Herr Münch, am 24. Februar sind russische Truppen in die Ukraine eingefallen. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Ich war früh auf, als hätte ich etwas geahnt. Im Internet habe ich dann die Schreckensmeldungen gesehen und war schockiert. Einen Angriff von diesem Ausmass habe ich nicht erwartet. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 war zwar zu befürchten, dass Putin früher oder später den Donbass annektieren würde. Dass er aber so verrückt ist, die Ukraine an mehreren Fronten anzugreifen, damit haben wohl die wenigsten gerechnet.
Aus Ihrem Studium in Moskau haben Sie viele russische Freunde und Bekannte. Haben Sie bei Kriegsbeginn Kontakt mit ihnen aufgenommen?
Ja, mit einigen von ihnen habe ich mich ausgetauscht, vor allem über die Social Media. Die meisten verurteilen Putins Aggression. Trotzdem bin ich erstaunt darüber, wie viele desinformiert sind und hinter dem Krieg stehen. Kurz nach dem Überfall habe ich mich mit einem ehemaligen Mitstudenten unterhalten. Er ist überzeugt, dass der Angriff eine «Spezialoperation» ist, um die Ukraine zu «entnazifizieren». Etwas Ähnliches habe ich bereits 2014 erlebt, als ich die Annexion der Krim in den Social Media verurteilte. Einige meiner russischen Bekannten haben mir daraufhin die Freundschaft gekündigt. Auch auf Facebook habe ich Kontakte verloren.
Bilder wie die von Butscha haben die Welt schockiert. Hat sich die Einstellung Ihrer russischen Bekannten dadurch verändert?
Soweit ich weiss, nicht. Wer schon immer auf die Lügenpropaganda der russischen Staatsmedien hereingefallen ist, glaubt jetzt auch die Behauptung, die Kriegsverbrechen seien eine Inszenierung der Ukraine. Und wer den Krieg von Anfang an verurteilt hat, ist umso schockierter.
Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill I., unterstützt Putins Kriegsführung. Hat Sie das überrascht?
Nein, mit einer solchen Reaktion habe ich gerechnet. Bereits im zweiten Tschetschenienkrieg stand Kyrill auf der Seite des Kremls. Und bei der Annexion der Krim hat er vor allem geschwiegen. Überraschend war für mich aber die Heftigkeit, mit der er den Krieg rechtfertigt und als «metaphysischen Kampf» gegen das Böse überhöht. Solche Verlautbarungen sind skandalös aus dem Mund eines kirchlichen Oberhauptes. Dies umso mehr, als Kyrill damit gegen einen Grundsatz der eigenen Kirche verstösst.
Inwiefern?
Im Jahr 2000 verabschiedete die Moskauer Bischofssynode eine Sozialdoktrin, die unter der Federführung Kyrills entstanden war. Darin ist festgehalten, dass die Kirche in gewissen Fällen die Pflicht zum Widerstand gegen die Staatsmacht hat. Das sind zum einen Bürgerkriege, zum andern «aggressive äussere Kriege». Kyrill umgeht dieses Prinzip, indem er von einem Verteidigungskrieg gegen den Westen spricht. Dabei beruft er sich wie Putin auf den Mythos von der «heiligen Rus», einem übernationalen Grossrussland, in das der Westen angeblich einen Spaltkeil treiben will.
«Kyrill und Putin sind eine Schicksalsgemeinschaft eingegangen. Die russischorthodoxe Kirche übernimmt dabei die Rolle der Propagandaabteilung eines Unrechtsstaates.»
Was hat es mit diesem Mythos auf sich?
Kyrill geht davon aus, dass Russland, die Ukraine und Belarus eine geistliche und zivilisatorische Einheit bilden. Diese Einheit kann in seinen Augen genauso wenig geteilt werden wie die heilige Dreifaltigkeit. Zusammen mit den ethnischen Russen und russischsprachigen Menschen auf der ganzen Welt bildet sie die «heilige Rus». Das politische Zentrum dieser «russischen Welt» ist Moskau, das geistliche hingegen Kiew, wo die Rus im Jahr 988 unter Grossfürst Wladimir getauft wurde. Die Kiewer Rus wird als Wiege des russisch-orthodoxen Christentums betrachtet und gilt als Vorläuferin des heutigen Russlands. Darauf gründet Kyrill seine Überzeugung, die Ukraine dürfe nicht in den Westen integriert werden, sondern müsse in der Ureinheit der «heiligen Rus» verbleiben. Auch Putin bedient sich dieses Mythos und leitet daraus nationalistische Ansprüche ab.
Begründet Kyrill seine Haltung theologisch?
In den Predigten, die er seit Kriegsbeginn gehalten hat, verwendet Kyrill zwar theologische Worthülsen. Seine Argumentation ist aber vor allem ideologisch. Mit Putin verbindet ihn eine antiliberale, antidemokratische und antiwestliche Haltung. Es ist viel von traditionellen Werten beziehungsweise vom Wertezerfall des Westens die Rede. Diesen Kurs hat Kyrill schon länger eingeschlagen. Als er noch Metropolit von Smolensk und Kaliningrad war, ist unter seinem Patronat eine «Russische Doktrin» publiziert worden, in der radikale Nationalisten ihre Grossmachtsphantasien festhielten.
Im Ukraine-Krieg ist Kyrill ein enger Verbündeter Putins. Woher kommt diese Nähe von Kirche und Staat?
Die Verbundenheit von Kirche und Staat hat in Russland eine lange Tradition. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Ideal der «Symphonia», das vom byzantinischen Kaiser Justinian I. geprägt wurde. Demnach sollen Kirche und Staat füreinander verantwortlich sein und einander unterstützen. De facto bedeutete das aber vor allem eine Abhängigkeit der Kirche vom Staat. Eine mögliche Erklärung für die loyale Haltung ist auch die brutale Verfolgung der Kirche nach der Oktoberrevolution. Zehntausende Geistliche wurden in den zwanziger und dreissiger Jahren vom Sowjetregime ermordet. Dieses Trauma könnte mit ein Grund sein, dass sich die Kirche vor Konflikten mit der Staatsmacht scheut.
Putin gibt sich in der Öffentlichkeit gerne als gläubiger Christ. Wie ernst ist es ihm damit?
Putin erzählt, dass er in der Sowjetzeit heimlich getauft wurde und ein Kreuz trägt, das ihm seine Mutter geschenkt hat. Ich denke aber nicht, dass er ein religiöser Mensch ist. Er benutzt die Religion als Trägerin seiner nationalistischen Ideologie und sieht sie als Hüterin von traditionellen Werten. Zusammen mit Kyrill präsentiert er sich als Verteidiger des orthodoxen Glaubens gegen die Angriffe aus dem «verdorbenen» Westen.
Weltweit fordern Kirchenvertreter Kyrill dazu auf, gegen den Krieg Stellung zu beziehen. Wie gefährlich wäre das für ihn?
Man hört oft, Kyrill könne sich aufgrund seiner Abhängigkeit nicht gegen Putin stellen. Ich glaube schon, dass er einen gewissen Spielraum hätte. Kyrills Vorgänger hat im ersten Tschetschenienkrieg zum Frieden aufgerufen, ohne Kritik an der russischen Regierung zu üben. Das wäre auch für Kyrill eine Möglichkeit. Heikler wird es für ihn, wenn er den Krieg beim Namen nennt und als russischen Angriffskrieg verurteilt. Damit könnte er in einen ernsten Konflikt mit der Staatsmacht geraten. Auch würde er dadurch die Privilegien aufs Spiel setzen, die der Staat der Kirche gewährt. Gleichzeitig hätte ein solcher Protest einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Menschen in Russland. Er wäre ein starkes Zeichen.
Besteht noch Hoffnung auf einen Gesinnungswandel von Kyrill?
Ich kann mir schwer vorstellen, wie Kyrill von seinem ideologischen Kurs abzubringen ist. Er hat sich zusammen mit Putin in eine Sackgasse verirrt, aus der er ohne Gesichtsverlust wohl kaum herauskommt. Kyrill und Putin sind so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft eingegangen. Die russisch-orthodoxe Kirche übernimmt dabei die Rolle der Propagandaabteilung eines Unrechtsstaates.
Gibt es innerhalb der orthodoxen Kirche in Russland Widerstand gegen Kyrills Kurs?
Kyrill ist es in seiner Amtszeit gelungen, die Machtvertikale in seiner Kirche zu stärken. Seine Machtfülle ist mit der von Putin im Staat vergleichbar. Darum gibt es unter den Bischöfen in Russland auch keinen Widerstand gegen den Patriarchen. Bekannt ist hingegen ein Schreiben, mit dem sich über 270 Priester und Diakone für die Souveränität der Ukraine und eine sofortige Waffenruhe aussprechen. Das Schreiben ist allerdings vorsichtig formuliert, daher werden sie wohl in Ruhe gelassen. Man muss sich zudem die Relationen vor Augen führen : Die russisch-orthodoxe Kirche hat rund 40 000 Geistliche. Ebenso wenig hat sich unter den gläubigen Laien in Russland eine Friedensbewegung formiert. Widerstand gegen die Kriegspolitik ist ja auch sonst in der zivilen Gesellschaft kaum möglich.
Wie ist die Situation in der russisch-orthodoxen Diaspora?
Dort hat Kyrills Kurs zum Teil Widerspruch ausgelöst. Namhafte Bischöfe wie die Metropoliten von Litauen und der russisch-orthodoxen Gemeinden Westeuropas üben Kritik an ihrem Oberhaupt. Ich habe auch von einzelnen Priestern gehört, die sich von der russisch-orthodoxen Kirche losgesagt haben.
Komplizierter ist die Situation in der Ukraine, dort gibt es neben der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK) eine eigenständige orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU). Wie ist das Verhältnis der beiden Kirchen?
Der Krieg hat sie einander nähergebracht und teilweise zu einem ökumenischen Miteinander geführt, insbesondere bei der Hilfe für Binnenflüchtlinge. In der Ablehnung von Putins Krieg sind sich beide Kirchen einig, auch die UOK macht sich für die Souveränität der Ukraine stark. So hat ihr Oberhaupt, der Metro-polit Onufri, an Putin appelliert, den «Bruderkrieg» sofort zu beenden. Rund 260 Geistliche der UOK fordern zudem einen Kirchenprozess gegen Kyrill. In der Vergangenheit wurde die UOK allerdings oft als kremltreu wahrgenommen, und auch jetzt gibt es parlamentarische Vorstösse, die sie verbieten wollen. Umgekehrt wurde der OKU vorgeworfen, sie sei antirussisch geprägt und eher eine politische als eine kirchliche Organisation. Diese Differenzen sind durch den Krieg aber zweitrangig geworden. Meines Erachtens stehen die Chancen nicht schlecht, dass es zu einer weiteren Annäherung kommt.

Christian Münch
Christian Münch arbeitet als reformierter Pfarrer in der Berner Landeskirche, seit 2015 in Kandergrund-Kandersteg, ab dem 1. Juni in Muri-Gümligen. Daneben ist er Privatdozent am Institut für Historische Theologie an der Universität Bern. Münch hat in Bern Evangelische Theologie sowie in Bern und Moskau Neuere und Ältere russische Philologie studiert. Er hat eine Dissertation über das russische «Narrentum in Christo» verfasst und ist Mitherausgeber des Bandes «Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker». Der 53jährige lebt in Bern, ist verheiratet und Vater einer Tochter.
Kirchen und Religionsgemeinschaften haben weltweit zu Friedensgebeten aufgerufen, viele leisten humanitäre Hilfe. Tun sie damit genug?
Der Krieg in der Ukraine geht die Kirchen auf der ganzen Welt an. Es ist gut und wertvoll, dass sie zu Appellen und Manifestationen für den Frieden aufgerufen haben und humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge leisten. Mit allgemeinen Friedensbekundungen ist es aber meines Erachtens nicht getan. Die Kirchen, nicht zuletzt die orthodoxen, sollten Farbe bekennen. Sie sollten sich mit den unschuldigen Opfern solidarisieren und den Aggressor klar benennen. Putins menschenverachtende Vorstellungen und Verbrechen müssen entschieden verurteilt werden. Dabei wünsche ich mir, dass die Kirchen für die freiheitlichen Werte einstehen, die Putin bekriegt. Ich frage mich, ob nicht auch der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ein stärkeres Zeichen setzen könnte. Eine Idee wäre zum Beispiel, die orthodoxe Kirche der Ukraine einzubinden und sie an die ÖRK-Vollversammlung nach Karlsruhe einzuladen.
Wie haben Sie die reformierten Kirchen in diesem Krieg wahrgenommen?
Ich habe den Eindruck, dass sie präsent sind. Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) hat den Krieg klar verurteilt und zum Frieden aufgerufen. Das Heks unterstützt die Hilfe vor Ort und die Geflüchteten in der Schweiz. Und viele Kirchgemeinden setzen sich engagiert für Schutzsuchende aus der Ukraine ein. Das ist im Moment unsere primäre Aufgabe.
Engagieren Sie sich selbst in der Flüchtlingshilfe?
Ja, wir haben bei uns in Kandersteg einige Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Zuletzt ist ein Bus mit rund 20 Waisen- und Pflegekindern angekommen, die jetzt vorübergehend im Pfadiheim untergebracht sind. Angestossen wurde das Hilfsprojekt von einem Parlamentarier. Wir von der Kirchgemeinde helfen, wo wir können. Ich selbst mache Seelsorge für Geflüchtete, da kommen mir meine Russischkenntnisse zugute. Die Schicksale der Menschen bedrücken mich sehr. Viele Geflüchtete sind traumatisiert. Sie fürchten um das Leben ihrer Angehörigen oder haben solche schon im Krieg verloren. Oft haben sie Schuldgefühle, weil sie ihre Nächsten zurücklassen mussten. Für diese Menschen ist jetzt wichtig, dass sie eine Tagesstruktur bekommen und möglichst bald arbeiten können.
Der Krieg in der Ukraine hat eine Debatte über die christliche Friedensethik angestossen. Wie ist Ihre Haltung als reformierter Theologe?
Als Kirchenhistoriker bin ich von Figuren geprägt, mit denen ich mich in meinen Studien auseinandergesetzt habe. Eine davon ist der russische Schriftsteller Leo Tolstoi. In Anlehnung an die Bergpredigt hat er die Losung formuliert, man solle dem Übel nicht mit Gewalt widerstehen. Tolstoi war Pazifist und ein Verfechter der Gewaltlosigkeit. Dennoch glaube ich, dass er die Ukrainer heute nicht dazu auffordern würde, die Waffen niederzulegen. Viel eher würde er seine russischen Landsleute zu Gewaltverzicht und zivilem Ungehorsam aufrufen, wie er es zu Lebzeiten getan hat. Für den bewaffneten Freiheits- und Verteidigungskampf, den die Völker im Zarenreich gegen den russischen Imperialismus führten, hatte er Verständnis. Ich denke, dass Tolstoi heute aktuell ist. Nicht nur weil er Krieg und Gewalt grundsätzlich ablehnte, sondern auch weil er sich der Grenzen der Gewaltlosigkeit bewusst war. Im Gebot der Gewaltfreiheit sah er ein erstrebenswertes, aber letztlich unerreichbares göttliches Ideal. Um sich diesem Ideal anzunähern, muss man Kompromisse eingehen und manchmal von ihm abweichen. Eine ähnliche Position findet sich beim reformierten Theologen Leonhard Ragaz.
«Ich habe volles Verständnis, dass sich die Ukraine gegen den Aggressor verteidigt. Zudem finde ich es richtig, dass der Westen sie dabei unterstützt – auch mit Waffenlieferungen.»
Können Sie das ausführen?
Ragaz war bekanntlich ein Mitbegründer der religiös-sozialen Bewegung. Er stand unter dem Einfluss Tolstois und setzte sich dezidiert gegen den Krieg ein. Als Italien 1935 Abessinien überfiel, kritisierte er aber die Pazifisten, weil sie die Sanktionen des Völkerbundes ablehnten. In seinen Augen traten sie für einen falschen Frieden ein. Ragaz unterstützte die Wirtschaftssanktionen gegen Italien und war der Meinung, dass gewaltsamer Widerstand einem ungerechten Frieden vorzuziehen sei. Angesichts der Bedrohung durch Nazideutschland zeigte er schliesslich auch Verständnis für die Landesverteidigung. Er kam zum Schluss, dass tapferer Widerstand mit Waffen besser sei als eine feige Kapitulation.
Was heisst das für Sie in Bezug auf die Ukraine?
Ich schätze den Pazifismus und glaube, dass ihm auch jetzt eine Rolle zukommt. Trotzdem habe ich volles Verständnis, dass sich die Ukraine gegen den Aggressor verteidigt. Zudem finde ich es richtig, dass der Westen sie dabei unterstützt – nicht nur mit Sanktionen, sondern auch mit Waffenlieferungen. Inzwischen wissen wir, dass der russische Staat einen Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung führt. Es ist ein Krieg gegen Freiheit und Demokratie, der auf einer faschistoiden Ideologie und auf der Hirnwäsche der eigenen Bevölkerung beruht. Würde die Ukraine bedingungslos kapitulieren, wäre das eine Katastrophe für die Menschen dort. Es würde passieren, was wir aus Butscha und anderen ukrainischen Städten erfahren haben. Menschen würden hingerichtet, verschleppt und in Umerziehungslager gesteckt. Dem können wir nicht tatenlos zusehen.