Frau Scholl, wir befinden uns im Nordturm des Grossmünsters, genauer im Glockenstuhl. Sie kommen im Frühsommer während der Brutzeit der Vögel regelmässig hierher. Kennen die Vögel Sie?
Nein, davon gehe ich nicht aus. Ich versuche ja auch, die Vögel möglichst nicht zu stören. Deshalb schalten wir lieber das grosse Licht wieder aus. Einverstanden?
Selbstverständlich. Und von dem Geläut der Kirchglocken fühlen sich die Vögel nicht gestört?
Offenbar nicht, sonst würden sie nicht schon seit Generationen zum Brüten ins Grossmünster kommen. Manche, die das letzte Jahr noch nicht hier waren, kommen vorher zum Probeliegen, bevor sie ein Nest bauen. Wenn es ihnen nicht gefallen würde, liessen sie sich nicht nieder.
Welche Vögel fliegen denn Kirchtürme an?
Was wir im Glockenstuhl sehen, sind Alpensegler. Am Grossmünster wohnen rund 20 Alpenseglerpaare und unter dem Schiffdach noch 4 Mauerseglerpaare. In der Schweiz gibt es rund 2000 Alpensegler- und 50 000 Mauerseglerpaare. Bei letzteren ist der Bestand aber abnehmend.
Wie lassen sich die beiden eigentlich unterscheiden?
Der Alpensegler ist etwas grösser, hat eine Flügelspannweite von einem guten halben Meter und ist unten weiss mit einem braunen Band über der Brust. Anders der Mauersegler: Der ist unten braun. Beide weisen in der Luft diese Ankerform auf. Im öffentlich zugänglichen Südturm, das ist jener mit der Karl-der-Grosse-Statue, sind dann mehrheitlich die Tauben und noch einige Turmdohlenpaare zuhause. Beide Arten nisten gerne in Nischen und Höhlen am Felsen, wie die Segler. Die Gebäude einer Stadt sind für sie wie Felsen und die Kirchtürme die markantesten. Im Grossmünster leben auch Zwergfledermäuse und manchmal auch der Marder, der versucht, die tiefer gelegenen Nester auszuräumen.
«Das Verständnis, dass auch Stadtmenschen Natur um sich haben, ist nicht sehr ausgeprägt.»
Wieso kommen die Turmdohlen seltener?
Das hat mit dem Nahrungsangebot in der Stadt zu tun. Ende der 1940er Jahre wurden im Grossmünster noch gegen 50 Brutpaare gezählt. Heute sind es noch sieben. Turmdohlen fressen grosse Insekten. Die haben sie früher im Pferdemist gefunden. Aber Pferde gibt es schon lange keine mehr in der Stadt, also fehlt auch der Mist. Dafür kommen vermehrt die Segler. Der Klimawandel und das damit verbundene mildere Wetter sorgen dafür, dass sie hier im Norden ihre Brut besser durchbringen.
Was ist mit dem Turmfalken und der Schleiereule, beides Vögel, die man theoretisch auch auf Kirchtürmen antreffen könnte?
Im Prinzip ja. Aber beide jagen Mäuse. Der Turmfalke brütet manchmal noch am Grossmünster, da er in der Stadt vermehrt auch Singvögel jagt. Die Schleiereule dagegen benötigt für ihre Beutezüge offene Flächen – und diese gibt es in der Stadt nicht mehr.
Kirchtürme sind jetzt aber nicht die einzigen Türme in einer Stadt wie Zürich.
Das stimmt. Aber in den Hochhäusern, meist Glastürme neueren Datums, gibt es für diese Vogelarten nur wenige Möglichkeiten, um zu nisten. Sie bauen dann ihre Nester in die Storenkästen. Werden die Storen bewegt, geht das Nest kaputt. Zudem hinterlassen diese Vögel Kotspuren an den Fenstern – und das mögen die Besitzer und Mieter nicht besonders. Das Verständnis, dass auch Stadtmenschen Natur um sich haben, ist nicht sehr ausgeprägt. Mich belasten diese Klagen wegen Verschmutzung jeweils. Es kommt mir vor, als hätten andere Lebewesen nicht das Recht, zu existieren.
Wissen die Kirchgemeinden denn, wie wichtig ihre Türme für die Segler und die Dohlen – beides geschützte Vögel – sind?
Das Bewusstsein ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Die Verantwortlichen bemühen sich, bei Renovationen nicht nur bestehende Nistplätze zu erhalten, sondern auch weitere hinzuzufügen. Das freut mich, weil es bedeutet, dass eine Öffnung gegenüber der Natur stattfindet. Gerade das Zürcher Grossmünster geht schon sehr lange mit gutem Beispiel voran.
Inwiefern?
Der Kantonsbaumeister von Zürich, Hans Wiesmann, hat sich bei der Turmsanierung 1935/36 persönlich darum bemüht, dass Gebäudebrüter in den beiden Türmen einen Platz zum Leben haben. Wenn Sie unten an der Limmat stehen und auf die Westseite der Fassade schauen, sehen Sie unter dem Turmgürtel runde Löcher. Das sind Niststeine für Meisen und Spatzen. Die weiter oben gelegenen, eher quadratischen Öffnungen wurden eigens für die Turmdohlen angelegt. Das war fast schon visionär.
Die studierte Psychologin und Verhaltensforscherin Iris Scholl ist in einem kleinen Pensum Vogelbeauftragte der Stadt Zürich. Seit über dreissig Jahren berät sie zudem Bauherren und Kirchgemeinden in der ganzen Deutschschweiz. Kirchtürme sind für sogenannte Gebäudebrüter in Städten oft eine der wenigen Brutmöglichkeiten. Beratung unter: 044 942 43 26.
Als 1989 die Grossmünster-Kirchtürme erneut saniert wurden, waren Sie es, die sich für den Erhalt der Brutplätze einsetzte. Wie kam das?
Ich war noch Studentin und habe für meinen Abschluss in Verhaltenspsychologie eine Turmdohlenkolonie auf dem Irchel beobachtet. Mir war bekannt, dass auch noch einige Dohlenbrutpaare im Grossmünster ihre Nester hatten, als mit den Sanierungsarbeiten begonnen wurde. Nun war es an mir, die Verantwortlichen daran zu erinnern, dass diese Nistplätze nicht gefährdet werden. Und diese Rolle habe ich all die Jahre behalten, mit Unterstützung von Grün Stadt Zürich – und nicht nur in Bezug auf Kirchen.
Wie reagieren Bauherren, wenn Sie verlangen, dass wegen eines kleinen Vogels, der gerade brütet, Renovationsarbeiten unterbrochen werden sollen?
Natürlich kommt das nicht immer gut an. Architekten und Bauherren stehen unter enormem Druck. Jeder Tag Bauen und Renovieren kostet viel Geld. Wegen eines hundert Gramm schweren Vogels kann es im schlimmsten Fall zu einem Baustop kommen. Früher, als ich angefangen habe, kam es schon auch mal zu verbalen Ausrutschern. Das passiert heute nicht mehr. Aber es ist nun mal so: Die Vögel sind geschützt und dürfen in der Brutzeit nicht gestört werden. In 99 Prozent der Fälle finden wir allerdings einen Kompromiss, so dass nebeneinander gebaut und gebrütet werden kann.
Machen Sie sich für die Sache der Vögel gerne unbeliebt?
Nein, aber ich muss damit leben, denn ich habe mich diesen Lebewesen verpflichtet. Die ganze Welt kann ich nicht retten, aber ich kann dafür sorgen, dass zumindest Gebäudebrüter überhaupt noch einen Platz haben. Und da sind Kirchtürme ganz wichtige Orte. Die Vögel kommen ja nicht der Aussicht wegen auf den Turm, obwohl die von hier phantastisch ist – zumindest wenn es nicht regnet.
Könnten Kirchgemeinden noch mehr tun?
Jede Gemeinde sollte sich überlegen, ob sie auch wirklich ihrer Pflicht nachkommt, Leben zu erhalten. Dazu gehört, dass wir – als Gäste auf Erden, die wir nun mal sind – unser Möglichstes dafür tun, damit andere Lebewesen nicht verdrängt werden.
Ist Vogelkot für die Kirchenfassade ein Problem?
Gerade jener der Segler wäscht sich bei Regen einfach ab. Taubenkot ist klebriger.
Die Taube galt bei Griechen und Juden als Vorbild für Lauterkeit und Reinheit. Noah hat Tauben fliegen lassen, um herauszufinden, ob die Flut vorbei ist. Und die Taube ist das Symbol für den Heiligen Geist. Wann in der Geschichte hat sie ihr gutes Image verloren?
Ich bin keine Expertin für Tierimage. Aber was ich sagen kann: Tauben fühlen sich in Städten besonders wohl. Eigentlich ernähren sie sich von Körnern, in der Stadt aber von liegengebliebenem Essen wie Pommes oder Futter, das eigens für sie gestreut wird. Diese Nahrung tut ihnen zwar nicht besonders gut, hat aber – wie wir alle wissen – kaum Auswirkungen auf die Vermehrung.
Diese ist so stark, dass Sie als städtische Vogelbeauftragte einschreiten und Tauben töten.
Ich nehme den Tauben unter anderem im Hauptbahnhof und hier auf dem Grossmünster die Eier weg, damit sie sich nicht zu sehr vermehren. Einige davon bekommen meine Hunde, die anderen entsorge ich. Und manchmal muss ich auch erwachsene Tauben töten. Das ist kein Vergnügen. Mir ist wichtig, dass das schnell geht.
Welcher Vogel ist so atemberaubend, dass er Sie sprachlos macht?
Sprachlos macht mich keiner, aber ich höre Vögeln gerne zu. Eine Fähigkeit, die viele Menschen übrigens verloren haben: Sie hören ein Stichwort des Gegenübers, und schon rechtfertigen sie sich, ohne dass der andere den Satz fertiggesprochen hat. Das stört mich, es zieht Energie ab. Darum sind mir Vögel manchmal lieber. – Hören Sie dieses Trillern? Das sind die Alpensegler. Männchen und Weibchen ziehen den Nachwuchs gemeinsam auf. Und jetzt, wo es regnet, sitzen sie gemeinsam beim Nest.
Wieso trillern sie?
Das weiss man nicht. Aber vermutlich ist das ein Bindungsverhalten, so wie Störche gemeinsam klappern.
«Höre ich viel Vogelgezwitscher, dann gehe ich davon aus, dass die Natur in Ordnung ist.»
Vogelgezwitscher ist der Inbegriff des Paradiesischen. Haben Sie eine Vorstellung, wieso?
Ich kann nur sagen, was es für mich ist: Höre ich viel Vogelgezwitscher, dann gehe ich davon aus, dass die Natur in Ordnung ist. Denn wo Vögel sind, sind auch Insekten, Käfer, Maden und Würmer nicht weit. Manchmal frage ich mich, wie vielen Menschen tatsächlich auffällt, dass das Gezwitscher weniger geworden ist, längst nicht nur in der Stadt. Das hat Folgen. Denn was wir Menschen nicht mehr hören, verschwindet auch aus unserem Bewusstsein.
Dank Ihnen ist das Bewusstsein für die Turmdohlen und die Segler wieder gestiegen.
Das hoffe ich. Die Turmdohlen brüten vor den Seglern, weiter oben im Turm. Von den Seglern gibt es inzwischen einfach mehr, weil sie hier in den Städten gute Chancen haben. In den Städten ist es etwas wärmer. Und in der Höhe, in der Segler Insekten jagen, gibt es deswegen teilweise gar mehr davon als auf dem Land. Die ersten Segler wurden übrigens im späten Mittelalter im Berner Münster dokumentiert. Damals hat man sie aber noch gegessen. Fleischmässig ist da nicht viel dran, aber sie waren angeblich eine beliebte Delikatesse unter dem Klerus.
Es gibt kaum einen Vogel, der so wenig auf festem Grund steht wie die Segler.
Alpen- und Mauersegler leben in der Luft, fast wie Fische im Wasser. Sie ernähren sich fliegend, kopulieren fliegend, und sie übernachten auch in der Luft. Wenn sie im Winter nach Afrika ziehen, stehen sie dort – so wird zumindest vermutet – nie ab.
Wie muss ich mir eine Übernachtung in der Luft vorstellen?
Sie fliegen dafür weit in den Himmel hinauf, auf bis zu 3000 Metern Höhe, und lassen sich die Nacht über von den Winden treiben. Früher sagten die Menschen, die Segler gehen nachts auf den Mond. Erst zum Brüten fliegen sie nach über 200 Tagen in der Luft festen Boden an, so wie hier den Grossmünster-Turm. Und ich bin dann diejenige, die diese Tiere von ganz nah beobachten darf.
Hätten Sie manchmal auch gern mehr von dieser Vogelperspektive?
Nein, die liegt mir weniger. Natürlich mag ich den Überblick, aber meine Stärke sind die Details. Ich habe mich deshalb auch auf wenige Vogelarten spezialisiert und bin dabei geblieben – auch wenn ich damit nie reich werde. Aber ich habe den Auftrag angenommen, den das Leben anscheinend für mich bereithielt.