Frauen in weissen Gewändern, junge und alte, Hunderte oder mehr, die einer Prozession gleich und mit ernsten Gesichtern Blumen in die Höhe halten oder vor der Brust tragen. Was wie eine Traumsequenz aus einem Revolutionsdrama aussieht, lässt sich in diesen Tagen in Minsk und anderen Städten beobachten – durch Handykameras und Medien zoomen wir uns in den friedlichen Aufstand eines Volkes, das Diktatur und Willkürherrschaft des Alexander Lukaschenko nicht mehr hinnehmen will. Belarus, das fremde, ferne Land, ist plötzlich nicht mehr weit weg. Hunderttausende gehen seit zwei Wochen auf die Strasse, es gibt Bilder von Sicherheitsbeamten, die die Seiten wechseln, indem sie selbst eine Blume in die Hand nehmen und mit den Demonstranten weiterziehen.
Und es gibt Bilder und Berichte von Gefolterten und Getöteten. Die, die in Belarus auf die Strassen gehen, riskieren viel, vielleicht alles. Sie sorgen sich um Freunde und Familie, um Leib und Leben – und bleiben trotzdem nicht zuhause. Lukaschenko lässt sich derweil mit seinem Sohn in Waffenmontur abbilden. In einer medial vernetzten Welt kann man aus dem Sessel in Deutschland Revolutionsbewegungen in Echtzeit verfolgen, neugierig und so betroffen, wie man es eben bei einem guten Dokudrama ist.
Blumen in Gewehrläufen, Blumen als Antwort auf Terror. «Flower-Power» steht in Überschriften deutscher Zeitungen, ein Wort der Popkultur, das nicht an Blut und Folter, sondern an Tanzen im Regen erinnert, Blumenkränze gegen einen fernen Krieg und das Unbehagen einer ganzen Generation, die nun längst grau geworden vor den Bildschirmen sitzt. «Sag mir, wo die Blumen sind», singt Joan Baez in der Tonschleife hinter den Bilderfetzen im Kopf.
Die Demonstrationen in Belarus werden von Frauen getragen, die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja ruft aus dem Exil immer wieder dazu auf, dass der Widerstand friedlich bleibt. Frauen, Blumen, das passt ja irgendwie. Doch gerade weil die Geste so unangebracht zart ist, ist sie eben nicht kitschig oder gar niedlich, sondern besonders widerständig, widerständiger vielleicht als Flaggen und andere politische Zeichen. Und das nicht erst in Belarus.
Man könnte eine Geschichte der politischen Floristik schreiben, so bedeutsam sind Blumen für das Bildgedächtnis und die Widerstandskultur seit zweihundert Jahren. Rosen, Jasmin, Nelken – Blumen sind die Symbole vieler Revolutionen und Umsturzversuche. 1974 wird in Portugal die Militärdiktatur durch Teile der Armee gestürzt. Die Bürger Lissabons stecken den Soldaten Nelken ins Knopfloch.
2011 endet in Tunesien das Regime des Autokraten Zine el-Abidine Ben Ali; es soll der Beginn des arabischen Frühlings werden, der sich längst in vielen Gegenden der arabischen Welt in einen Winter verwandelt hat. Im selben Jahr kommt es in China zu Protesten. Die Demonstrierenden tragen demonstrativ Jasminblumen in der Hand. Ein Zeichen, das sofort verboten wird. Die Blume verschwindet sogar für eine Zeit aus Suchmaschinen.
Blütenstengel im Gewehrlauf
Die Antikriegsbewegungen des 20. Jahrhunderts setzen die Blume als Gegenbild zur Waffe ein. In der politischen Floristik sind die Blumen zu einem Symbol geworden. «Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben?» – die Geschichte des Antikriegslieds lässt sich bis in die politische Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Dem Text liegt ein Gedicht des deutschen Lyrikers Johann Georg Jacobi zugrunde. «Sagt, wo sind die Veilchen hin?» Die Melancholie des Liedes findet im Verblühen der Blume ihren Ausdruck. Anmut, Farbenpracht und Individualität, aber auch Zerfall und Tod sind im Symbol der Blüte nur ein paar Momente voneinander entfernt.
«Anmut, Farbenpracht und Individualität, aber auch Zerfall und Tod sind im Symbol der Blüte nur ein paar Momente voneinander entfernt.» Petra Bahr
Das ist schon in der Bibel so. Die Blumen, ein Zeichen für absichtslose Schönheit und für Vergänglichkeit, für Nächstenliebe und für Tod. Wer je Blütenblätter zwischen den Händen zerrieben hat oder ein Kind dabei beobachtet, wie es wahlweise auf Blumen herumtrampelt oder einen grossen Bogen um ein Blütenmeer macht, um es vor der Zerstörung zu bewahren, findet im Umgang mit den verletzlichen Gewächsen alles angelegt, was Menschen ausmacht, seine doppelte Möglichkeit: die Liebe und die Gewalt.
Die politische Ikonografie der Blumen hat immer auch eine religiöse Spur. Wer mit Blumen auf Panzer zielt, wer Blüten-stengel in Gewehrläufe schiebt, will eine Gewaltspirale durchbrechen und hofft auf den Reflex des Kindes, das die Blüten verschont. Das macht die Zerbrechlichkeit der Demonstrantinnen mit dem Blumenschmuck aus. Denn die Geste des Widerstands lässt den Atem anhalten: Werden Blütenkörper, werden Menschenkörper zertreten? Die Blume in der Hand der Frauen in Belarus, die nicht viel wollen, nur das, was ihnen zusteht: Menschenrechte, Versammlungsrechte, Freiheitsrechte, echte Wahlen, eine unabhängige Justiz.
In der Geschichte der Revolutionen hatten immer die Umsturzbewegungen, die friedlich geblieben sind, eine Chance, nicht in den nächsten Terror, sondern in eine demokratische Bewegung mit ihren Institutionen überführt zu werden. Eine Gesellschaft, die sich friedlich erhebt, die streikt und der Angst widersteht, Menschenmassen, die aus Hunderttausenden von unvollendeten Lebensgeschichten bestehen. Was in denen vorgeht, die heute durch Minsk und andere Städte gehen, die ihre Kinder zum Abschied küssen und dann auf einen der grossen Plätze ziehen – ich weiss es nicht. Aber was vor aller Augen geschieht, ist kein Film, es ist Geschichte als Gegenwart.
Manchmal versuche ich mir eines der Gesichter zu merken, die durch Kameras herangezoomt werden. Stelle mir vor, dass diese Frau, dieser Mann gerne Musik mag, ein Buch liest, mit andern lacht, der alten Mutter über den Kopf streicht, Anmut und Würde. Menschen wie Blumen – das ist biblische Gravitas. So schön, so leicht zu zerstören, so vergänglich, so einzigartig, die Körper, aber vor allem der Geist, der Geist der Hoffnung auf eine Lebensform, die ich selbstverständlich finde und die doch von Vorfahren erstritten wurde, bisweilen bis aufs Blut.
In Deutschland erinnern sich die Menschen dankbar an die friedliche Revolution. Doch wer mit Zeugen und Zeuginnen spricht, die vor dreissig Jahren auf die Strassen gegangen sind, wer für ein paar Minuten das längst Gutgegangene als offenen Prozess vergegenwärtigt, der kann hören, was es bedeutet, wenn Kinder, Eltern, Ehepartnerinnen sich verabschieden, um an einer Demonstration gegen den Staat und seine Willkür teilzunehmen. «Wird heute geschossen? Werden wir uns wiedersehen?»
Anmut und Würde
Der Zustand der Unsicherheit und Angst vor einer unberechenbaren Staatsmacht wird nur noch selten erinnert. Aber Revolutionen können anders ausgehen. Das Bild eines leeren Platzes, auf dem ein paar verwelkte, zertretene Blumen liegen, kann desillusionierender wirken als Folterprotokolle. Auch das zeigen vergangene Demokratiebewegungen. Es gibt eine zynische Lesart der Blumenmetapher, eine, die die Vergänglichkeit der Hoffnung auf ein besseres Leben achselzuckend zur Kenntnis nimmt, weil es die Hoffnung eines anderen Volkes, anderer Menschen ist. Es gibt diesen Zynismus auch mit religiösem Schutzumschlag. Da ist die Hoffnung auf das Jenseits das Argument für das Sichdreinfinden in eine weltliche Ordnung, so menschenverachtend sie auch sein mag.
Politische Theologien haben sich lange genug gegen jede Form des Umsturzes gewandt, als sei sie in jedem Falle eine angemasste Hoffnung. Oft genug haben Revolutionäre ja auch ein Gottesreich verkündet und die Hölle auf Erden verbreitet. Doch wenn Menschen für Freiheit und Gerechtigkeit aufstehen, wenn sie einem unberechenbaren Sicherheitsapparat mit Blumen in der Hand begegnen, setzen sie auf ein Versprechen, das im uralten Gleichnis vom Menschen als Blume verborgen ist: auf Anmut und Würde. Deshalb reicht es nicht, gebannt auf Bildschirme zu schauen, als liefe die siebte Episode eines Revolutionsdramas. Diese Bewegung braucht die Unterstützung des Westens mit seinen Vorstellungen vom Menschen, die auch durch das biblische Bild vom Menschen als Blume geprägt sind: das Gebet um einen friedlichen Ausgang und die politischen Mittel, die nötig sind.
Die Publizistin Petra Bahr ist Regionalbischöfin im Sprengel Hannover der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrats.