Andreas Kruse war ein junger Wissenschaftler am Beginn seiner akademischen Karriere, als die ehemalige deutsche Familienministerin und Pionierin der Altersforschung, Ursula Lehr, ihn als ersten Mitarbeiter an das von ihr gegründete Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg holte. Mittlerweile ist der studierte Psychologe, Philosoph und Musikwissenschaftler selbst Direktor dieses Instituts und als solcher unermüdlich in Sachen Alterswissenschaft und Alterspolitik unterwegs.
Wenn man Andreas Kruse reden hört, spürt man neben der Leidenschaft für sein Fach eine grosse Empathie gegenüber alten Menschen, die er als Träger wertvoller Kompetenzen und Erfahrungen ebenso schätzt wie als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Dies kam auch zum Ausdruck, als wir uns an diesem strahlend schönen Vormittag im Mai am Gartentisch seines Überlinger Hauses gegenübersassen. Im Gespräch legte er dar, worauf es ihm bei der Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Endlichkeit im Alter ankommt, wie er sich selbst darauf vorbereitet und welche Rolle sein christlicher Glaube dabei spielt.
Allen positiven Altersbildern zum Trotz ist Älterwerden immer noch mit zahlreichen Verlusterfahrungen verbunden: Abschied vom Beruf, von geliebten Menschen, von körperlicher Unversehrtheit. Was hilft, mit diesen Kränkungen fertig zu werden?
Ich denke, dass alle Lebensalter Verlust- und auch Verletzlichkeitserfahrungen bereithalten. Deshalb sollten wir uns schon früh mit der Tatsache vertraut machen, dass wir grundsätzlich verletzlich sind und dass das Leben zwar viele Entwicklungsmöglichkeiten im körperlichen, seelischen und geistigen Bereich bietet, uns aber zugleich auch mit den Grenzen unseres Handelns, mit Verletzlichkeit und Endlichkeit konfrontiert. Wenn man sich dessen bewusst wird und auch anerkennt, dass die Ordnung des Todes zur Ordnung des Lebens dazugehört – mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen, kehre es um, mitten im Tode sind wir vom Leben umfangen, wie Luther sagt –, dann wird man sich auch anders mit dem Altwerden auseinandersetzen.
Welche Bedeutung hat das nun konkret für unseren Alltag?
Das beginnt möglicherweise schon damit, dass man Vorsorgeuntersuchungen ernst nimmt, dass man früh zu planen beginnt, wie man später einmal leben, einmal wohnen möchte, und auch, dass man in einer Partnerschaft darüber spricht, was werden soll, wenn einer von beiden nicht mehr ist. Diese Art der Auseinandersetzung mit der Begrenztheit des Lebens ist meines Erachtens eine Voraussetzung, um später mit den Endlichkeits- und Verletzlichkeitserfahrungen besser umgehen zu können. Im Hinblick auf das Alter selbst scheinen mir drei Dinge bedeutsam: Wir benötigen erstens den geistig und emotional inspirierenden Austausch mit anderen Menschen, wir sollten zweitens immer wieder nach Möglichkeiten suchen, unser Leben in den Dienst einer Sache, einer Idee, unseres Glaubens zu stellen, und wir sollten drittens die Sicherheit haben, nicht alleine dazustehen, wenn wir einmal in Not geraten.
Ist es nicht schwierig, in einer Gesellschaft, der Selbstbestimmung über alles geht, zu seiner Verletzlichkeit zu stehen?
Doch, natürlich. Wir gehen deshalb an unserem Institut in Heidelberg mit dem Begriff der Selbstbestimmung auch sehr zurückhaltend um und sprechen stattdessen lieber von Selbstverantwortung und Selbstgestaltung. Diese können sich jedoch nur entfalten, wenn der Mensch in Beziehung steht und in einer sozial-kulturellen Welt lebt, die offen ist für die vielen Anregungen, die das Alter zu bieten hat. Ich hatte ja mal die Idee, eine «Ethik des Alters» zu schreiben, die auf vier Kategorien gründet: 1. Selbständigkeit, 2. Selbstverantwortung, 3. Mitverantwortung und 4. die bewusst angenommene Abhängigkeit. Vor allem mit dem vierten Punkt bin ich auf Widerspruch gestossen. Wie kannst du bewusst angenommene Abhängigkeit als eine Kategorie des guten Lebens einführen, hiess es.
Warum ist Ihnen dieser Punkt so wichtig?
Ich bin in meinem Denken von Martin Buber geprägt und sage: Wir werden nie, auch nicht in früheren Lebensaltern, ohne den Austausch mit dem andern, ohne die Unterstützung des anderen sein können. Im hohen Alter nimmt diese Abhängigkeit noch einmal zu. Deshalb ist es wichtig, dass der alte Mensch selbst dann, wenn er in hohem Masse verletzlich und auf Hilfe angewiesen ist, sein Leben weiterhin selbst gestalten kann und wir ihn mit grossem Respekt und hoher Sensibilität dabei unterstützen.
Besteht nicht ein gewisser Widerspruch zwischen Selbstgestaltung und Abhängigkeit?
Nun, bei körperlicher Abhängigkeit ist sicher noch sehr viel an Selbstgestaltung möglich, durch das Gespräch, die Pflege von Interessen, durch Literatur, Kunst und Musik. Schwieriger wird es natürlich, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, bei denen eine neurokognitive Störung vorliegt. Da werden wir mit der Frage nach unserem Menschenbild konfrontiert.
Inwiefern?
Wenn ich sage, der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er über differenzierte kognitive Fähigkeiten verfügt, dann komme ich hier nicht weiter. Wenn ich aber das Menschsein nicht an bestimmte Attribute oder Fähigkeiten knüpfe, dann werde ich im Umgang mit meinem Gegenüber erfahren, wie wichtig die Emotionalität, wie wichtig die Affekt- und die Empfindungswelt ist, wie wichtig körperliche Berührungen oder auch soziale Bezogenheitserfahrungen sind. Gerade in diesen Bereichen ist auch bei einer neurokognitiven Störung vieles möglich. Ich kann zum Beispiel Musik einspielen, ich kann Gedichte vorlesen, ich kann mit der betreffenden Person singen oder ihr ein Essen reichen, das sie in seinem Duft und seinem Geschmack an früher erinnert, und sie auf diese Weise noch einmal etwas von dem erfahren lassen, was ihr einst wichtig war.
Bekommt angesichts dieses Menschenbildes nicht auch der Würdebegriff eine völlig andere Bedeutung?
Wenn es um Würde geht, gilt es zu unterscheiden. Da ist einmal die allgemeine Menschenwürde, die überhaupt nicht zur Disposition steht, weil der Mensch qua Mensch Würde hat. Das gilt übrigens auch für das Tier, das qua Tier Würde hat. Punktum.
«Wenn wir Selbstbestimmung wie eine Monstranz vor uns hertragen, werden wir in Grenzsituationen scheitern.»
Daneben aber gibt es den spezifischen Würdebegriff, der davon abhängig ist, welche Merkmale ein Mensch sich selbst als identitätsstiftend zuordnet. Da kann es zum Beispiel sein, dass ein Mensch, für den Kognition immer das Höchste war, bei den ersten Gedächtnisproblemen sein Leben nicht mehr als würdevoll empfindet.

Würde, Abhängigkeit und Selbstverantwortung – die Journalistin Klara Obermüller im Gespräch mit dem Gerontologen Andreas Kruse
Was raten Sie in einem solchen Fall?
Hier besteht die hohe Kunst der Begleitung darin, aufzuzeigen, welchen Reichtum ein menschliches Wesen sich auch dann noch bewahrt, wenn es kognitiv eingeschränkt ist. Dies müssen wir im Umgang mit dem betroffenen Menschen starkmachen und ihm dabei helfen, Seiten an sich zu entdecken, die er früher so an sich nicht wahrnehmen oder nicht leben konnte. Wenn wir hingegen sagen: Es ist entscheidend, dass du kognitiv immer obenauf bist, dass du selbstbestimmt bist, dich nie von der Hilfe anderer Menschen abhängig machst und jederzeit alles unter Kontrolle hast, wenn wir das wie eine Monstranz vor uns hertragen, dann werden wir in Grenzsituationen, auch, wenn sie uns selber betreffen, scheitern.
Gerontologen sprechen im Zusammenhang mit dem Prozess des Alterns gerne von einem «Werden zu sich selbst». Was ist damit gemeint?
«Werden zu sich selbst» bedeutet, dass ich Erfahrungen mache, die mir zeigen, dass ich selbst es bin, der diese Erfahrungen macht, und dass ich selbst gefordert bin, diese Erfahrungen konstruktiv zu verarbeiten. Dieses «ich selbst» wird noch einmal akzentuiert, wenn ich mit Grenzerfahrungen konfrontiert bin, die ich – wie Karl Jaspers dies einmal ausgedrückt hat – durch meine ureigenste Erfahrung zur Klarheit bringe. Und schliesslich deute ich Alter auch als Prozess der zunehmend differenzierteren und umfassenderen Bewusstwerdung des eigenen Selbst.
Steckt in dem Begriff des Werdens nicht auch drin, dass Entwicklung bis zuletzt möglich ist und es eben gerade nicht stimmt, dass mit dem Alter alles zu Ende geht und nichts Neues mehr nachkommt?
Aber ja. Ich bin überzeugt, dass es uns gelingt, emotional, aber auch geistig und sozial bis zuletzt immer wieder neue Erfahrungen zu machen, und wir vor dem Hintergrund dieser neuen, bereichernden Erfahrungen die Chance bekommen, noch einmal verändert auf unser Leben zu blicken. Möglich ist eine solche Entwicklung, ein solches Weiterschreiten – hier im metaphorischen Sinne gemeint – allerdings nur, wenn Menschen im Austausch mit anderen, auch mit Jüngeren, leben können und von diesen nicht nur in ihren Entwicklungspotenzialen, sondern auch in ihrer Verletzlichkeit akzeptiert werden. Deshalb ist für mich auch der Glaube so wichtig, denn der Glaube erinnert uns zum einen daran, dass wir endlich sind, und zum andern, dass wir in einer Gemeinde leben, die uns auch dann trägt, wenn wir, zum Beispiel im Fall stark eingeschränkter Selbständigkeit, auf Unterstützung und Solidarität angewiesen sind.
Was kann denn die Gemeinde konkret tun?
Wir brauchen Menschen, die uns sagen: Es ist gut, dass du da bist. Ich nehme dich wahr als jemanden, der für mich bedeutsam ist. Und ich mache dies nicht abhängig von bestimmten Attributen und Fähigkeiten, denen du vielleicht nicht mehr genügen kannst. Denn das ist für mich die zentrale Glaubensaussage, auch im Sinne von Martin Buber, dass ich im andern immer auch etwas Göttliches sehe. Wenn man diesen Gedanken ernst nimmt, und ich denke, wenn auch die Kirche diesen Gedanken in der Verkündigung starkmachen würde, könnte sie in der Interpretation dessen, wie wir Leben im hohen Alter gestalten, noch viel einflussreicher werden.
Glauben Sie, dass religiös gestimmte Menschen anders mit der Erfahrung der eigenen Endlichkeit und Verletzlichkeit umgehen als religiös unmusikalische?
Es ist sehr schwierig, empirisch auf diese Frage zu antworten. Es gibt zwar den empirischen Befund, wonach Menschen, die unter Religiosität die Erfüllung von Glaubensregeln verstehen und Gott als strafenden Gott erleben, sich im Alter und vor allem im Prozess des Sterbens schwerer tun als jene, die die Religiosität um ihrer selbst willen leben. Aber es ist auch festzustellen, dass es zum Einfluss von Religiosität auf die Art und Weise des Sterbens keine wirklich überzeugenden empirischen Grundlagen gibt. Das mag zum einen an der Art der Befragung liegen, zum andern aber auch daran, dass Religiosität, dass Glaube eben nicht etwas ist, was ich ein für allemal habe, sondern etwas, was sich in ständiger Bewegung, in ständigem Fluss befindet.
«Ohne Gemeinde ist der christliche Glaube für mich nicht wirklich vorstellbar.»
Um darüber mehr zu erfahren, bräuchte es schon sehr aufwendige, sehr anspruchsvolle und differenzierte Langzeitstudien, deren Ergebnisse dann für Verkündigung und Pastoral von Bedeutung sein könnten.
Jenseits aller Studien sollte man aber doch meinen, dass es einen Unterschied ausmacht, ob ich über mein Leben selbst zu verfügen glaube oder ob ich es als ein Geschenk empfinde.
Dem würde ich zustimmen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass sich im Verlauf einer schweren Erkrankung und im Prozess des Sterbens selbst die Lebenseinstellung eines Menschen noch einmal erheblich drehen kann. Es gibt nicht wenige Menschen, die eine grosse Freude am Glauben hatten und dann nach grossen Verlusten oder schwerem Leiden die Überzeugung verloren, dass das Leben ein Geschenk ist. Die Frage für mich ist: Kriegt der Mensch es hin, sich in den guten Tagen mit dem Schicksal anderer Menschen in der Weise auseinanderzusetzen, dass er realisiert, es kommen auch mal andere Tage, härtere Jahre? Und zweitens: Hat er die Möglichkeit, in eine Glaubensgemeinschaft eingebunden zu sein, die ihn spüren lässt, dass im Tun anderer Menschen etwas Göttliches aufscheint? Der Glaube lebt ja durch die Gemeinde, das macht der Mensch nicht alleine mit sich selber aus. Ohne Gemeinde ist der christliche Glaube für mich nicht wirklich vorstellbar.
Das würde aber auch bedeuten, dass die Kirche in der Verkündigung, in der Seelsorge auf die spirituellen Bedürfnisse alter Menschen besonderen Wert legen sollte.
Unbedingt, und zwar mit Blick auf die spezifischen Erfahrungen und Lebensthemen alter Menschen. Davon könnte viel in die Gemeindearbeit eingebracht werden. Ferner müsste die Kirche sich mit Entschiedenheit für die Schaffung eines Mehrgenerationendialogs starkmachen. Dazu könnte sie meiner Meinung nach gestalterisch viel beitragen und sollte es auch tun. Wir haben in unseren Kirchen doch so vieles, was Ältere den Jüngeren weitergeben könnten, ein reiches Liedgut zum Beispiel oder einen wunderbaren Schatz an Gebeten. Daraus liesse sich doch was machen. Und wenn mir jetzt ein Pfarrer kommt und sagt: «Tja, Herr Kruse, das ist aber nicht einfach.» Dann sage ich: «Deswegen sind Sie da. Wenn das einfach wäre, könnten es andere machen!»
Menschen, die ihr Ende nahen sehen, sagen nicht selten, dass erst die Einsicht in die Begrenztheit des Lebens das Leben für sie kostbar gemacht habe. Können Sie eine solche Aussage nachvollziehen?
Wenn jemand in der Lage ist, so zu reden und zu sagen, jetzt in meiner Verletzlichkeit spüre ich die Kostbarkeit des Lebens, dann hat er, so meine ich, Bedeutsames verwirklicht.
«Wir stellen uns der Tatsache des Todes, ohne dass wir darob depressiv würden.»
Ich glaube allerdings, dass Menschen, die so weit kommen, schon vorher eine gewisse Demut – nämlich vor dem Leben und der Schöpfung – hatten und wussten, dass das, was sie erreicht hatten, ohne andere Menschen nicht zu erreichen gewesen wäre.
Sie sind im vergangenen Jahr sechzig geworden. Inwiefern hat sich Ihr Lebensgefühl in letzter Zeit verändert?
Zum einen hat das Verantwortungsgefühl gegenüber den nachfolgenden Generationen noch einmal zugenommen. Zum andern haben die Gespräche, die ich mit meiner Frau führe, mehr und mehr mit Verletzlichkeit und Endlichkeit zu tun. Wir fragen uns, wie das Leben weitergehen soll, wenn einer von uns beiden nicht mehr ist. Wir stellen uns der Tatsache des Todes, ohne dass wir darob depressiv würden. Das Bewusstsein, dass ich unter Umständen nicht mehr lange zu leben habe, ist bei mir eindeutig stärker geworden. Das merke ich auch daran, dass ich jeden Tag mit grösserer Dankbarkeit darauf blicke, dass ich noch bin. Und schliesslich stellt sich mir immer drängender die Frage nach der Gerechtigkeit beziehungsweise der Ungerechtigkeit der Welt. Jetzt im fortgeschritteneren Alter angekommen zu sein mit all den Gütern, die einem gegeben wurden, das wird mir mehr und mehr zu einer Frage.
Sie bezeichnen sich offen als gläubigen Christen. Welche Rolle spielt Ihr Glaube bei dieser Auseinandersetzung?
Ich habe eine grosse Freude am Glauben. Ich habe das Gefühl, dass er mich hellsichtiger macht, dass er mich Dinge wahrnehmen lässt, die ich sonst nicht wahrnehmen würde, und dass er mich mit grosser Dankbarkeit dem gegenüber erfüllt, den ich jetzt mal meinen Schöpfer nennen würde. Ich habe wirklich den Eindruck, dass mir im Leben viel geschenkt wurde. Und da mich dieser Glaube auch sehr trägt, mache ich da in der Öffentlichkeit überhaupt kein Hehl draus, im Gegenteil.
Wie müsste eine Kultur beschaffen sein, die Alter als Lebensphase mit eigenem Potenzial anerkennt?
Es müsste eine Kultur sein, die nicht nur der Frage nachgeht, wie werden wir alle älter, sondern die auch nach aussen hin deutlich macht, was wir von alten Menschen erfahren und lernen können, und die sich auch dafür interessiert, was sich da im geistig-seelischen Bereich alles abspielt. Und es müsste zudem eine Kultur sein, die sich von der Frage leiten lässt: Wie bringen wir Generationen zusammen? Dieser Dialog scheint mir essenziell. Denn Segregation schliesst vom sozialen Leben aus, Integration hingegen stiftet Neues und fördert das Schöpferische im Leben.
Die Publizistin Klara Obermüller war Redaktorin bei der NZZ und der Weltwoche, danach moderierte sie die SRF -Sternstunde Philosophie. Sie lebt in Männedorf ZH.
Der Fotograf Christian Schnur lebt in Zürich.