; auch eine Durchsuchung ihrer Büroräume soll die Präsidentin verhindert haben.

Trotz diesen Hindernissen werden die Untersuchungen zur Korruptionsaffäre voraussichtlich in diesen Tagen abgeschlossen. Allgemein wird erwartet, dass das südkoreanische Verfassungsgericht bis Mitte März über die definitive Absetzung der Präsidentin entscheidet.

Die Beteiligten der Korruptionsaffäre bestreiten die Vorwürfe. vbu