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Autorin: Katrin Groth
Freitag, 10. Februar 2023

Mitten in der Trauerfeier bricht eine Frau ­zusammen. Ihre Haut ist faltig, um den Kopf hat sie ein schwarzes Tuch gebunden. Ge­rade eben stand noch ein Priester mit Weihrauch vor dem Sarg, jetzt quetschen sich die Sanitäterinnen zu der Stelle durch. Zusammengesunken sitzt die Frau zwischen Blumengestecken, Astern in Blau und Gelb, um die ­Stiele sind schwarze Bänder gewickelt. Die Frau betrauert ­ihren Sohn.

Drei Särge stehen vor dem Altar, dahinter Soldaten mit Fahne, Holzkreuzen und Fotos der Verstorbenen. Die Priester verlesen ihre Namen: Juriy, Mykola, Artem, 46, 39, 36 Jahre alt. Sie erzählen ihre Geschichten, die sich um Familie, Ausbildung, Brigade drehen. Alle drei zogen freiwillig in den Krieg gegen Russland. Der Singsang der Priester übertönt das Schluchzen.

Alle zusammen rufen «Slawa Ukrajini», lang lebe die Ukrai­ne. Für jeden toten Soldaten einmal. Sie singen. Und sie beten das Vaterunser, dreimal.

Nestor Ryzyk wendet den vollen Rängen in der Kirche St. Peter und Paul den Rücken zu, er blickt auf die drei Familien, die sich in einem Halbkreis rund um die Särge versammeln. Auf Mütter, Ehefrauen, Freundinnen, Kinder. Ein Junge im Teenageralter wird von seinen Verwandten gestützt, sein Gesicht ist aschfahl. Nestor Ryzyk ist Militärseelsorger, Kaplan, ein Geistlicher mit besonderen Aufgaben. Er betreut Soldaten der ukrainischen Armee. Es sei schwer, die Kinder zu sehen, die sich nie an ihren Vater erinnern werden, wird er später sagen.

Drei Särge stehen an diesem Samstag in der Kirche St. Peter und Paul – für Juriy, Mykola und Artem. Sie wurden 46, 39 und 36 Jahre alt.

Draussen zerren Kinder ihre Mütter an den Armen durch die Altstadt. Vor einem Café sitzt ein Mann auf einem Schemel und kurbelt an seiner Drehleier, eine knallgelbe Strassenbahn rattert an der Kirche vorbei zum Rathaus. Der Krieg scheint weit weg an diesem Samstag Ende September. Die Frontlinie ist ­Hunderte Kilometer entfernt, der Himmel strahlend blau, die Cafés in der Altstadt von Lwiw sind rappelvoll.

Der Westen der Ukraine gilt als relativ sicher. Der Tod erreicht die Stadt trotzdem. Er zieht unsichtbare Fäden der Trauer durch die Stadt, von der Kirche zum Friedhof, vom Rathaus zur Leichenhalle. Der Tod verbindet Menschen – und er trennt sie. Er ist Teil des Alltags – und er ist tabu. Nur wenige sprechen offen darüber. Trotz dem grossen Respekt für die Toten selbst, die im Krieg «gefallenen Helden».

Stirbt ein Soldat oder eine Soldatin, wird er oder sie in ihre Heimatstadt zurückgebracht.

Als die Soldaten den ersten Sarg auf ihre Schultern heben, sinken die Menschen in der Kirche St. Peter und Paul auf die Knie. Nestor Ryzyk geht voraus, er trägt ein schwarzes Gewand, eine bestickte Stola, Rot und Gold, die blonden Haare hat er zur Seite gekämmt.

Vor der Kirche spielt die Militärkapelle. Die Soldaten schieben die Särge ins Auto, legen Holzkreuz und Blumenkränze dazu. Sieben für diesen Zweck bereitgestellte Stadtbusse bringen die Menschen von der Kirche zum Friedhof. Einer der Busfahrer hat zwei Bilder an seine Sonnenblende geklemmt. Sie zeigen Maria und Christopherus, den Schutzpatron der Wanderer und Reisenden, mit dem kleinen Jesus auf der Schulter.

Vor dem Rathaus stoppt der Konvoi aus Leichenauto und Bussen. Soldaten stehen aufgereiht, davor ein Vertreter des Bürgermeisters. Ein Trompeter spielt eine Melodie in Moll. Fussgänger bleiben stehen, manche sinken auf die Knie, falten die Hände. Eine Frau bekreuzigt sich.

Kaplan Nestor Ryzyk fährt als Seelsorger regelmässig an die Front.

Fast täglich ziehen Trauerzüge durch die Stadt, werden ein, zwei oder mehr Soldaten beerdigt. Allein an diesem Samstag sind es fünf. Die Zeit seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar fühle sich an wie ein einziger, sehr langer Tag, sagt einer der Priester. Die Männer und Frauen, die sie beerdigen, sind ­gerade einmal so alt wie die jungen Seelsorger selbst.

Mit 27 Jahren ist Nestor Ryzyk der Jüngste. Seit 2020 arbeitet er in der Garnisonkirche St. Peter und Paul. Einst eine ­Jesuitenkirche, gehört der 400 Jahre alte Barockbau heute zum Zentrum für Militärseelsorge. Seit 2008 hat die ukrainische griechisch-katholische Kirche die Hoheit, die grösste Glaubensgemeinschaft im Westen der Ukraine. Oberhaupt ist der Papst, die Traditionen dagegen sind eher orthodox.

Hunderte kleine Fo­tos zeigen die Gesichter gefallener Soldaten. Daneben liegen zerstörte Waffen und Munition aus acht Jahren Krieg.

Um sie bei möglichen Angriffen zu schützen, sind die Fenster der Kirche mit Spanplatten zugenagelt. Drinnen wurden Leinwände im Seitenschiff aufgestellt. Hunderte kleine Fo­tos zeigen die Gesichter gefallener Soldaten. Daneben liegen zerstörte Waffen und Munition aus acht Jahren Krieg, von der ­Decke baumeln Hunderte Papierkraniche. Sie hängen seit den Euromaidan-Protesten 2014, als Zeichen des Friedens. Das Büro von Nestor Ryzyk und den anderen Seelsorgern befindet sich im Seitenschiff der Kirche.

Die Kirche sei voller als in Friedenszeiten, erzählt der Ka­plan. Kaum jemand, der nicht einen Menschen verloren hat.
In der Familie, unter Freunden, Kolleginnen. In ihrer Trauer ­wenden sich viele an die Kirche, suchen Trost im Glauben.

Als Militärseelsorger sind die Geistlichen mindestens einmal im Monat an der Front, zwei oder drei Tage lang. «Länger wäre zu gefährlich», sagt Nestor Ryzyk. Bei den Soldaten habe er das Gefühl, helfen zu können. Er nimmt ihnen die Beichte ab, spendet Trost, betet mit ihnen. Sie fragen, ob sie in der Kirche heiraten können, in den fünf Tagen Fronturlaub. «Ihre häufigste Frage ist, ob das Töten gut oder schlecht ist», sagt Nestor Ryzyk.

Die Frage berührt den Kern des christlichen Glaubens. Im Alten Testament steht: Du sollst nicht töten. Ryzyk tut sich schwer mit einer Antwort. Auch ein Geistlicher kann die Soldaten nicht freisprechen von der Last, die sie sich mit dem Töten aufladen – im Christentum ist dies Gott vorbehalten. Doch ist es sein Job als Militärseelsorger, für diese Menschen da zu sein. «Die Soldaten wollen das Gefühl haben, dass es richtig ist, was sie tun. Dass es normal ist», sagt er.

Also antwortet er den Soldaten, dass Mord böse ist. «Aber nicht alles Böse ist eine Sünde.» Wenn ein Kind nach seinen Eltern tritt, sei das auch böse, aber noch lange keine Sünde. Leise, mit verknoteten Fingern, ergänzt er: «Wir haben den Krieg nicht begonnen. Wir müssen uns schützen, unser Land, unsere Freiheit und unsere Würde.» Wer Uniform trage, sei bereit, für seine Familie, sein Land und seine Kirche zu sterben. «Das Leben für jemand anderen zu geben ist die höchste Form der Liebe.»

Aber machen es diese Worte für die Soldaten besser? ­Erträglicher? Auch Nestor Ryzyk weiss es nicht.

Der Friedhof ist voll

Der Trauerzug hat nun den Friedhof erreicht. Die ­Nationalhymne erklingt, Soldaten feuern drei Schüsse in den Himmel. Wenig später lassen die Totengräber die Särge langsam in die Erde gleiten. Drei junge Frauen, Töchter eines gefallenen Soldaten, halten sich an den Händen, ein kleiner Junge weint. Seine Mutter legt ihm ihre Hände auf die zitternden Schultern. Die Priester sprechen einen Segen, schütten erst Weihwasser ins Grab, dann ein Schäufelchen Erde.

Die Trauernden stehen stumm, nur ab und an unterbricht ein Schluchzen die Stille, als die Totengräber zu schippen be­ginnen. Alte Männer mit verlebten Gesichtern, in blauen Arbeits­jacken und -hosen, die schwarzen Stiefel mit Schlamm beschmiert. Sie schaufeln minutenlang, bis das Grab voll ist und ein kleiner Hügel es bedeckt. Erst dann treten die Angehörigen vor, legen Blumen nieder.

Friedhofsgärtner Stefan Ivanschuk muss auch als Totengräber ran.

Es sei schwer, wenn kleine Kinder weinen, sagt Stefan ­Ivanschuk nach der Zeremonie. Er ist Friedhofsgärtner, 60 Jahre alt. Seine grossen, rauhen Hände umfassen den Spaten, tiefe Falten ziehen sich über seine Stirn. Einer der drei Toten ging mit seinem Sohn einst auf dieselbe Schule.

Früher gab es ein bis zwei Beerdigungen pro Monat. Jetzt sind sie auf dem Friedhof unterbesetzt, muss auch er, der Gärtner, als Totengräber ran. Morgens um acht beginnt die Arbeit, mit einem Bagger heben er und seine Kollegen die Gräber aus. Am Vorabend erfahren sie, wie viele.

«Wir haben sie verheiratet, ihre Kin­der getauft. Jetzt sollten sie mit ihren Kindern spielen oder Karriere machen.» Kaplan Nestor Ryzyk

«Wenn Alte oder Kranke beerdigt werden, verstehe ich das, aber wenn Jüngere sterben, tut mir das in der Seele weh», sagt er. Nestor Ryzyk wird später sagen, dass der jüngste Soldat, den er beerdigt hat, 20 Jahre alt war. Normal sei das nicht, auch nicht für ihn als Seelsorger. «Wir haben sie verheiratet, ihre Kin­der getauft. Jetzt sollten sie mit ihren Kindern spielen oder Karriere machen.»

Eine Wand aus Wellblech, Maschendraht und Friedhofsmauer trennt die frischen Gräber vom alten Teil des Friedhofs. Lytschakiwski ist der älteste Friedhof von Lwiw, er wurde 1786 angelegt. Berühmtheiten wie der ukrainische Dichter und Natio­nalheld Ivan Franko sind hier begraben sowie Menschen der polnischen Oberschicht. Über 20 Jahre gehörte Lwiw zu Polen, war drittgrösste Stadt des Landes und kulturelles Zent­rum, nachdem sie 1918 im polnisch-ukrainischen Krieg erobert ­worden war. Grosse Grabanlagen erinnern an die Kriege und ­Aufstände der vergangenen beiden Jahrhunderte.

Anfangs wurden die Gefallenen aus dem Krieg mit Russland hier beerdigt, etwa 70 an der Zahl, doch nun ist der alte Friedhof voll, und die neuen Gräber werden auf einer Wiese im Norden ausgehoben, zwischen der Friedhofsmauer und einem Weltkriegsmonument. Das Marsfeld, benannt nach dem römi­schen Kriegsgott, ist etwa so breit wie ein Fussballplatz, aber drei­mal so lang.

Kaplan Nestor Ryzyk (ganz rechts) schüttet erst Weihwasser ins Grab, dann ein Schäufelchen Erde.

Verblichene Granitplatten im Boden erinnern an die ­Sowjetsoldaten, die im Zweiten Weltkrieg gegen die national­sozialistischen Besatzer fielen. Seit dem Frühjahr türmen sich blau-gelbe Blumengestecke, Plüschtiere, Kerzen. Weit mehr als 100 Gräber ziehen sich den Hang hinauf. An den Holzkreuzen hängen Fotos von Männern in Uniform. Viele von ihnen lachen.

Ein Rabe flattert krächzend davon, eine Strassenbahn ­rattert Richtung Innenstadt. Darin zwei Frauen, die sich im ­Vorbeifahren bekreuzigen.

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Verwaltet wird der Tod im Rathaus, Zimmer 205. Hinter der Tür sitzt Serhiy Kubelko, 28 Jahre alt, an einem runden Tisch mit vier Stühlen. Er ist Angestellter der Stadtverwaltung Lwiw und Assistent des Bürgermeisters. Er leitet die Abteilung Innenpolitik, kümmert sich um parlamentarische Anfragen, bereitet Beschlussvorlagen vor. Als die Zahl der Beerdigungen in die Höhe schoss, bekam er einen neuen Job. War er vorher die rechte Hand des Bürgermeisters, ist Serhiy Kubelko jetzt so etwas wie ein Bestatter im Auftrag der Stadt.

Gemeinsam mit den Familien der Toten geht er ins Leichenschauhaus, plant Ablauf, Ort und Zeremonie der Trauerfeier. Die Stadt übernimmt die Kosten, ein staatliches Unternehmen stellt Särge, Leichenauto und Blumen.

Wenn Serhiy Kubelko von den toten Soldaten spricht, ­leise und konzentriert, nennt er sie «die Helden».

Wenn Serhiy Kubelko von den toten Soldaten spricht, ­leise und konzentriert, nennt er sie «die Helden». Dabei dreht er einen Bleistift zwischen den Fingern. An der Wand hängt die Fahne eines Panzerbataillons, gelb und blau, darauf ein Panzer und der Schlachtruf: «Es gibt viele Feinde, aber wir sind mehr.» ­Militärische Durchhalteparolen für die Menschen im Rathaus. ­Kriegsrhetorik.

Bevor er in die Politik ging, studierte er Geschichte, machte ein Praktikum als Oberstufenlehrer. Vor einigen Wochen sass er mit der Familie eines ehemaligen Schülers in Zimmer 205. Auch eine frühere Kollegin sass ihm schon am runden Tisch gegenüber.

Wie viele Menschen seit Kriegsbeginn starben, dazu gibt es keine offiziellen Angaben. Während die Zahlen abgeschossener Raketen, zerstörter Fahrzeuge und toter russischer Soldaten an Cafétüren und Ladenfenstern in der Innenstadt von Lwiw prangen, schweigt man in der Ukraine über die eigenen Toten.

Fotos in der Kirche St. Peter und Paul erinnern an die toten Soldaten aus Lwiw. Wie viele es sind, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen.

Über Zahlen dürfe nur der Präsident sprechen, sagen die Ukrainerinnen. Und Wolodimir Selenski nannte einst 60 bis 100 Tote pro Tag. Die US-Armee schätzt inzwischen, dass rund 100 000 ukrainische und genauso viele russische Soldaten ­verletzt oder getötet wurden. In der Zivilbevölkerung geht das ­UN-Hochkommissariat für Menschenrechte von mehr als 6700 ukrainischen Todesopfern aus.

Fünf Gehminuten vom Friedhof entfernt liegt das Leichenschauhaus von Lwiw. Ein rundlicher Bau, eingequetscht ­zwischen der Gerichtsmedizin, einer Kapelle und der Universität. Im Vorraum stapeln sich leere Särge, an der Wand hängen ­Holzkreuze. Das Gemäuer bröckelt, die Tragen für die Leichen sind alt.

Stirbt ein Soldat oder eine Soldatin, wird er oder sie in ihre ­Heimatstadt zurückgebracht. Die Toten aus dem Regierungs­­bezirk Lwiw landen bei Antonij. Sein Job als Leichenwäscher ­gilt als systemrelevant, deshalb darf er nicht an die Front. Aus V­orsicht möchte er nur seinen Vornamen veröffentlicht sehen.

Antonijs Job als Leichenwäscher gilt als systemrelevant. Darum ist er nicht an der Front.

Antonij trägt Jeans und Fleecejacke, darüber ein grünes Hemd, wie es Ärzte und Krankenschwestern anhaben. Die kaputten Nähte sind mit groben Stichen geflickt worden. Er ist 34 Jahre alt, seit acht Jahren bereitet er Leichen für die Beerdigung vor. Zuletzt viele Coronatote, jetzt sind es vor allem Soldaten. Er sieht sie so, wie sie aus den Schützengräben kommen. Blutig, dreckig, verletzt.

In schwarzen Plastiksäcken kommen sie von der Front. ­Antonij zurrt den Reissverschluss des Plastiksacks mit der Nummer 5156 auf. Und guckt auf einen nackten, flachen Bauch, das ­Camouflage-Hemd ist hochgerutscht. Er greift nach dem Bein des Mannes, zieht am Schnürsenkel des rechten Schuhs, zieht am Stiefel, doch der sitzt fest. Antonij greift nach der Schere, die an einem Stück Rohr-Ende an der Wand baumelt, schneidet das ­Hosenbein auf, dann den Schuh. Den zweiten braucht er nicht ausziehen. Der Fuss fehlt.

Der Tote hiess Igor, er wurde 25 Jahre alt.

«Manchmal umarmen mich die Verwandten, weil ich der letzte war, der den Toten gesehen hat.» Antonij, Leichenwäscher.

«Manchmal umarmen mich die Verwandten, weil ich der letzte war, der den Toten gesehen hat», sagt Antonij. Ihre Tränen hält er nur schwer aus. Antonij fischt eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Der Geruch sei das Schlimmste, sagt er. Nicht einmal Menthol helfe. Er setze sich in den Klamotten fest, in den Haaren, überall.

Einmal lag ein ehemaliger Kommilitone vor ihm. «Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich daran denke», sagt Antonij. Er zieht die Leichen aus, wäscht sie, näht, wo es nötig und möglich ist. Zum Schluss holt er eine frische Uniform aus dem Pappkarton an der Wand. Grünes Shirt, grüne Unterhose, grüne Socken, darüber: Camouflage-Hose, Camouflage-Hemd mit ukrainischer Fahne, Stiefel. «Manchmal bekommen sie auch Make-up», sagt Antonij. Wenn der Tote zur Beerdigung abgeholt wurde, streicht erihn von der Liste. Der Papierstapel mit den Listen könnte ­einen ­Ordner füllen.

Wie viele Soldaten er schon auf dem Tisch hatte, darf er nicht sagen. An manchen Tagen sind es zehn Leichen auf einmal, heute nur eine. Antonij scrollt auf seinem Handy, dann zeigt er zwei Fotos, Urkunden zweier Militärbrigaden, deren Soldaten er für die Beerdigung zurechtgemacht hat. Danke, steht darauf, eine Anerkennung für Antonijs Arbeit.

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In der Kapelle gegenüber der Leichenhalle beginnt eine Trauerfeier. Wahrscheinlich ein Zivilist, sagt Antonij und bläst Zigarettenqualm in die Luft. Er zeigt ein Video von einer Militärübung auf dem Handy, und ein anderes mit seinem Sohn. Der 7jährige und sein Vater lachen, beide tragen Uniform, der ­Junge posiert mit dem Gewehr des Vaters in der Hand.

Ob er Angst habe vor dem Tod? «Ja. Natürlich», sagt Antonij.

Leben und Sterben in Lwiw

Am Samstagnachmittag, wenige Stunden nach den ersten Beerdigungen, wird in der Kirche St. Peter und Paul gefeiert – zumindest für kurze Zeit. Ein Kollege von Nestor Ryzyk traut ein älteres Paar. Die beiden halten Kerzen in der Hand. Sie trägt ukrainische Tracht, er Uniform. Der Mann hat gerade Urlaub von der Front.

Als die Hochzeit vorbei ist und die kleine Gesellschaft die Stufen vor der Kirche hinuntersteigt, stehen schon schwarz gekleidete Familien am Strassenrand. Diesmal tragen Soldaten zwei Särge vor den Altar. Wieder spielt die Militärkapelle die ukrainische Nationalhymne, wieder bringen Stadtbusse die Trauergäste von der Kirche zum Friedhof, wieder feuern Soldaten drei Schüsse in den Himmel. Wieder lassen die Totengräber die Särge in die Erde.

Gegenüber vom Friedhof befindet sich die Entbindungs­klinik Nr. 1. Würden die Ärztinnen und Pfleger aus dem Fenster schauen, könnten sie die Zeremonie beobachten. In den Fenstern des grau verputzten Gebäudes kleben Pappstörche, manche Fenster sind mit Tape in X-Form abgeklebt. Das soll bei einem Angriff vor Splittern schützen.

314 Kinder haben Geburtshelferinnen hier in den ersten sieben Monaten des Krieges auf die Welt geholt, eins davon im Luftschutzkeller. Den Schwangeren sagen sie: Das Leben muss weitergehen.

Übersetzerinnen vor Ort: Anastasia Lypska, Julija Mykytyuk, Oksana Sharyak, Yuri Arafski.