Seit ein paar Jahren lebe ich in einem kleinen Dorf im Nordosten der USA. Nicht lange nach meinem Umzug stand ich mit Atemschutzmaske im verschimmelten Untergeschoss der lokalen Kirche und entsorgte die Überreste von mehreren Jahrzenten Sonntagsschule. Schubladen voller Jesusfiguren zum Ausmalen, Kleben und Falten. Mehrere Gestelle mit verstaubten Bastelbogen zur Krippenszene. An der Wand das Lamm Gottes als grossflächiges Filzprojekt. Alles musste weg. Die Verschimmelung von Stoff und Papier war weit fortgeschritten und stellte ein Gesundheitsrisiko dar.
Ich füllte einen Abfallsack nach dem andern und dachte dabei, dass ein Grossteil dieser Sonntagsschullehrmittel eh auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Zum Beispiel die Bilder der blonden Heilande, die asiatische, afrikanische und indianische Kinder an die Hand nehmen und auf den einzig richtigen Weg führen. Zum Glück sind solch rassistische Materialien mangels Sonntagsschulkindern schon länger nicht mehr zum Einsatz gekommen. Denn in dieser Vermonter Kirchgemeinde gibt es keine einzige junge Familie. Im Gottesdienst am Sonntagmorgen findet man fast nur ältere Frauen.
Zu diesen Seniorinnen gehöre auch ich, die inoffizielle Kirchenmusikerin. Doch im Gegensatz zu mir agnostischer Neuzuzügerin sind die meisten anderen Kirchgängerinnen seit Jahrzehnten fest in ihrem christlichen Glauben verankert und eng mit ihrem Gotteshaus verbunden.
In der für Neuengland typischen kleinen weissen Holzkirche sehen diese Frauen relativ gelassen zu, wie Pfarrerinnen und Organisten mit unterschiedlichen Theologien, Talenten und Temperamenten kommen und gehen. Für sie ist und bleibt die Kirche ein sicherer Wert, eine zweite «Familie». Im Schonraum der Liturgie können sie jede Woche ihre persönlichen Sorgen und Nöte und seltener auch ihre Freuden austauschen. In ihren eigenen Familien haben die Frauen das religiöse Zugehörigkeitsgefühl allerdings kaum weitergeben können. Meine achtzigjährige Nachbarin Cheryl zum Beispiel zeigt mir stolz die Bibel ihres Grossvaters mit der Widmung ihrer Urgrossmutter.
Auch Cheryl hat ihre fünf Kinder getauft und christlich erzogen. Doch nur eine Tochter begleitet sie heute noch gelegentlich zur Kirche. Keines der Enkelkinder besucht eine Sonntagsschule. Heute fänden halt, anders als früher, auch am Sonntagmorgen Sportanlässe statt, sagt Cheryl entschuldigend. Als müsse sie für ihre «ungläubigen» Nachkommen Abbitte tun. Als wäre die Abkehr von der Kirche ein familiäres Problem und nicht ein landesweiter Trend. Eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die in den USA im Vergleich zu Europa mit etwas Verspätung angekommen ist.
Die grosse Entkirchlichung
Seit der Jahrtausendwende haben sich rund vierzig Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner von ihrer Kirche, Synagoge oder Moschee verabschiedet. Heute gehört nicht mal mehr die Hälfte der US-Bevölkerung einer Religionsgemeinschaft an. Das Tempo und die Reichweite des aktuellen Säkularisierungsprozesses sind beachtlich. Die Zahl der Konfessionslosen, der «Nones», hat sich in den letzten zwanzig Jahren auf etwa dreissig Prozent vervierfacht. Die «Nones» sind heute die grösste und am schnellsten wachsende religiöse (beziehungsweise nicht-religiöse) Gruppe in den USA. Und je jünger die Befragten sind, desto mehr Distanz halten sie zur organisierten Religion.
Von der grössten und am besten untersuchten Gruppe der Christen weiss man: Weniger als ein Drittel der Gläubigen besucht mehrmals im Jahr einen Gottesdienst. Das ist prozentual immer noch um einiges mehr als in der Schweiz. Doch die Kirchgemeinden der USA sind im 21. Jahrhundert durchschnittlich um die Hälfte geschrumpft.
Am meisten Abgang verzeichneten die katholischen Kirchen und die Mainline Church, protestantische US-Kirchen mit moderater Theologie. Als erstes leerten sich Gotteshäuser im Nordosten des Landes. Doch seit kurzem beschleunigt sich auch der Abgang im Mittleren Westen. Und selbst in den Bänken der Evangelikalen im «Bibelgürtel» des Südens sitzen heute weniger und überdurchschnittlich viele ältere Menschen.
Auch rechts der Mitte sind die USA heute deutlich weniger religiös als vor zehn, zwanzig Jahren. Insbesondere sind sie weniger christlich.
Zahlreiche Umfragen und Statistiken zum Thema bestätigen, dass die religiöse Abwanderung auch vor politischen Grenzen nicht Halt macht: Zwar gehen Demokratinnen prozentual weniger häufig zur Kirche als die konservativeren Republikaner. Doch auch rechts der Mitte sind die USA heute deutlich weniger religiös als vor zehn, zwanzig Jahren. Insbesondere sind sie weniger christlich: Vor einem halben Jahrhundert identifizierten sich neunzig Prozent der US-Bevölkerung als Christen. Heute sind es gerade noch sechzig Prozent.
In ihrem Sachbuch «The Great Dechurching» fassen die reformierten Theologen Jim Davis und Michael Graham den aktuellen religiös-kulturellen Wandel in den USA so zusammen: «Keine theologische Tradition, keine Altersgruppe, Ethnizität, politische Gruppierung, Bildungsschicht, geografische Region und Einkommensklasse ist von der Entkirchlichung Amerikas verschont geblieben.» Ein Ende dieser Loslösung von der organisierten Religion sei vorläufig nicht abzusehen.
Diese Datenlage widerspricht auf den ersten Blick dem Image der USA als einer Nation, in der radikaler denn je mit Gottes Willen Politik betrieben wird. In der die religiöse Rechte gar zum «Kulturkrieg» aufruft und im Namen Gottes immer striktere Abtreibungsverbote fordert, «unchristliche» Bücher verbannt und «gottlose» Homosexualität verurteilt. Allen voran sind es die christlichen Nationalisten, die immer höhere Mauern und diabolischere Stacheldrahtzäune an der Grenze zu Südamerika verlangen. Und die sagen, Israel als ethnisch gesäubertes jüdisch-christliches Heiliges Land sei gottgewollt.
Solche extremen Ansichten sind sehr medienwirksam. Sie sagen aber weniger über den gesellschaftlichen Stellenwert der Religion in den USA aus als über die Unverschämtheit von Politikern, welche die Intensität und Unerschütterlichkeit von religiösen Dogmen für ihre profanen Zwecke zu nutzen wissen. Der selber nicht religiöse Donald Trump zum Beispiel hat sich die Maxime «Nicht sehen und doch glauben» aus dem Johannesevangelium zu eigen gemacht. Er verlangt von seinen Jüngern, dass sie alle Zweifel und eigenen Ansichten beiseite schieben und ihm, dem neuen Messias, blinde Gefolgschaft leisten.
Diese Allianz von Rechtspopulismus und der religiösen Rechten ist sozusagen die Kehrseite der rasanten Säkularisierung und Diversifizierung der US-Gesellschaft: Es ist ein Festklammern an fundamentalistischen Gewissheiten – und am blonden Jesus.
«Nur nichts Religiöses»
Die grosse Entkirchlichung wird jedoch durch die politische Radikalisierung des Glaubens nicht aufgehalten. Sie passiert auch in meinem kleinen Dorf. Die meisten meiner Vermonter Bekannten haben der organisierten Religion als Erwachsene den Rücken zugekehrt. Der alte Glaube war ihnen zu heuchlerisch und intolerant. Ausserdem war der Kirchgang kulturell und sozial nicht mehr zwingend.
Mein neuengländischer Mikrokosmos zeigt aber auch, dass weder meine nicht mehr religiösen Bekannten noch die Kirche auf diesen gesellschaftlichen Wandel gut vorbereitet sind. Mehrmals habe ich in den letzten Jahren erlebt, wie «Abtrünnige» nach ihrem Tod mangels ritueller Alternativen zurück in den Schoss der lokalen Kirche gebracht wurden. Die Trauerfamilien wünschten sich in solchen Fällen Gedenkfeiern, die nicht sakral sein sollten.
So war es auch bei unserem Freund Bill, einem Baumeister, der die 1840 erbaute Kirche in- und auswendig kannte und wie schon sein Baumeister-Vater mit viel Liebe und Sorgfalt repariert und restauriert hatte. Er leistete sogar Gratisarbeit in dem Gebäude, doch mit dem christlichen Glauben wollte er nichts zu tun haben. Vor einem Jahr starb Bill ganz plötzlich. Seine Brüder zimmerten noch am selben Tag einen schönen Sarg, der vorne in der Kirche aufgebahrt wurde.
In Europa ist die Caritas der Kirchen durch den Wohlfahrtsstaat ergänzt worden. In den USA ist nicht so klar, wer all diese Dienste übernehmen soll.
Seine Schwester, eine Orchesterkollegin, bat mich, die Musik bei der Beerdigung zu übernehmen. «Nur nichts Religiöses», sagte sie. So stand ich mit meiner Geige neben dem hölzernen Sarg und spielte Bluegrass-Volksmusik, so wie Bill sich das gewünscht hatte. Für den betagten Organisten und die etwas dogmatische Pfarrerin grenzte dies bereits an eine Entweihung ihres Gotteshauses.
Doch wie, wenn nicht durch eine Öffnung zur Welt hin, durch den Dialog und die Zusammenarbeit mit Anders- oder Nichtgläubigen kann unsere Dorfkirche überleben? Sie wird heute wie in den USA üblich ausschliesslich durch die freiwilligen Beiträge ihrer Mitglieder finanziert. Und sowohl die Zahl der Kirchgängerinnen wie ihr Budget schrumpfen mit jedem Jahr. Es kann gut sein, dass auch diese Kirche in wenigen Jahren aufgibt oder sich mit einer anderen Kongregation zusammentut.
Aus ähnlichen Gründen schliessen in den USA jedes Jahr Tausende von Gotteshäusern ihre Türen. Ryan Burge, der selber Pfarrer ist, hat das Kirchensterben als Politologieprofessor an der Eastern Illinois University erforscht. Er schätzt, dass etwa ein Drittel der rund 350 000 christlichen Gemeinden in den USA vor dem Aus stehen. Und zwar, wie er sagt, «überall im Land, in jeder Region, jedem Bundesstaat, in den Städten, Vororten und auf dem Land».
Die USA holen heute im Eiltempo einen Säkularisierungsprozess nach, der in Europa bereits nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hat. Doch in Europa ist die Caritas der Kirchen während Jahrzehnten durch den Wohlfahrtsstaat ergänzt oder abgelöst worden. In den USA ist es nicht so klar, wer all die bisher von den Kirchen geleisteten kommunalen Dienste übernehmen soll. Denn ein Grossteil der hiesigen sozialen Netze wird nicht vom Staat, sondern von NGO unterhalten. Und die Kirchen sind nach wie vor ein wichtiger Sektor dieser Freiwilligeninfrastruktur.
Wer betreibt in Zukunft die Gassenküchen und gibt Lebensmittel an Bedürftige aus? Wer kümmert sich um Drogenabhängige, Obdachlose, Flüchtlinge? Wer bietet vereinsamten Menschen einen Ort, an dem sie ohne weiteres willkommen sind, wenn in den nächsten zwanzig Jahren weitere hunderttausend Kirchen verschwinden? Wo können so wichtige Lebensabschnitte wie Hochzeiten oder Begräbnisse würdig – und öffentlich – gefeiert werden?
Ein Zentrum für Gott und die Welt
Als ich damals die schimmlige Kirche sanieren half, machte ich Fotos und stellte ein kleines Erinnerungsalbum für die neunzigjährige ehemalige Sonntagsschullehrerin zusammen. Inzwischen möchte ich lieber in die Zukunft schauen. Was ist, wenn die Kirchgemeinde in ihrer jetzigen Form nicht mehr existenzfähig ist? Bedeutet das auch das Ende des Kirchgemeindehauses?
Dieser Saal funktioniert als einziges Gemeinschaftszentrum weitherum. Hier wird jede Woche westafrikanisch getrommelt und Tai-Chi unterrichtet. Hier werden Kunstwerke ausgestellt. Hier spielen Senioren mittwochs mit Begeisterung Bridge. Und im Sommer kochen und basteln, musizieren und tanzen die Kinder in einem der hier üblichen Freizeitlager.
Auf dem Land, wo die Bodenpreise niedrig sind, stehen geschlossene Kirchen oft ungenutzt da, bis sie zerfallen.
Und was geschieht mit der Kirche selber? Wird das 1840 fertiggestellte und einzige historisch relevante Gebäude der Gemeinde verlorengehen? In Grossstädten wie New York, San Francisco oder Miami stehen die Immobilienhändler Schlange, wenn eine Kirche schliesst und zum Verkauf angeboten wird. Das Gebäude wird schnell umgebaut und umgenutzt. Meist geht es dabei in Privatbesitz über. Auf dem Land hingegen, wo die Bodenpreise niedrig sind, stehen geschlossene Kirchen oft ungenutzt da, bis sie zerfallen.
Mein Mann und ich bemühen uns seit Jahren, die lokale Kirche und das Kirchgemeindehaus auch zu einem Gemeindezentrum mit Konzerten, Vorträgen und Dorffesten zu machen. Doch sind wir dabei nicht bloss auf ideologische Barrieren gestossen. Wir haben gemerkt: eine säkulare Umnutzung ist teuer. Im Gegensatz zu religiösen Anlässen, die von dieser Regulierung ausgenommen sind, dürfen öffentliche Veranstaltungen in den USA nur in behindertenfreundlichen, rollstuhlgängigen Räumen angeboten werden.
Um diese Vorgaben in einem fast zweihundertjährigen Kirchengebäude einhalten zu können, braucht es kostspielige neue Rampen und Lifte. Das Dilemma: Bundessubventionen gibt es wegen der Trennung von Kirche und Staat nicht, solange das Gebäude noch als Kirche funktioniert.
Wir haben den Traum vom Community-Center noch nicht aufgegeben. Denn wir wissen, wie wichtig öffentliche Räume sind, in denen Alt und Jung, Reich und Arm, Schwarz und Weiss, Hetero und LGBTQ akzeptiert sind und sich begegnen. Orte, an denen Menschen nicht in immer detailliertere Identitätscluster aufgeteilt und separiert werden.
Wir wünschen uns, dass in unserem Dorf und anderswo Religiöse und Nichtreligiöse gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die unaufhaltsame Entkirchlichung am besten begleiten. Und wie wir sicherstellen, dass in diesem Land, in dem die Hälfte der Menschen bereits heute sagen, sie seien einsam, nicht mit jeder geschlossenen Kirche auch ein Stück Gemeinschaftlichkeit und Solidarität verlorengeht. Viel Zeit bleibt uns dafür nicht.