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Freitag, 12. Juni 2020

Herr Biermann, Corona schickte uns alle in den Hausarrest. Wie erlebten Sie diese Zeit?

Andreas, ich muss nicht Herr Öhler zu dir sagen. Das wäre Fake, wir sind ja lange befreundet. Wie ich diese tote Zeit erlebte? Sehr lebendig. Ich bin seit meiner Kindheit gut trainiert, Katastrophen zu überstehen. Mein Leben begann in der Nazikatastrophe, als Hitler den Zenit seines Tausendjährigen Reiches erreicht hatte, 1936. Mein kommunistischer Vater wurde verhaftet, meine jüdische Familie deportiert und ermordet. Dann überlebte ich den Bombenangriff 1943 auf Hamburg, in dem 40 000 Leute starben. Der Tod ist mir zum Vertrauten geworden.

Wenn nun Konzertauftritte noch lange nicht möglich sein werden, könnte es sein, dass du aufgrund deines Alters nicht mehr vor einem grösseren Publikum auftreten kannst. Du bist ein Bühnenmensch, schreckt dich das nicht?

Über mich wurde seit 1965 ein Auftritts- und Publikationsverbot in der DDR verhängt. Das hatte zur Folge, dass ich zwölf Jahre, bis zu meiner Ausbürgerung, im Zimmer gesungen habe, in meiner Wohnung in der Chausseestrasse 131 in Berlin. Ich bin also darin geübt.

Wegen Corona mussten Menschen im Krankenhaus alleine sterben, Besuch war nicht erlaubt. Ist das richtig oder falsch, und hättest du Angst, auf so eine Art dein Leben zu beenden?

Eine Frage, auf die es manche flotte Antwort gibt und auf die es zugleich keine geben kann. Für den liebenden Verwandten, für den Freund ist der Abschied vermutlich noch quälender als für den Sterbenden selbst. Und Trost brauchen beide, ein Streicheln, ein letztes Wort, ein inniges Schweigen, ein vertrauter Blick, ein Kuss auf die Stirn. Mir gefällt das Gemüt der Elefanten, die sich zum Sterben in die Wildnis verkriechen. Aber das ist auch nur ein Spruch, der im Menschenzoo nicht gelten kann. Ich denke, wer lebendig leben konnte, der schafft es auch, besser zu sterben.

Kennst du an dir Todesangst oder Todessehnsucht?

Die Todessehnsucht ist alt wie die Menschheit und nichts anderes als die spiegelbildlich verkehrte Sehnsucht nach einem lebendigeren Leben. Der genialste Schlagerdichter, Robert Gilbert, schrieb in seinem Stempellied: «Nur nich drängeln zu die Engeln!» Was ich darüber denke und fühle, steht schön kompakt formuliert in einem Lied, das ich für meinen Freund, den Historiker des jüdischen Widerstandes, Arno Lustiger, geschrieben habe. Er hatte vier Jahre Nazilager und die Todesmärsche überlebt. In der letzten Strophe des Liedes singe ich: «Ich war verzweifelt von Anfang an / Und immer hab ich neu gehofft / So kann man leben, bald kommt der Tod / Ich kenn Freund Hein, ich traf ihn oft / Er bleibt mein Feind, dem ich auch nicht / zum Schluss gereimte Rosen streu / Mit letzter Puste krächze ich: / Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.»

In einem anderen Lied schriebst du: «Mit sechs Jahren blieb meine Lebensuhr stehen.» Was bedeutet das?

Ich war sechseinhalb Jahre alt, als ich mit meiner Mutter durch das Inferno der Hamburger Bombennacht 1943 rannte. Das berühmte Foto aus Hiroshima, von der Uhr, deren Zeiger im Moment der Explosion festschmolzen, sehe ich als Metapher für mein Leben.

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